Jetzt will er Schrippen!

Hilfe, mein Sohn berlinert: Unser Autor fragt sich, ob es eine gute Idee war, mit der Familie von München nach Prenzlauer Berg zu ziehen.


Das erste Mal erschrak ich, als Jakob in unserer Küche auf die kleine Plastikdose zeigte, in der wir ihm seinen Nachmittagsimbiss für den Kindergarten mitgeben. Es war früher Abend, er bekam wohl gerade Hunger, und plötzlich fragte er mich: »Papa, ist in meiner Brotbüchse noch was drinne?« Hatte ich richtig gehört? »Brotbüchse«? »Drinne«? Ja, es war nicht zu leugnen: Mein zweijähriger Sohn berlinert. Wobei er nicht das schnoddrige, schnelle Westberlinerisch spricht, ständig »icke« und »wa« sagt, sondern den Ostberliner Dialekt, der bedächtiger ist, mit einem ganz eigenen Vokabular.

Kurz vor Jakobs Geburt sind wir von München nach Berlin umgezogen. Seit seinem ersten Geburtstag geht er von morgens bis nachmittags in eine Kindertagesstätte, in eine »Kita«, wie wir, eisernen Vorsätzen zum Trotz, mittlerweile auch sagen. Es ist einer dieser Ost-berliner Groß-Kindergärten, ein Flachbau inmitten einer Hochhaussiedlung, mit Riesenspielplatz und zwei netten älteren Kindergärtnerinnen namens Edith und Gerlinde, die sich beim ersten Vorbereitungstreffen mit den Worten vorstellten: »Also, wir sind seit 1973 und 1979 in der Einrichtung.« Jakob ist sieben Stunden täglich in der Einrichtung, und seitdem er anfängt zu sprechen, schlägt sich die allgemeine Redeweise dort deutlich auf sein Vokabular nieder. Wenn wir nach dem Kindergarten noch auf den Spielplatz gehen, fragt er mich, ob wir auch die »große Schippe« dabeihaben (gesprochen mit »ü« in der Mitte). Wenn er wagemutig die Rutsche hochklettert, ruft er mir voller Stolz zu: »Papa, kuck ma, was ich kanne!« Die Befehlsform bildet er grundsätzlich mit einem e am Ende: »Gehe da mal weg, Mama!«, »Bleibe doch bitte noch da!« Und nicht zu vergessen natürlich die für ein Kleinkind so bedeutsame Welt der Körperteile: Noch bevor wir die berüchtigte Elternfrage entschieden, welche Namen wir bestimmten Dingen geben sollen, kam Jakob mir eines Nachmittags im Kindergarten mit seinem besten Kumpel entgegen und rief: »Papa, hat Leo auch einen Pullermann?« Die Erzieherinnen hatten uns also auch dieses Problem abgenommen. Jetzt sagt Jakob jedes Mal, wenn er es nicht mehr rechtzeitig zur Toilette geschafft hat, zerknirscht: »Ich glaub, ich hab eingepullert.«

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Es ist ein verstörendes Gefühl, wenn aus dem Mund des eigenen Kindes plötzlich eine Fülle von Wörtern herauskommt, die man selbst niemals benutzen würde. Wie oft habe ich im ersten Jahr, als Jakob nur schrie oder gluckste und irgendwann ein paar kaum verständliche Laute von sich gab, den Moment herbeigesehnt, in dem er zu einer richtigen Unterhaltung imstande wäre. Ich glaubte, dass die gemeinsame Sprache die Verbundenheit zwischen Vater und Sohn noch um Vieles stärken würde. Jetzt ist es so, dass ich Jakob etwa auf dem Weg zum Kindergarten von seinem »Beutel« reden höre, in dem er sein Polizeiauto verstauen will, und von der »Schrippe« oder der »Butterstulle«, die er am Nachmittag essen wird. In diesen Augenblicken ist er mir fast ein wenig fremd. Neulich kamen in mir sogar kurz Zweifel hoch, ob er überhaupt mein eigenes Kind ist, so wie ein Vater, dem auffällt, dass sein Sohn nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihm hat. Gibt es so etwas wie einen linguistischen Vaterschaftstest?

Als es vor ein paar Monaten losging mit dem Berlinern, habe ich mir anfangs noch vorgenommen, Jakob unbarmherzig zu korrigieren, seinen Wunsch nach einem besonderen »Schlüpfer« Morgen für Morgen mit dem Satz zu beantworten: »Ja klar, Jakob, die Unterhose kannst du schon haben.« Aber das bringt natürlich auch nichts. Nein, es gibt für uns Eltern keine andere Möglichkeit, als die Zähne zusammenzubeißen und ihn einfach reden zu lassen. Wahrscheinlich ist es ja ohnehin so, dass uns gar nicht das Berlinerische selbst irritiert. Sondern die Tatsache, dass sich ein kleines Kind durch fremde, nicht von den Eltern stammende Vokabeln zum ersten Mal als selbstständiger Mensch erweist, mit einer eigenen Lebensgeschichte und eigenen Milieus.

Nichtsdestotrotz muss ich in Zukunft Grenzen setzen. Aus dem Schippen- und Schlüpfer-Alter wächst Jakob irgendwann raus; danach muss es langsam aufhören mit dem Berlinern. Deshalb achte ich zum Beispiel darauf, dass er die Metzgerei in unserer Gegend auch so nennt und nicht etwa »Fleischer« sagt. Und eines habe ich mir fest vorgenommen: Wenn ich aus seinem Mund zum ersten Mal das Wort »Kiez« höre, ziehen wir weg aus Berlin. Sofort.

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