Mamma mia: Spiel es noch mal, Mama

In keinem Blick liegt mehr Liebe als in dem unserer Mütter. Ein Sohn aus unserer Redaktion schaut zurück.

Meine Mutter hat zwei Leben geführt. Im ersten ging sie auf ein Internat, dann auf
ein Musikkonservatorium. Sie hat Klavier gespielt, Violoncello und Flöte. Sie bekam nur ein paar Mark Taschengeld von ihren Eltern, aber die hat sie gespart und ausschließlich für Schallplatten ausgegeben: Sinfonien von Beethoven, Klavierkonzerte von Mozart, Lieder von Schubert. Ich glaube, sie war ein schüchternes, ein verträumtes Mädchen, das lieber ins Konzert als in die Disco ging. Ich glaube, sie hatte lange niemanden, der sie an die Hand genommen und ihr das Leben gezeigt hat. Als sie meinen Vater heiratete, begann ihr zweites Leben. Sie war gerade mal 19.

In ihrem zweiten Leben hatte meine Mutter keine Zeit mehr zum Träumen. Sie musste funktionieren, aufs erste Mal, ohne irgendwelche Probeläufe, wie es sie heute gibt. Dabei war sie selbst noch ein Kind, hatte noch nie einen festen Freund gehabt, war noch nie in einem anderen Land gewesen. Noch nicht einmal kochen konnte sie, das hatte ihr nie jemand gezeigt, und so gab es für meinen Vater am Anfang nur Spiegeleier und Wiener Würstchen zu essen, immer abwechselnd mal das eine, mal das andere. Mein Vater war gerade dabei, eine eigene Praxis aufzubauen, und arbeitete jeden Tag von morgens bis abends, zwölf, 13 Stunden am Tag, oft auch am Wochenende. Meine Mutter unterstützte ihn, wo es ging, hielt ihm den Rücken frei, half in der Praxis, kümmerte sich um den Alltag, um den Haushalt, um die Kinder. Mein Vater war so sehr Arzt, dass er nichts anderes war. Alles andere – das war meine Mutter: Buchhalterin, Handwerkerin, Erzieherin, Steuerfachfrau, Gärtnerin und irgendwann auch Köchin. Am Anfang gab sie noch ein paar Klavierstunden in der Woche, später spielte sie nicht mal mehr selbst. Sie stellte ihr ganzes Leben in den Dienst der Familie, manchmal verschwand sie als Person fast hinter der funktionierenden Gattin und Mutter. Sie war glücklich, wenn wir glücklich waren, mein Vater, meine Schwester und ich. Dafür tat sie alles.

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Ich habe fast nie erlebt, dass sie eine Freundin zum Kaffee getroffen oder sich zum Sport verabredet hätte. Sie lief am Wochenende nicht mit der Kreditkarte durch Fußgängerzonen, lag nie mit der Sonnenbrille im Garten, hockte nie Prosecco trinkend im Tennis- oder im Golfclub wie die Mütter meiner Freunde. Stattdessen spielte sie mit mir Brettspiele von Ravensburger, las mir Geschichten vor, chauffierte mich in Freizeitparks, später zu Tennisturnieren. Abends saßen wir zusammen am Esstisch und warteten darauf, dass endlich mein Vater nach Hause kam. Oft war es spät und schon dunkel, aber immer wenn sie den Schlüssel im Schloss hörte, strahlte sie und rannte in die Küche, um das Essen aufzuwärmen, das sie schon vor Stunden gekocht hatte. Sie liebte ihn sehr und beschwerte sich nie.

An meinem 18. Geburtstag rief sie mich an – ich war gerade in Südfrankreich. Sie gratulierte mir und sagte dann, dass mein Vater am Abend vorher eine Notoperation am Herzen »ganz gut« überstanden habe. Als ich weinte, tröstete sie mich. In den schwierigen Wochen danach habe ich sie traurig und einsam und ängstlich, aber nie verzweifelt gesehen.

Vor zwei Jahren hat mein Vater aufgehört zu arbeiten. Mein Gott, was für ein Einschnitt, für ihn, aber auch für meine Mutter. Der Mann, auf den sie ihr ganzes Leben lang gewartet hatte, saß auf einmal 24 Stunden am Tag neben ihr und versuchte krampfhaft, ihr zu helfen, indem er Kartoffeln schälte oder die Hecke zurechtschnitt. Ich sehe meine Eltern nicht mehr oft, zwei-, dreimal im Jahr vielleicht. Sie haben begonnen, sich zu belohnen, reisen viel, schauen sich Ausstellungen an, lernen Italienisch, geben Begriffe bei Google ein. Neulich war mein Vater zum ersten Mal seit dreißig Jahren in einem Supermarkt. Er war fasziniert von den vielen bunten Produkten. Kein Vergleich zu früher, meinte er. Als ich neulich meine Mutter anrief, wäre ich fast vom Stuhl gefallen. Sie war kurz angebunden und sagte: »Tobi, kann ich dich zurückrufen? Ich habe gerade Besuch von Margit.« Margit – ich hatte den Namen jahrelang nicht gehört. Mit Margit war sie zur Schule gegangen.

Das Schönste aber war, als ich letztes Wochenende zu meinen Eltern gefahren bin. Ich kam in die Wohnung, hörte Töne, jemand spielte Klavier. Meine Mutter. Ein bisschen holprig noch, aber eine schöne Melodie. Ich schlich ins Wohnzimmer, setzte mich aufs Sofa, hörte zu und war sehr dankbar und unglaublich stolz auf sie. Ich glaube, meine Mutter beginnt gerade ihr drittes Leben.

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