Ich bin in Italien. Vor unserem Haus mitten im Dorf saß vor einigen Tagen noch Riccardo, mein Nachbar, und las den Corriere della Sera. Das ist ein Bild, das selten geworden ist hier: ein Mann, der eine Papierzeitung entfaltet und liest. Riccardo, der ein kultivierter Mann ist, früher Archäologieprofessor an der Universität in Neapel, schimpfte vor sich hin: Es drehe ihm den Magen um, wenn er bedenke, dass nach den Wahlen am Sonntag Mario Draghi, der Ministerpräsident, angesehen in der ganzen Welt, womöglich von einer Neofaschistin abgelöst werde, Giorgia Meloni. Dass Salvini wieder Minister werde, der noch schlimmer sei als Meloni, ein Dummkopf ohne Benehmen, Opportunist, Verehrer Putins. Und dann noch Berluschconi, wie er in der Sprachfärbung des Süditalieners sagt … Er werde auswandern, wenn es so komme. Aber wohin? Nein, wird er nicht tun. Er ist Italiener durch und durch und außerdem fast achtzig. Übrigens hat es das in seiner Lebenszeit noch nie gegeben: Wahlen im September. In Italien wurde immer in der ersten Jahreshälfte gewählt, seit hundert Jahren. 1919 war es anders, damals wählte man im November. Und dass Faschisten Italien regierten, ist auch eine Weile her. Man hätte es nicht mehr für möglich gehalten.
Der Rhythmus der Geschichte
Ein heißer, anstrengender Sommer geht zu Ende – mit Wahlen in Italien, bei denen ein Sieg der Neofaschisten droht. Ausgerechnet der Gedanke an die Oma eines Freundes hilft unserem Kolumnisten, diese Entwicklung einzuordnen.