Susanne Bier fragt, ob sie die dunkle Sonnenbrille während des Gesprächs aufbehalten darf (»wegen meiner lichtempfindlichen Pupillen«), sitzt steif und mit verschränkten Armen in ihrem schwarzen Lederblazer am Tisch im Sushi-Restaurant in Santa Monica, und seufzt, sie müsse erst einmal was essen. Sie bestellt vier Gerichte und dann tauscht sie die Rollen. Sie, die Filmemacherin, befragt ausführlich die Interviewerin: »Haben Sie Familie hier? Was denken Sie politisch?« Da taut sie auf und spricht plötzlich sehr persönlich und ehrlich über ihre Ängste, ihre Familie und ihre Arbeit. Nach einer halben Stunde legt sie sogar die Sonnenbrille und das Jackett ab.
SZ-Magazin: Frau Bier, Kathryn Bigelow und Sie sind die wohl bekanntesten Filmregisseurinnen der Welt. Warum gibt es so wenige Interviews mit Ihnen?
Susanne Bier: Anders als viele meiner männlichen Kollegen macht es mir keinen Spaß, über mich zu sprechen. Außerdem bin ich schüchtern. Mir reicht die kleine Gruppe von Vertrauten, die um mich sind. Über rote Teppiche zu laufen musste ich erst lernen.
Immerhin haben Sie 2011 vor einem Millionenpublikum einen Oscar für Ihren Film In einer besseren Welt entgegengenommen, überreicht von Helen Mirren und Russell Brand. In so einem Augenblick unfassbar nervös zu sein, ist eigentlich ganz normal, oder?
Ja, aber bei mir haben solche Situationen sehr lang regelrecht Panik ausgelöst. Inzwischen ist es etwas besser geworden. Aber es ist eine Erfahrung wie eine Gipfelbesteigung. Etwas, was man nie im Leben vergisst. Schließlich sitzt bei der Oscar-Verleihung ja so gut wie jeder Schauspieler und Regisseur, den man bewundert: Martin Scorsese, Steven Spielberg.
Und Sie haben vor dem Oscar auch den Golden Globe gewonnen für den Film In einer besseren Welt. In Ihrem nächsten Film Serena, der 2013 in die Kinos kommt, spielen sogar Jennifer Lawrence und Bradley Cooper die Hauptrollen. Wollen Sie Hollywood erobern?
Das amerikanische Kino habe ich schon immer gemocht. Deshalb gelte ich in Dänemark als zu kommerziell, obwohl ich gute Kritiken bekomme. In Hollywood dagegen hält man mich für eine typisch europäische Arthouse-Regisseurin. Ich bin sozusagen in beiden Welten eine Ausgestoßene.
Na ja, Ausgestoßene gewinnen in der Regel nicht so viele internationale Preise wie Sie.
Ja, ich habe für In einer besseren Welt Preise rauf und runter gewonnen, aber in meiner Heimat Dänemark wurde ich nicht zur besten Regisseurin gewählt. Das finde ich schon ein wenig seltsam.
Sie haben neulich von Ihrer Angst gesprochen, für Ihren neuen Film Love Is All You Need gesteinigt zu werden. Warum das denn?
Weil es eine Komödie ist, der jeder Zynismus fehlt. Normalerweise kann man im Film Romantikzulassen, wenn man andererseits auch ein wenig Zynismus einbaut. Eine Komödie dreht sich in der Regel darum zu lieben, obwohl die Welt zynisch ist. Bei mir dagegen geht es um Liebe, weil die Welt schlecht und zynisch ist. Die beiden Hauptdarsteller hat das Leben fertiggemacht und genau deshalb verlieben sie sich ineinander. Das war auch für mich neu und beängstigend, denn meine erfolgreichen Filme sind Dramen. Dabei bin ich eine große Romantikerin, und in dieser Komödie bestehe ich auf einer romantischen Sicht der Welt.
Es klingt schon überraschend, dass Sie diesen Film eine Komödie nennen.
Was soll er denn sonst sein?
Sie erzählen von einer Frau,die gerade eine Chemotherapie durchsteht, und von einem Mann, der seine Frau verloren hat. Ich habe nur wenig gelacht, dafür am Ende geweint.
Sie werden doch hoffentlich wenigstens hin und wieder geschmunzelt haben? Fanden Sie den untreuen Ehemann nicht total komisch? Gut, Sie haben recht: Ursprünglich war der Film nicht als Komödie gedacht. Meine Mutter hatte zweimal Brustkrebs und die Mutter meines Drehbuchautors Krebs, also war das Thema für uns sehr real. Es ist dann dennoch kein Film über Krebs geworden. Krebs ist nur der Hintergrund, vor dem die Liebesgeschichte spielt.
Gefällt der Film Ihrer Mutter?
Meine Mutter mag ihn, gerade weil er so leicht ist. Vor dem Filmstart hat mich der größte dänische Fernsehsender zusammen mit zwei Krebspatienten zu einer Diskussion eingeladen. Mal wieder wäre ich vor Angst beinahe gestorben, aber auch sie mochten den Film. Schon mehr als zehn Prozent der Dänen haben inzwischen den Film gesehen, das ist unglaublich.
In Ihren Filmen gibt es ein großes, immer wiederkehrendes Thema: Wie viel müssen Familien und Beziehungen aushalten? Warum ist das Ihr Thema?
Ich bin ein Familienmensch. Mein Bedürfnis nach Nähe ist geradezu obsessiv. Wenn ich wie jetzt sechs Wochen unterwegs bin, vermisse ich meine Familie so sehr, dass ich jeden Tag mindestens einmal mit meinen Eltern telefoniere. Es ist ein Uhr nachts, ich weiß, dass ich eigentlich schlafen sollte, aber dann halte ich es doch nicht aus und greife zum Telefon.
Und Ihre Kinder?
Meine Tochter ist 17, mein Sohn 23, da halte ich mich besser zurück. Mein Sohn lebt jetzt in London und sagt: Mama, ich muss dir keine SMS mehr schicken, wenn ich nachts nach Hause komme.
»Meine Kinder wären vermutlich schwer geschädigt, wenn ich keine Filme machen könnte«
(Foto: Les Kaner)
In Ihren Filmen stimmt zunächst alles, doch unter der Oberfläche lauert die Katastrophe.
Ich glaube, diese Art Dinge wahrzunehmen hat auch mit meiner jüdischen Herkunft zu tun. Mein Vater war deutscher Jude, der 1933 als Kind nach Dänemark floh, meine Mutter wurde als Jüdin in Dänemark geboren. Als die Nazis begannen, auch dort die Juden zusammenzutreiben, flohen beide auf einem Boot nach Schweden. Als Jüdin habe ich deswegen einen eingebauten Sensor für potenzielle Katastrophen. Und das alles wird noch mal schlimmer, wenn ich mir vorstelle, was meinen Kindern alles zustoßen könnte. Ich habe eine sehr lebhafte Fantasie. Wenn ich sie auslebe, wird es wirklich böse. Da muss ich mich manchmal selbst stoppen.
Oder Sie übertragen diese Fantasie in Ihre Filme.
So ungefähr. Meine Kinder wären vermutlich schwer geschädigt, wenn ich keine Filme machen könnte. Dann müssten sie alles ausbaden.
Begleitet Sie Ihre Familie zu Dreharbeiten? Ihr Mann ist Komponist, er könnte doch sogar mit Ihnen zusammenarbeiten.
Aber er macht keine Filmmusik. Meine Kinder besuchen mich hin und wieder bei Dreharbeiten, aber so toll ist das nicht, ich bin ja schwer beschäftigt.
Die Deutschen sind seit einiger Zeit regelrecht süchtig nach Filmen und Krimis aus Skandinavien. Können Sie sich erklären warum?
Wahrscheinlich denken Deutsche so wie alle anderen auch: nämlich, dass das Leben anderswo prickelnder wäre. In Dänemark zum Beispiel sind wir davon überzeugt, dass wir alle glücklicher wären, könnten wir in einem kleinen italienischen Dorf wohnen. Ich denke nicht so, ich lebe gern in Dänemark.
Und Ihre Filme sind sehr dänisch, jedenfalls was die Einsilbigkeit der Menschen betrifft. In einer Szene Ihres neuen Films druckst die Hauptdarstellerin auf die Frage ihres untreuen Mannes, ob sie ihn zurücknimmt, nur ein einziges Wort heraus. Dabei gäbe es einiges zu sagen.
Sie werden es nicht glauben, meine Figuren reden mehr als in anderen dänischen Filmen. Aber es stimmt, wir sind eine eher wortkarge Nation. Ich selbst bin ja auch nicht sehr gesprächig. Es kommt vor, dass mein Gesprächspartner am Telefon sagt: Hallo? Bist du noch dran?
Wie ist eigentlich Ihr Verhältnis zu Deutschland?
Ich könnte Wetten darauf abschließen, dass jedes Mal, wenn ich in Deutschland bin, jemand auf mich zukommt, meistens jünger als ich, um mir über seine jüdischen Großeltern zu erzählen. Da scheint es immer noch viele Schuldgefühle zu geben. Irgendwann werde ich sicher einen Film über den Holocaust und die Geschichte meiner jüdischen Eltern machen.
Sie haben einen kurzen Ausflug in die Dogma-Familie gemacht. Sind Sie mit Ihrem Kollegen Lars von Trier, dem Gründer von Dogma, befreundet?
Unsere Töchter sind sehr gut befreundet, sie gehen in die gleiche Klasse. Ich habe enormen Respekt vor Lars von Trier als Regisseur. Vor seinen politischen Ansichten und seinen Ansichten über mich schon weniger.
Vor knapp zwei Jahren sagte von Trier in Cannes unter anderem, dass er lange Zeit Jude war und sehr zufrieden damit. Dann habe er Sie getroffen und sei nicht mehr so froh darüber gewesen. Sie haben auf diesen groben Ausfall nie reagiert.
Nein, und ich werde es auch nie tun. Es gibt genügend Konflikte in dieser Welt, da müssen wir uns keinen neuen ausdenken. Glauben Sie mir, einen guten Film zu machen, ist schwer genug - und mir viel wichtiger.
Susanne Bier,
52, ist eine der international erfolgreichsten Regisseurinnen der Welt. Bier wurde in Kopenhagen geboren und studierte Kunst in Jerusalem und Architektur in London, bevor sie sich an der Nationalen Filmschule in Dänemark einschrieb. Für ihren Film In einer besseren Welt gewann die Dänin 2011 sowohl den Oscar als auch einen Golden Globe für den besten fremdsprachigen Film und den europäischen Filmpreis für die beste Regie. Schon ihr Film Nach der Hochzeit über eine komplexe Familie war 2006
als bester fremdsprachiger Film für einen Oscar nominiert worden. Fast immer geht es um Familien am Rande einer Katastrophe: In Eine neue Chance mit Halle Berry und Benicio Del Toro verliert eine glückliche Ehefrau plötzlich ihren Mann, in Zwischen Brüdern ringt ein Soldat mit seinem Afghanistan-Trauma, in Für immer und ewig (2002), ihrem Ausflug in das Dogma-Kino, muss ein junges Pärchen nach einem katastrophalen Autounfall neu anfangen. Ihr neuer Film Love Is All You Need
mit Pierce Brosnan und Trine Dyrholm ist gerade in Deutschland angelaufen. Es ist ihr fünfter gemeinsamer Film mit dem Drehbuchautor Anders Thomas Jensen.
Foto: Klaus Bo