Märchenstunde

Im Märchen sind die Guten gut und die Bösen böse, beim Sommermärchen ist es leider komplizierter. Axel Hacke wagt einen Orientierungsversuch.

Mit den Märchen ist es so: Gut und Böse sind klar getrennt (Rotkäppchen gut, Wolf nicht gut). Es handelt sich immer um eine einfache Geschichte, die jeder verstehen kann. (Rotkäppchen fällt auf Trick von Wolf rein und wird gefressen.) Auch passieren im Märchen Dinge, die in Wirklichkeit nie passieren würden. (Rotkäppchen geht allein ohne Handy im Wald spazieren, Wolf spricht wie ein Mensch.) Meistens siegt am Ende das Gute, und das Böse wird schwer bestraft (Jäger rettet Rotkäppchen, Wolf tot).

War es nicht übrigens mit der Wiedervereinigung ganz ähnlich? Gut und Böse klar geschieden (Bundesrepublik gut, DDR böse). Eine einfache, klar verständliche Geschichte (Deutschland war ein böses Land und wird zur Strafe geteilt). Unwahrscheinliche Dinge geschehen. (DDR besiegt 1974 Bundesrepublik im Fußball 1:0, Mauer fällt nach wirrem Gestammel eines Funktionärs.) Es siegt am Ende das Gute, und das Böse wird schwer bestraft. (Sahra Wagenknecht heiratet Oskar Lafontaine.)

Die Sache ist nun jedoch folgende: Jedes Märchen ist irgendwann zu Ende, die Wiedervereinigung geht aber weiter. Denn eine Geschichte, die wir erzählen, hat einen Schluss. Die Geschichte, die wir erleben, ist aber nie zu Ende. Man denkt daran, wie wir tränen-verschleierten Blickes die Menschen sahen, die am Ende der DDR »Wir sind das Volk!« riefen und ihre Freiheit feierten, und sieht nun Leute, die auch »Wir sind das Volk!« rufen – und möchte wieder heulen, diesmal aus anderen Gründen.

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Ist die Wiedervereinigung deshalb schlecht? Natürlich nicht. Bloß ist das Leben tatsächlich manchmal einfach wie ein Märchen, aber wenn es weitergeht, wird es wieder kompliziert. Wer will, kann in manchen Pegida-Gesichtern nun einerseits blanken Hass sehen, andererseits aber auch die nackte Angst von Leuten, die nur nicht sagen können, dass sie Angst haben, und bloß deshalb hassen, weil Hass einfach ist und Angst kompliziert. Sind die Katzen-Krimis von Akif Pirinçci schlecht, weil ihr Autor verrückt geworden ist? Ich bitte Sie, in der Verfilmung von Felidae liehen Mario Adorf, Klaus Maria Brandauer und Helge Schneider den Katzen ihre Stimmen, so schlecht wird es nicht gewesen sein! Andererseits bleibt nun mal, bei allem Verständnis und aller Behandlungsbedürftigkeit, das Böse böse und das Gute gut, das ist im Märchen wie im Leben.

Übrigens ist es auch mit dem Sommer manchmal wie mit dem Märchen: Gut und Böse lassen sich leicht unterscheiden (Sonne gut, Regen schlecht). Auch geht es um eine einfache Geschichte. (Der Frühling kann nicht direkt in den Herbst übergehen, daher muss es einen Sommer geben.) Unwahrscheinliche Dinge geschehen. (Es regnet einen ganzen Sommer lang nicht.) Und es siegt am Ende das Gute, das Böse … Nun, im großen Sommermärchen 2006 wurde Italien Weltmeister, noch dazu mit dem scheußlichen, von Zidanes Glatze gerammten Materazzi in der Abwehr. Aber da war das Märchen eigentlich schon zu Ende, Schweinipoldiland war der von allen geliebte und auch sich selbst sehr liebende Herzensweltmeister, und das Finale der Italiener gegen Frankreich gehörte schon wieder zum Leben. Im Grunde genommen war da bereits Herbst.

Und wenn es nun so ist, dass das Märchen nur Wirklichkeit wurde, weil dieser und jener mit schwarzen Kassen ein wenig nachhalf? Dazu ist erst einmal zu sagen, dass dieses Märchen nie Wirklichkeit war, denn jeder, der es wissen wollte, wusste auch schon vor 15 Jahren, dass es im Weltfußballverband diesen und jenen gab, der nicht gern mit leeren Taschen von einem Kongress nach Hause fuhr. Nur wollten wir es damals nicht so genau wissen. Heute aber kommen wir nicht umhin, es zu wissen. So haben wir durch ein Märchen wieder fürs Leben gelernt: dass genaues Hinschauen immer eine Frage des Zeitpunkts ist, nicht wahr? Das ist schön, dass man lernt.

Und wenn wir nicht bestochen sind, dann lernen wir vielleicht auch morgen.

Illustration: Dirk Schmidt