Judas küsste Jesus und lieferte ihn dadurch, wie die Evangelisten berichten, seinen Häschern aus.
Er ist der Schurke in einem Stück, das seit zwei Jahrtausenden erzählt wird: Judas Iskariot, der Mann, der Jesus ans Kreuz geliefert hat. Für dreißig Silberlinge und mit einem Kuss – eine Szene, die sich tief ins christlich-abendländische Bewusstsein eingegraben hat: Und als er noch redete, siehe, da kam Judas, der Zwölf einer, und mit ihm eine große Schar, … und der Verräter hatte ihnen ein Zeichen gegeben und gesagt: Welchen ich küssen werde, der ist’s; den greifet.
Jesus wird verurteilt, gekreuzigt und begraben, auferweckt nach drei Tagen und seinen Jüngern erscheinen. Aber es sind nur noch elf. Judas ist nicht mehr dabei. Matthäus berichtet, Judas habe sich aus Reue und Verzweiflung erhängt, vorher aber die dreißig Silberlinge an die Hohepriester zurückzugeben versucht. Diese lehnten die Annahme des »Blutgeldes« ab, und so hat er es einfach in den Tempel geworfen. Laut der Apostelgeschichte hat Judas sich für das Blutgeld einen Acker gekauft. Dort sei sein Leib mitten entzweigeborsten und habe seine Eingeweide freigegeben.
Johannes weiß nichts über sein Ende, verleiht ihm aber ein interessantes Psychogramm, schildert ihn zunächst als guten Sozialdemokraten, der heftig protestiert, als eine Frau Jesus mit kostbarem Öl die Füße salbt: Warum ist diese Salbe nicht verkauft um dreihundert Groschen und den Armen gegeben? Judas sei es aber gar nicht um die Armen gegangen, fügt Johannes dann hinzu, sondern um seinen eigenen Vorteil, denn er war ein Dieb und hatte den Beutel und trug, was gegeben ward.
So fügt sich das Bild von Judas als Inkarnation des Bösen. Getrieben von Gier, angestachelt vom Satan, wird er zu dem Verräter, den Dante in seiner Göttlichen Komödie in Satans Maul im untersten Kreis der Hölle schmachten lässt. Doch war Judas wirklich das Werkzeug des Teufels? War er nicht vielmehr Bestandteil im Heilsplan Gottes? Der Verrat war doch notwendig um der Erlösung der Menschen willen. Verdiente Judas nicht, von uns Freigesprochenen von seiner Schuld freigesprochen zu werden?
Es ist diese Gedankenkette, welche Judas zu einer der interessantesten Figuren der Bibel macht und schon immer Zweifel geweckt hat an der Konsistenz der christlichen Lehre, bis hin zu der Frage: Handelt es sich bei Judas um eine historische Person? Hat er wirklich zum Kreis der Zwölf gehört? Oder wurde er nachträglich eingeschmuggelt? Warum wird er in den ältesten christlichen Schriften, den Briefen des Paulus, geschrieben zwischen 50 und 60 nach Christus, mit keinem Wort erwähnt?
Groß war daher die Aufregung der Öffentlichkeit, als ihr vor ein paar Jahren ein Judas-Evangelium präsentiert wurde. Gelassener reagierten die Theologen. Die wussten schon lange von dessen Existenz, allerdings aus einer einseitigen Quelle: den Schriften des Kirchen-vaters Irenäus von Lyon (ca. 135–202 n. Chr.). Dieser bekämpfte scharfzüngig und polemisch das Judas-Evangelium als Häresie.
Seit 2006 liegt es nun als koptische Übersetzung eines nicht mehr vorhandenen griechischen Originals vor, von Theologen auf die Zeit zwischen Mitte und Ende des zweiten Jahrhunderts datiert. Gefunden wurde es vermutlich in den Siebzigerjahren von Bauern in Mittelägypten. Im Verlauf von zwei Jahrzehnten reiste es von Kairo über die Schweiz nach New York und wieder zurück in die Schweiz, wobei der Papyrus erheblich beschädigt wurde. Im Februar 2002 hat dann die Baseler Maecenas-Stiftung die in Hunderte kleiner Fragmente zerfallene Schrift erworben und in drei Jahren von dem Religionshistoriker Gregor Wurst von der Universität Augsburg zusammensetzen lassen. Dabei konnten fast 90 Prozent des Textes rekonstruiert und unter der Leitung des Genfer Koptologen Rodolphe Kasser übersetzt werden. Seitdem wissen wir: Im Judas-Evangelium ist der Schurke der Held.
Judas ist der Lieblingsjünger Jesu, der Einzige, der Jesus versteht. Ihm verrät Jesus in einer Art Sonderoffenbarung alle Geheimnisse der Welt und des Lebens. Du wirst sie alle übertreffen, denn du wirst den Menschen opfern, der mich trägt, sagt Jesus zu Judas, richte deine Augen empor, und siehe die Wolke und das Licht, das in ihr ist, und die Sterne, die sie umkreisen. Der Stern, der der Anführer ist, ist dein Stern. Und Judas sagt zu Jesus: Ich weiß, wer du bist und von welchem Ort du gekommen bist. Du bist aus dem unsterblichen Äon der Barbelo gekommen.
In solchen Sätzen klingt an, in welchem Geist das Judas-Evangelium geschrieben wurde. Es ist der Geist der Gnosis, eines religiösen Geheimwissens, das im damaligen Reich un-ter Juden, Christen und Heiden populär war. Für Gnostiker ist der Leib nur ein Gefängnis der Seele. Um seiner Seele die Freiheit zu schenken, wünscht Jesus, vom irdischen Leib befreit zu werden. Nur Judas versteht diesen Wunsch, ihn bittet Jesus daher, die Häscher zu rufen.
Wie in den anderen Evangelien auch erfährt man hier wenig darüber, wie es wirklich gewesen war, aber fast alles über den Glauben und die religiösen Vorstellungen derer, die da schreiben. Jedenfalls lernen wir im Judas-Evangelium nicht Judas kennen, sondern einen Gegenglauben, eine scharfe Polemik gegen das, was sich später als der christliche Glaube gegen die Gnosis durchsetzen wird.
Für Gnostiker ist der alttestamentarische Gott der Juden, der auch der Gott der Christen ist, nur ein verunglücktes Experiment der Weltgeschichte. Lange vor ihm gab es eine Vielzahl anderer göttlicher Wesen. Nach ihnen entstand auch der Gott des Alten Testaments, genannt El, mit seinen beiden Dienern, dem bluttriefenden Aufrührer Yaldabaoth und dem Narren Saklas. Diese beiden sind die Urheber der sinnlosen materiellen Existenz. Die Schöpfung ist nicht gut, sondern ein Unglück. Jesus aber ist nicht der Sohn eines niederen Schöpfergottes, sondern ein Abkömmling aus dem unsterblichen Reich der Barbelo, einer immateriellen Sphäre des wahrhaft Göttlichen. Und Judas erkennt das als Einziger unter den zwölf.
Das alles klingt sehr nach esoterischem Sektengeschwurbel. Man ist versucht, Irenäus im Nachhinein dafür zu beglückwünschen, dass er diesen ungenießbaren Brei, zusammengerührt aus Vulgärplatonismus, Judentum, heidnischen Versatzstücken und christlichen Anleihen, aus der gerade entstehenden Kirche hinausgekehrt hat. Gehörte es nicht schon immer zu einer der wichtigsten Aufgaben des Gottesvolks, die Geister zu scheiden?
Ebendas war eine schwierige Aufgabe zu Lebzeiten des Irenäus am Ende des zweiten Jahrhunderts. Jesus, Paulus und die Apostel waren lange tot. Christliche Gemeinden hatten sich im gesamten römischen Reich ausgebreitet. Die paulinischen Briefe, zwar längst geschrieben, waren bei Weitem nicht in allen christlichen Gemeinden bekannt, ebenso die Evangelien. Über Jesus und die Apostel kursierten mündlich überlieferte Sprüche und Geschichten, die hier und da auch gesammelt worden waren, aber bis die christlichen Texte kanonisiert und in ein Neues Testament gegossen wurden, sollten noch viele Jahrzehnte vergehen. In die so entstehende Unsicherheit sickerte das gnostische Gedankengut, und die Christen zerstritten sich um so tiefer, je mehr die Zeit fortschritt. Schon zwischen Paulus und der Jerusalemer Urgemeinde hatte es gekracht.
Seit Archäologen vor mehr als einem halben Jahrhundert im ägyptischen Nag Hammadi frühchristliche Papyrusschriften ausgegraben haben, sehen wir: Die ersten Christen waren dabei, sich in tausend Sekten zu zersplittern. Der Kampf zwischen Christen und Gnostikern stand auf der Kippe, davon künden mehr als vierzig Evangelien, Briefe und andere frühchristliche Texte, die während der letzten 150 Jahre gefunden wurden. Sie künden auch von der Stärke der gnostischen Bewegung, die vieles, was eigentlich geklärt war, wieder in Frage stellte. Ist Jesus wirklich leiblich auferstanden? Oder war’s doch nur die Seele, die aus seinem toten Leib entwich? War er wirklich der im Alten Testament prophezeite Messias? Oder vielleicht doch nur ein Weiser? Wann endlich wird Jesus sein Versprechen wahr machen und wiederkommen? Solche durchaus ernst zu nehmenden Fragen enthält auch das nicht in jeder Hinsicht abwegig erscheinende Judas-Evangelium.
Die Zerstrittenheit war den frühen Christen bewusst. Aber wie sollten sie klären, was denn nun stimmt, wenn man Jesus und die Apostel nicht mehr fragen konnte? Die Lösung erarbeiteten Irenäus und eine Reihe anderer Kirchenväter des zweiten und dritten Jahrhunderts. Man brauchte geistliche Führer, die falsche Lehren von Irrlehren unterscheiden können, mit Hilfe jener wenigen Schriften, denen höchste Autorität zukommt, weil sie von den Aposteln selbst geschrieben wurden. Damit begann die Kanonisierung christlicher Schriften, die später unter Kaiser Konstantin durchgesetzt wurde mit der Doktrin: Jesus hat seine Botschaft an die Apostel weitergegeben, seitdem sorgt eine ununterbrochene Kette von bischöflichen Hütern der Wahrheit für die Bewahrung der einen Lehre. So entstand die rechtgläubige, hierarchische Bischofskirche von Kaisers Gnaden.
Heute kennen wir die Schwächen dieser Hierarchisierung der Kirche, wir kennen die Fragwürdigkeit der Methode, die egalitäre Botschaft eines laienhaften Wanderpredigers in die Hände einer Elite von Schriftgelehrten zu legen, und wir kennen die katastrophalen Folgen des Bündnisses von Thron und Altar so gut, dass wir ganz vergessen, uns zu fragen, was denn die Alternative gewesen wäre. Verzicht auf Scheidung der Geister? Gewähren lassen? Kapitulation vor der Gnosis? Das hätte die Kirche wohl kaum überlebt.
Rom und das orthodoxe Christentum haben sich durchgesetzt. Es ging wohl nicht anders. Vermutlich deshalb hat sich die Auf-regung um das Judas-Evangelium so schnell wieder gelegt. Die Story mag die üblichen Gralssucher, Verschwörungstheoretiker und Sakrileg-Fans faszinieren, werden die Theologen sich gedacht haben, wir aber müssen an unserem Theoriengebäude keine größeren Umbauten vornehmen. Was die Dan-Brown-Gemeinden betrifft, haben die Theologen recht, aber in anderer Hinsicht sind sie möglicherweise etwas zu schnell zur Tagesordnung zurückgekehrt, denn ein Blick aus etwas größerer Distanz auf das ganze Christengebäude müsste unter dem frischen Eindruck der Lektüre des Judas-Evangeliums und der Nag-Hammadi-Schriften eigentlich die Frage provozieren: Hat das Gebäude eine gnostische Schlagseite? Wer gegen den Teufel kämpft, stinkt nach Schwefel, wer die Gnosis besiegte, war gnostisch verseucht. Die Gnosis wurde ausgeschieden, aber vielleicht um den Preis gewisser Zugeständnisse an die Gnostiker in den eigenen Reihen?
Das Alte Testament ist in seinen besten Teilen licht, aufklärerisch, politisch, diesseitsorientiert, provokant und religionskritisch bis hin zur Blasphemie. Schon das spätere Judentum ist davon abgerückt, noch mehr das Christentum. Dieses wurde – gewiss unter dem Einfluss der Gnosis – wieder jenseitsorientierter und mystischer. »Vater, Sohn und Heiliger Geist«, drei Götter in einem, dazu die »Muttergottes Maria«, die Heiligen und die Märtyrer, Reliquien und Weihrauch, Priester als Vermittler zwischen Gott und Mensch, magische Worte und Handlungen, welche den Abendmahlswein verwandeln – mit diesen Ingredienzen heidnischer Kulte entfernte sich das Christentum immer weiter vom Judentum. Unnötig weit.
Die Religionen könnten wieder so eng zusammenrücken, wie sie eigentlich von ihren Ursprüngen her zusammengehören, wenn sich beide auf die besten Momente ihrer gemeinsamen Geschichte besännen. Dazu müssten sie sich nur ihrer durch die Jahrhunderte unerkannt mitgeschleppten gnostischen Infekte entledigen. Die Christen ein bisschen mehr als die Juden. So könnte der Verräter Judas durch die kritische Lektüre des Judas-Evangeliums zwei Jahrtausende später noch zum Segen für Christen und Juden werden.