In einem voll besetzten Klassenzimmer sitzen etwa 30 Kinder. Es gibt die, die schwer stillhalten können, und die, die gern aus dem Fenster schauen. Es gibt die, die ständig vom Zocken erzählen oder von Taylor Swift, die Fleißigen und die Träumer. Und durchschnittlich ein bis zwei gibt es pro Schulklasse, die sexuell missbraucht wurden. Das besagen die Zahlen der unabhängigen Expertenkommission der Bundesregierung für sexuellen Missbrauch an Kindern aus dem Jahr 2022. Seither sind die Fallzahlen noch mal gestiegen.
Meistens geschieht sexueller Missbrauch innerhalb der Familie. Viele finden keinen Weg, darüber zu reden. Ein Bruder, eine Schwester und deren Vater aber tun es hier. Es geht um den Missbrauch der Schwester durch ihren Bruder, als sie ein Kind war und er ein Jugendlicher. Und den mutmaßlichen Missbrauch am Bruder durch eine Tante, als dieser noch ein Kleinkind war; ein Vorwurf, den die Tante bestreitet. Zwei Tage lang sprachen die Geschwister im Beisein des SZ-Magazins miteinander, einen Tag lang erzählte ihr Vater. Mit allen dreien gab es weitere Einzelgespräche.
Der Bruder hat die Tante nie angezeigt, es gilt die Unschuldsvermutung. Deshalb sind alle anonymisiert – auch, um den Gesprächspartnern zu ermöglichen, ohne Stigma zu leben.
Das Familiengeheimnis
Ein Jugendlicher missbraucht seine Schwester. Jahre später sagt er, als Kind sei er selbst missbraucht worden: von seiner Tante. Wie geht die Familie damit heute um? Die Geschwister und ihr Vater haben versucht, das Leid in Worte zu fassen.

Wie spricht man über Dinge, die einen lange sprachlos machten? Die Familie sei ein Missbrauchssystem, sagt der Bruder.
Illustration: Janne Marie Dauer