Theo Albrecht war eine der mysteriösesten Figuren der Bundesrepublik: Er baute mit seinem Bruder ein weltumspannendes Geschäftsimperium auf, häufte ein Milliardenvermögen an – und schaffte es bis zum Schluss, sein Privatleben völlig im Verborgenen zu halten. Ein paar unscharfe Fotos, keine Interviews. Ein Mythos. Am 24. Juli ist Theo Albrecht gestorben, seitdem wird mehr denn je gerätselt, wer er wirklich war. Seine Familie sagt nichts, bleiben also Freunde, Bekannte, Zeitgenossen. Ist es überhaupt möglich, sie zu treffen? Wenn, dann an dem Ort, an dem sie sich eine Woche nach Albrechts Tod vermutlich einfinden werden: an seinem Grab. Einen Versuch ist es wert.
Dazu muss man sich aber erst mal durch ein Gestrüpp von widersprüchlichen Informationen kämpfen: In den Nachrufen war von einer besonders unauffälligen Grabstätte die Rede; bei der Stadtverwaltung Essen heißt es, es gebe gar keine Grabstätte, die Recherche möge man sich bitte sparen. Bei einem Telefonat mit dem Friedhofsbüro kommt schließlich heraus, dass die Familie Albrecht auf Diskretion gedrängt hat. Der Patriarch ist tot, aber ganz Essen scheint sich nach wie vor einem Schweigegebot verpflichtet zu fühlen.
All die Vorsichtsmaßnahmen erscheinen dann aber beim Betreten des Friedhofs fast absurd, denn der Blick bleibt unweigerlich hängen: Fast direkt neben dem Haupteingang liegt eine ausladende, mit Torf aufgeschüttete Freifläche, sechs Kränze sind darauf drapiert, Plakette oder Kreuz gibt es zwar tatsächlich nicht, aber praktisch jeder Besucher muss daran vorbei. Es ist das Grab, das auf dem einzigen offiziellen dpa-Pressefoto zu sehen war. Also mal abwarten, wer da kommt. Wer jetzt noch Albrechts Grab besucht, war vermutlich nur ein entfernter Bekannter, aber das wäre ja schon was.
Wenn nur irgendjemand sein Grab besuchen würde! Aber es kommt keiner. Am ersten Tag nicht, am zweiten Tag auch nicht; am dritten Tag denkt man, Albrecht habe zu Lebzeiten noch eine Besuchersperre erwirkt. Würde einen nicht wundern – selbst das Geburtsdatum dieses Mannes wurde ja erst durch seine Todesanzeige belegt.
Also beginnt man irgendwann, mit den Essenern zu reden, die aus anderen Gründen auf den Friedhof kommen. Viele von ihnen bleiben für einen Moment an der auffälligen Grabstätte stehen, zu einem kurzen Gespräch sind die meisten bereit. Wissen Sie, wer hier liegt? »Wir vermuten es mal« ist die häufigste Antwort. Die meisten scheinen sich zu freuen, wenn man sie auf Theo Albrecht anspricht, jeder Zweite hat eine Großmutter, die in den Fünfzigerjahren noch bei ihm persönlich Lebensmittel gekauft hat, seine Kirchengemeinde hat er großzügig unterstützt; ein pensionierter Schreinermeister erzählt, dass er vor zwanzig Jahren wegen eines größeren Auftrags ein paar Mal in Albrechts Privathaus war, und er weiß noch heute, er bekam nur zwei Mark Trinkgeld. Keiner dieser Menschen hat Albrecht wirklich näher gekannt, aber wenn man ihnen zuhört, könnte man meinen, sie denken täglich an ihn. Für die Essener ist er offenbar einer der Ihren.
Der Mythos bleibt. Wer Albrecht wirklich war, kann einem hier keiner erklären. Aber es gibt ein Detail, das zeigt, wie akribisch Albrechts Wunsch, anonym zu bleiben, auch jetzt noch erfüllt wird: An den Kränzen auf seinem Grab sind alle persönlichen Schleifen mit den Namen der Stifter abgeschnitten. Das auffällige Grab darf nichts verraten. Es gibt übrigens viele Essener, die glauben, es sei nur Kulisse – das echte Grab befinde sich irgendwo anders. Auch nach seinem Tod bleibt Theo Albrecht ein Rätsel.