Versöhnung am Meer

Unsere Autorin hadert mit ihrem Körper – und hat schon viel versucht, um das zu ändern. Warum ihr ausgerechnet der Strand geholfen hat.

Halb nackte Körper, viel Öffentlichkeit – und trotzdem kann man sich am Strand so frei fühlen wie fast nirgends sonst.

Foto: Yosigo

Ich mag die Fotos aus den Sommern meiner frühen Kindheit. Sie kondensieren, wie ich mich an diese Wochen erinnere: die Wiesen mit dem hohen Gras, der knorrige Kirschbaum im Garten meiner Großeltern, die Besuche am Badesee, die Luftmatratze mit den Schwertwalen. Und ich, glücklich meinen Bauch herausstreckend.

Heute spüre ich Sehnsucht, wenn ich mir die Fotos anschaue. Weil sie dokumentieren, dass es einmal eine längere Zeit gab, in der mein Körper einfach nur mein Körper war. Dass ich einige Jahre lang so frei war. Von dieser Freiheit ist wenig übrig geblieben. Ich schäme mich für meinen Körper, ständig, und weil ich es falsch finde, dass ich mich für meinen Körper schäme, schäme ich mich auch noch dafür.

In der ersten Instanz kann ich mich nicht gegen die Bilder wehren, die seit Jahrzehnten meinen Kopf fluten. Die mir sagen, wie Körper aussehen sollten. Und noch viel wichtiger: wie nicht. Ich habe jahrelange Übung darin, meinen Körper mit diesen Vorstellungen abzugleichen. Und empfinde die allseits erwartete Abscheu vor mir selbst, weil mein Körper gegen diese Vorstellungen nur verlieren kann. Es gibt kaum eine Stelle, die verschont geblieben ist.

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Ich finde meine Haare zu dünn, meinen Kiefer zu kräftig, meine Brüste zu spitz, meinen Bauch zu weich, meine Hüften zu breit, und dann kommt der schlimmste Teil meines Körpers, meine Oberschenkel, die ich vor allem deswegen so schlimm finde, weil einer meiner Ex-Freunde vor Jahren einmal andeutete, dass er sie nicht schlank genug fand. Statt ihn dafür zu verurteilen, zucke ich innerlich jedes Mal zusammen, wenn ich daran denke. Und trage seitdem außerhalb meiner Wohnung keine kurzen Hosen mehr.

Aber all diese Gedanken sind ja nur der Anfang. Hinzu kommt in der zweiten Instanz, dass ich das Gefühl habe, ich sollte mich gegen diese Gedanken wehren können. Ich bin Feministin und finde, dass man das Konzept Schönheit nicht nur erweitern, sondern überwinden sollte.

Ich würde mit meinem eigenen kritischen Blick auch niemals andere Menschen anschauen. Stattdessen sehe ich bei ihnen, was ich gerne bei mir sähe: einen Menschen mit einem Körper, der es verdient, nicht bewertet zu werden. Aber ich kann mein Wissen nicht auf mich anwenden.

Wie bei zu vielen Frauen gab es in meinem Leben Phasen des Schlemmens, natürlich begleitet von Scham, und eine ­Phase des Fastens, natürlich begleitet von Stolz. Ich verurteile mich nicht dafür. Denn wie sollte ich mich anders fühlen? Als es mir einige Monate lang schlecht ging, ich mehr Sport machte, weniger aß und immer dünner wurde, gab es ein paar wenige Menschen, die besorgt nachfragten. Und sehr viele Menschen, die mir Komplimente für meinen schlankeren Körper machten.

Wenigstens glaube ich längst nicht mehr, dass diese Probleme meine Schuld sind. »Als Feministin habe ich gelernt, Raum einzunehmen. Als Frau sollte ich besser dünn und unsichtbar bleiben«, schrieb die Journalistin Emilia Smechowski in einem Essay im Zeit-Magazin über ihr schwieriges Verhältnis zum Essen und ihrem Körper. Ihre Kollegin Nina Pauer meinte in der Zeit: »Wie zwei einander gegenüberliegende Wände, die sich bedrohlich von links und rechts nähern und eine kleine weibliche Figur in der Mitte zu zerquetschen drohen, wirken die gegenteiligen Befehle, die Frauen in der Beziehung zu ihrem Körper heute befolgen sollen.« Und so fühle ich mich: als würden mich meine Gedanken aus zwei unterschiedlichen Richtungen ständig anschreien. Und ich kann keine der Stimmen überschreiben, nur neue hinzufügen.

Am Meer vergesse ich, dass ich meine Nase zu groß finde

Es hilft mir nicht einmal, mir einzureden, dass mein Körper nicht schön sein muss, sondern mich nur durchs Leben trägt. Auch der funktionale Blick auf den Körper ist ein Blick auf den Körper. Ich beschäftige mich schon wieder damit. Und es führt dazu, dass ich beim Yoga erst darüber nachdenke, dass mein Bauch ganz schön baumelt, wenn ich mich bücke. Dass ich dann denke, dass ich das gar nicht bemerken sollte. Und dass ich im Anschluss denke, dass es wirklich merkwürdig von mir ist, nicht mal beim Sport meinen Körper auf eine nette Weise betrachten zu können, obwohl er doch gerade so tolle Dinge leistet. In meinem Kopf wird es also nicht leiser, sondern nur lauter.

Ich werde meine Gedanken nicht mehr schulen können. Aber seitdem ich das begriffen habe, ahne ich endlich, was mir helfen könnte: Situationen zu suchen, in denen ich mal nicht denke, sondern spüre. In denen nicht Gedanken, sondern Empfindungen sehr laut sind. Und ich habe diese Momente an einem Ort gefunden, der mich selbst überrascht: wenn ich am Meer bin. Ohne die Schutzschicht meiner Kleidung.

Eigentlich sollte alles daran schlimm für mich sein. Ich bin den Blicken anderer Menschen ausgesetzt. Ich kann mich vor diesen Blicken nicht verstecken. Ich bin vergleichbar, in all meinen Details. Aber genau an diesem Ort schaffe ich es, im Moment zu versinken und die Gedanken – die negativen, die positiven, die moderierenden – endlich in den Hintergrund treten zu lassen.

Es liegt an dem Gefühl, das mir das Meer und der Strand geben. Es liegt daran, dass meine Füße, wenn ich am Strand entlanglaufe, erst die Wärme des aufgeheizten Sandes spüren und dann das schlotzige Gefühl des nassen. Es liegt daran, dass es sich fast wie Streicheln anfühlt, wenn die Wellen gegen die Waden schwappen. Es liegt daran, wie schwerelos der Körper im Wasser ist. Es liegt daran, wie sich die Wassertropfen auf meiner Haut zu immer kleineren Flecken zusammenziehen, wenn ich mich danach in die Sonne lege. Es liegt daran, wie schön es sich anfühlt, das Bein von der Liege hängen zu lassen und mit den Zehen im warmen Sand zu graben. Es liegt daran, dass der Wind kleine Sandkörner auf die Haut weht. Und viel weiche Luft. Es liegt daran, dass man im Schatten liegen und immer wieder ein Bein oder einen Arm in die Sonne strecken und spüren kann, wie sie wärmt. Es liegt an dem Rauschen der Wellen. Und an dem leicht salzigen Duft.

Am Meer schaffe ich, was mir meine Meditations-App im Alltag so nachdrücklich beibringen möchte: Ich spüre so viel, dass mein Kopf dabei immer ruhiger wird. Ich vergesse, dass ich meine Haare zu dünn finde, und freue mich, dass sie so gut nach Meer riechen. Ich vergesse, dass ich meine Nase zu groß finde, und schmiere sie fürsorglich mit Sonnencreme ein. Ich vergesse, dass ich meine Brüste nicht voll genug finde, und ziehe mein Bikinioberteil aus. Ich vergesse, den Bauch einzuziehen. Und verschmelze mit einem Ort, der noch nie etwas von mir erwartet hat und mich einfach sein lässt.

Ich kann diese Momente im Freibad nicht nachstellen, weil mir dort alles etwas zu künstlich ist: das abgemähte Gras, das lauwarme, sonnencremeschmierige Wasser. Aber ich übe. An Seen klappt es schon besser. Das Wasser ist – vor allem, wenn man beim Baden Berge sieht – meistens zu kalt, um noch an überhaupt irgendetwas anderes denken zu können als an die kleinen Stiche auf der Haut. Dann schwimme ich ein paar Züge ins tiefe Blau hinein, tauche mit dem Kopf unter, komme prustend wieder hoch, wische mir das Wasser aus den Augen, spüre, wie meine nassen Haare auf dem Rücken kleben und ich sonst fast schwerelos bin. Ich fühle und bin nicht mehr als das.

Ich weiß nicht genau, wie ich in diesen Momenten aussehe, aber ich stelle mir den Anblick so vor wie die erwachsene Version des kleinen Mädchens, das immer seinen Bauch so herausstreckte.