Meine beiden Omas sahen aus, wie Omas eben aussahen: Sie trugen gemusterte Kleider mit dünnen Lackgürteln oder Kostüme in gedeckten Farben, eine steife Tasche mit Henkel am Arm und manchmal einen Hut. Sie klippten sich Broschen mit Edelsteinen ans Revers und legten Perlenketten oder Goldschmuck an, der manchmal leicht schwarz angelaufen war. Sie rochen nach Kuchen, Nivea-Creme, 4711 oder »Calèche«-Parfum und manchmal ein bisschen nach »Kukident 2-Phasen«. Ihr Lippenstift schimmerte perlmuttfarben. Sie hatten gebügelte Taschentücher dabei, mit denen sie uns Enkeln den Schmutz aus dem Gesicht rubbelten. Tagsüber schnürten sie bequeme halbhohe Laufschuhe mit Gummisohlen, abends schlüpften sie in Lackschuhe, solche mit ganz breitem Absatz. Die eine Oma hörte Oper, die andere Schlager. Beide legten ihre Haare in Wellen. Die Stilvorlagen für ihre Kleidung, für ihr gesamtes Äußeres, mussten wohl in den Vierzigerjahren entstanden sein – meine beiden Omas haben später nicht mehr viel von dem mitgemacht, was die Mode hergab. Sie haben in ihrem Leben nicht ein einziges Mal eine Hose getragen, geschweige denn eine Jeans.
Wir Kinder waren fasziniert von der Pergamenthaut, die in ihren Gesichtern knitterte. Und von den Adern, die unter der dünnen Haut an den Händen wie Regenwürmer hervorknubbelten. Wir spielten »Blutstau«, indem wir auf die Adern drückten und warteten, bis sich der Regenwurm unter der Haut verzogen hatte – und staunten, wie schnell er wieder da war, sobald man die Ader losließ.
Beide Omas erzählten Geschichten vom Krieg (die eine Oma sagte »Kriesch« dazu). Die schweren Zeiten konnte man von ihren Gesichtern ablesen. Wenn ich heute in einem Zug sitze, denke ich immer an eine der beiden Omas, weil sie oft von Bombenangriffen britischer Flugzeuge auf Zugstrecken in ihrer Nähe erzählte. Beide Omas machten ihr Oma-Ding gut: lasen Märchen vor, schmierten Butterbrote, steckten uns Zwei-Mark-Stücke zu.
Neulich saß ich in einem Restaurant und beobachtete eine ältere Frau mit zwei Kindern. Sie war blond, trug Jeans, eine kurze Jacke, sie war schlank und sportlich, eine Golfspielerin vielleicht. Aber wie alt war sie? Ende 60? Mitte 70? Oder saß hier eine 50-jährige späte Mutter mit ihren Kindern?
Doch es war eine Oma mit ihren Enkeln, denn es kam eine andere Blondine an den Tisch, eine etwas jüngere Version der ersten, augenscheinlich die Tochter der Frau. Mein erster Gedanke: So sieht eine Oma also heute aus! Der zweite: Müssen wir uns von Omas, die so aussehen wie meine, etwa für immer verabschieden?
Das Bild der alten Frau wandelt sich. Keine Oma will heute mehr aussehen wie meine Omas. Die Oma von heute lässt sich die Schlupflider entfernen und die Haare verdichten, sie spritzt Botox und polstert die Nasolabialfalte mit Hyaluronsäure auf, sie färbt die Haare, sie macht Fitness-Training (meine Omas kannten höchstens das Wort »turnen«), sie benutzt glättende Kosmetik, sie ernährt sich gut. Eine Oma hat heute ihre Zähne bis ins hohe Alter. Laut einer Forsa-Umfrage hätten 40 Prozent der deutschen Über-60-Jährigen auch nichts gegen eine Schönheitsoperation einzuwenden. All diese Dinge gab es im letzten Jahrhundert nicht, heute prägen sie das Aussehen der neuen Oma. Im schlimmsten Fall sieht das dann aus wie bei der fast 80-jährigen Liz Taylor.
Bislang galten für eine Oma keine Vorschriften für Schönheit und Jugendwahn, sie konkurrierte nicht mit ihrer Tochter. Eine Oma war neutral, unsichtbar im Mann-Frau-Business. Jetzt möchte sie solang wie möglich daran teilhaben. Das ist nur gerecht, weil Männer schon immer eine längere Halbwertszeit besaßen als Frauen. Jetzt können auch Frauen noch mit 70 einen neuen Partner im Internet finden.
Wird es also Omas wie meine oder solche, die man auf den vorigen Seiten sieht, bald nur noch in unseren Erinnerungen geben? Stehen wir bald einer Armee von blendend aussehenden Mittsiebzigerinnen gegenüber, mit strahlendem Teint und durchtrainierten Oberarmen? Und was wird aus der »alten Weisen«, die im Märchen immer alles über das Leben wusste, die mit ihrem Rat Unglückliche sicher aus dem Urwald des Unwissens schleuste?
Der Psychoanalytiker C. G. Jung ging sogar davon aus, dass jeder Mensch mehr oder weniger bewusst Sehnsucht danach hat, einer alten Weisen zu begegnen. Er sagte, das Bild der alten Weisen lebe in unserer Seele, seit Urzeiten der Menschheit. Deswegen tauche dieser »Archetyp« auch in unzähligen Erzählungen und Kunstwerken aller Epochen und Kulturen der Menschheit auf. Eine Helfergestalt sei diese weise alte Frau, aber auch ein Leitbild für das Alter.
Was wird aus dieser alten Weisen, wenn gar niemand mehr alt und weise aussehen will?
Altern bedeutet, Jugend und Schönheit ziehen lassen zu müssen – aber auch, sich vom ewigen Kampf um das Aussehen lösen zu können. Menschen, die das Altern zulassen, strahlen Gelassenheit aus, das ist die größte Tugend des Alters, um die beneidet es die Jugend. Die Falten einer Oma versprachen wie eine Landkarte des Lebens auch immer Orientierung und Überblick, Durchblick, Sinn. Wenn sich moderne Omas zu sehr an die Jugend klammern, verlieren sie gleichzeitig Wärme und Fürsorge, Wissen und Erfahrung, die ihr Aussehen mit sich brachte. Damit geht ein Weiblichkeitsmodell verloren, das fast alle Menschen seit Kindertagen begleitete – und nicht nur im Märchen eine wichtige Rolle spielte, sondern auch im wahren Leben.
Fotos: Gregor Hohenberg