Als ich ein Kind war, bestand unsere Verbindung zur weiten Welt in der Tageszeitung und in einem Radioapparat mit grün leuchtendem Auge, das anzeigte, wie genau man den jeweils gerade empfangenen Sender eingestellt hatte. (Einen Fernseher hatten wir nicht.) Dieses Radio-Auge war so unheimlich wie selbstverständlich: Du hattest das Gefühl, aus dem Gerät heraus blicke dich ein einäugiges Wesen an. Seltsamerweise glaubte ich in jenen Jahren auch, die aus dem Radio heraus erklingende Musik werde in genau diesem Moment im Apparat selbst von einem winzigen Orchester gespielt. Später erklärte man mir, so kleine Musiker gebe es nicht. Von da an dachte ich, sobald man sein Radio einschalte, erhalte das Orchester im Rundfunksender den Befehl zu spielen; betätigte man den Abschaltknopf, stelle es den Betrieb ein. (Von Schallplatten wusste ich nichts, einen Plattenspieler hatten wir ja auch nicht.)
Nun lese ich bei Associated Press eine Geschichte, die sich in der texanischen Hafenstadt Corpus Christi ereignete, im Juli, also bevor Hurrikan Harvey den Ort verwüstete. Dort betrat ein Techniker den Raum hinter einem Geldautomaten, um eine Reparatur vorzunehmen. Die Tür zu diesem Raum fiel ins Schloss; aus irgendeinem Grund ließ sie sich nicht mehr öffnen; sein Mobiltelefon hatte unser Mann im Auto vergessen.
Er war gefangen. In einem Geldautomaten. Wenn ich mir aussuchen könnte, in welcher Art von Automat ich gefangen sein möchte: Ein Geldautomat wäre es nicht. Man ist zwar von Geld umgeben, doch es auszugeben ist unmöglich. Ein Getränkeautomat wäre mir lieber, möglichst mit Alkohol. Wasserspender sind langweilig.
Alles ist besser als ein Fahrstuhl, glaube ich. Jedenfalls begann der Techniker wohl zu rufen. Man hörte ihn zunächst nicht. Schließlich schob er durch den Quittungsschlitz kleine handgeschriebene Zettel mit Botschaften hinaus: »Bitte helfen Sie mir, ich bin hier drinnen gefangen, bitte rufen Sie meinen Chef an.« (Es folgte eine Telefonnummer.)
Was dächte ich, wenn mich ein solcher Kassiber aus einem Bankomaten heraus erreichte: Ein Mensch ist dort drinnen? Für ähnliche Gedanken wurde ich einst von den Erwachsenen verlacht, fantasievollen Nachwuchs schätzte man damals nicht sehr. (Ob manche Kinder heute noch glauben, in der Geldmaschine sitze eine Person und gebe das Geld auf Anforderung heraus? Ob sie heimlich in den Quittungsschlitz schauen? In ein grünes Auge starren?) Also wäre mein Gedanke wohl, das Geld da drinnen spräche zu mir, es verlange nach Befreiung. Bargeld lacht, Bargeld ruft? Schreibt Zettel? Bargeld will zu mir – aber was soll ich tun? Meine Kontokarte hat ein Limit. Man ist so hilflos, wenn die großen Scheine mit einem reden. In vielen Ländern wird nun das Bargeld abgeschafft. Schweden ist schon sehr weit, Indien und China auch. Man zahlt per Smartphone. Im kommenden Jahr werden bei uns schon mal die 500-Euro-Scheine verschwinden, mancher von uns hat eh nie einen gesehen. Italien produziert ab Januar keine Ein- und Zwei-Cent-Münzen mehr, Finnland und die Niederlande tun das seit Langem nicht. Was ich schade finde, Ein-Cent-Stücke brachten mir Glück, wenn ich welche auf der Straße fand.
Der Mann im Automaten wurde von der Polizei befreit, jemand hatte ihn gehört. Der Officer, der ihn herausgeholt hatte, erzählte vor einer Kamera glückstrahlend, so etwas erlebe man nur einmal im Leben: ein Mann, gefangen in einem Geldautomaten … Der Mann selbst wurde nicht interviewt. Ein Erlebnis wird es auch für ihn gewesen sein. Wird alles nicht mehr vorkommen, wenn es kein Bargeld mehr gibt. Aber Radios mit grünen Augen gibt es ja auch nicht mehr.
Illustration: Dirk Schmidt