Vermutlich ist die Angst ums Kind in den genetischen Code von Eltern eingetackert, eine anthropologische Konstante, die nur nach Lebensumständen variiert, im Grunde aber stets die gleiche Beschützer-Panik auslöst. Das Kind könnte vom Baum fallen, von einem Trecker überfahren werden oder von einem SUV; es könnte dem Feuerwasser verfallen, dem Bier oder Alco-Pops und überhaupt, immer und überall, auf die schiefe Bahn und unter die Räder geraten.
Bei mir reicht eine dreistündige Daddel-Session vor der Playsi oder am Smartphone und schon sehe ich, vor meinem inneren Auge, wie sich die Gehirnmasse meines Großen gasartig durch die auf den Bildschirm stierenden Augen verflüchtigt. Und ihn als leere Hülle, lallendes Wrack, zurücklässt. Beim Kleinen heftet sich die anthropologische Angst ums Kind an den Straßenverkehr, beim Großen an Suchtmittel aller Art. Das kommt daher, dass der Große einen obsessiven Zug in seinem Charakter hat, man kann ihn auch leidenschaftlich nennen, oder hartnäckig. Jedenfalls dachte ich schon, als ich ihn noch stillte, boah, der darf mal nicht an Drogen geraten.
Im Sommer war es so weit. Er war 13. Pokemon Go kam raus. Er hatte Ferien, ich zu viel zu tun. Und dachte: Jetzt lässt du ihn mal machen, let it go, und guckst, ob er als dein Sohn zurückkehrt oder als Fluffeluff. Stell dich deiner Angst!
Vier, fünf Tage bekam ich ihn kaum zu Gesicht. Wenn, dann nur, um Essen zu fassen und nach der Entfernung zu Stadtteilen zu fragen, deren Existenz ihn zuvor nicht tangiert hatte. Mauerstreifen, Treptower Park, Kottbusser Tor. Ich fand das gut. Mal was anderes. Draußen, an der frischen Luft die Welt kennenlernen. Er packte seinen Rucksack und sein Longboard und legte 76,4 Kilometer in seiner Stadt zurück und 17 Level im Spiel. Am siebten Tag fuhren wir ins Ausland, ohne Flat, und ich vergaß die Sache mit den kleinen Monstern, die meine Jungs »feierten« und »suchteten«.
Kürzlich fragte eine Freundin, die um meine Urängste weiß: Was ist eigentlich aus Pokémon Go geworden? Mich durchzuckte ein panischer Schub: Er macht es heimlich! Und ich habe nicht aufgepasst! Ich hatte nie wieder davon gehört und höchstens noch ein, zwei Ansammlungen von Erwachsenen gesehen, die an Orten auf ihre Bildschirme starrten, welche im realen Leben keinen Anlass für Menschenaansammlungen boten, beispielsweise auf dem Bürgersteig 30 Meter HINTER einer Bushaltestelle, neben einem Bauzaun mit Blick auf eine Brache.
Doch mein Großer sah immer noch aus wie mein Sohn und nicht wie das mit giftigem Gas gefüllte Smogon. »Sag mal«, fragte ich ihn, »suchtest du immer noch Pokémon Go oder feierst du nur?« Er lachte, er weiß, wenn ich einen auf Jugendslang mache, kann es nicht tierisch ernst sein. Doch dann sagte er total ernst und ohne jede Umschweife: »Ich hatte gar keine Freizeit mehr! Ich bin auch nicht mehr zum Training gegangen!! Das macht süchtig!!!« Dann habe er einen Freund getroffen: »Der hatte einen Hack, den habe ich mir auch geladen und dann hat es gar keinen Spaß mehr gemacht, weil ich dann alles von zuhause aus machen konnte und nicht mal mehr raus musste.«
Ich hielt die Luft an.
Pokémon Go sei jetzt, sagte er weiter, als übermittele er mir eine journalistisch relevante Information, auf Platz 84 bei den App-Downloads. »Also auch für den Rest der Welt ziemlich uninteressant.« Aber auf Platz 3 bei den Kauf-Apps, «weil man sich da In-Game-Käufe machen kann«. Den Schluss habe ich auch nicht ganz verstanden, es war mir aber total egal.
Denn mit einem Mal war es, als verflüchtige sich meine im Genom angetackerte Eltern-Angst, und zwar gasförmig durch die Augen. Meine Jungs starrten mich beide an, als wäre ich nur noch eine lallende Hülle. So perplex war ich. Über die Erkenntnis, dass mein Sohn doch keine Hypno wird. Sondern ein intelligentes, unabhängig denkendes Wesen, das zu klugen Entscheidungen über ein für ihn gesundheitlich nicht förderliches Verhalten fähig ist. Eltern, habt keine Angst! Mit 13 wird man richtig schlau.
Gerade ist das Update von Pokémon Go rausgekommen. Ist mir völlig schnuppe.
Foto: DPA