SCHÖNES FREI
Wer möglichst unbemerkt auf einer deutschen Intensivstation sterben will, sollte dies gegen 14 Uhr tun. Da sitzen die Schwestern und Pfleger der Frühschicht noch eine halbe Stunde am Tisch mit jenen der Spätschicht, sie reden und sie lachen laut. Ich lag gleich nebenan, hinter und neben meinem Bett fiepten und klingelten und pfiffen die Maschinen und Computer, an die ich angeschlossen war. Aber kein Pfleger kam, um mir zu helfen. Sie schienen es nebenan richtig nett zu haben, wünschten sich überschwänglich »Schönes Frei«. Ich begriff gar nichts und hatte nur Angst. Rufen konnte ich nicht, denn ich hatte ein Loch im Hals, in dem eine Kanüle steckte, an der eine Beatmungsmaschine hing, und klingeln ging nicht, denn ich hatte keine Klingel. Selbst wenn, damals wäre ich zu schwach gewesen, um den Knopf zu drücken. So war ich oft sicher, bald sterben zu müssen, unbemerkt von all den lachenden Menschen um mich herum. Und draußen klopfte der Frühling an. Inzwischen weiß ich, dass im »Stützpunkt«, wie das Schwesternzimmer heute heißt, und im Ärztezimmer Monitore zur Überwachung stehen, die Alarm schlagen, wenn es knapp wird. Inzwischen weiß ich natürlich auch, was »Schönes Frei« bedeutet. Das wünschen sich Schwestern und Pfleger, wenn sie durch Überstunden und Wochenenddienste freie Tage angesammelt haben. Doch gesagt hat mir das zu der Zeit keiner. Damals lag ich ja erst 30 oder 40 Tage auf der Intensivstation. 210 sollten es werden.
DER AUFWACHRAUM KOMMT
Ich hatte ein Schwannom, einen Tumor des Nervensystems. Normalerweise besteht die Aufgabe der sogenannten Schwann-Zellen darin, die Nerven zu umhüllen. Aber manchmal machen sie sich selbstständig und finden sich zu einem Klumpen zusammen. Am Tag, als ich ins Krankenhaus kam, war der Tumor groß wie ein Handball und drückte meinen linken Lungenflügel zusammen und mein Herz nach rechts. Wochenlang war ich schon kurzatmig, konnte kaum noch über die Straße gehen, ohne stehen bleiben und Luft holen zu müssen; jedes einzelne Stockwerk im Büro fuhr ich mit dem Lift. Ich versuchte, so gut es eben ging, den Zustand vor meinen Kollegen zu verbergen. Meine Lippen waren fast ständig blau, schlafen konnte ich schon viele Monate kaum mehr. Nur: Weh tat mir nichts. Ich nahm immer mehr zu und dann, im Februar, stauten sich schließlich zwanzig Kilo Wasser in meinem Körper. »Es ist das Herz«, sagte ein Arzt und gab mir entwässernde Tabletten. »Es ist nicht das Herz«, sagte ein anderer. »Leberzirrhose«, diagnostizierte ein Dritter. Als ich nicht mehr vom Sofa hochkam, weil ich wegen des gestauten Wassers meine Knie nicht mehr abwinkeln konnte, ging ich zur Notaufnahme ins Klinikum München-Großhadern. Das war Ende Februar. Die Computertomografie brachte die Wahrheit ans Licht. »Noch zwei, drei Wochen, und Sie wären gestorben«, sagte der Professor, der mich zwei Tage später operierte. Und nachdem mich die Anästhesistin über alle Risiken der bevorstehenden Operation aufgeklärt hatte, meinte sie im Rausgehen: »Das wird knapp. Sehr knapp.« Die erste Operation musste nach sechs Stunden beendet werden, weil ich zu viel Blut verloren hatte, bei der zweiten, zwei Tage später, stand mein Herz zweimal still. Da packte der Professor das Herz mit seinen Händen und drückte es zusammen und ließ los und drückte zusammen, bis es wieder von allein schlug. Nun begann die Zeit, in der niemand wusste, ob ich leben oder sterben würde – ein Lungenflügel kaputt, das Herz vielleicht inzwischen zu schwach, und würden die Nieren bei diesen starken Medikamenten durchhalten? Und die Leber? Es gab Tage, da klangen die Ärzte morgens ziemlich hoffnungsfroh und abends ziemlich hoffnungslos. Und manchmal war es umgekehrt. Ich habe davon nichts mitbekommen: Drei Wochen lag ich im künstlichen Koma. Dann holten sie mich langsam zurück. »Wissen Sie, wo Sie sind?«, ist die erste Frage, an die ich mich erinnere. Die zweite: »Wissen Sie, wie Sie heißen?« Ich sollte sie während des nächsten halben Jahres noch oft hören. Die Fragen werden von den Pflegern und Schwestern immer gestellt, wenn ein Patient aus dem Koma erwacht oder wenn »der Aufwachraum kommt«, wie sie es nennen, wenn also ein Patient auf die Intensivstation geschoben wird, der aus der Narkose aufwacht. Diese Fragen dienen dazu, sich zu vergewissern, ob der Patient verwirrt oder bei Sinnen ist. Ob ich bei Sinnen war, weiß ich nicht. Später erzählte mir eine Freundin, dass ich ziemlich bald gefragt hätte, ob Rudi Carrell noch lebe. Ich weiß davon zwar auch nichts mehr, aber so eine Frage zu stellen würde ich mir zutrauen. Ja, damals, Ende März, lebte er noch. Und ich war erst mal über den Berg. Und der Tumor gutartig – welch ein Glück.
WER SITZT AUF DER THEKLA?
Zwei Monate habe ich mein Leben mit Herrn R. geteilt – doch gesehen habe ich ihn nie. Ein Paravent stand zwischen seinem und meinem Bett. Reden konnten wir auch nicht miteinander, denn wir hatten beide einen Luftröhrenschnitt. Nur einmal, als er im Reha-Stuhl saß, der »Thekla« hieß – ein allgegenwärtiger Name –, lugte sein Fuß neben dem Paravent hervor. Diese unerwartete Abwechslung war einer der Höhepunkte der Wochen im April. Ich betrachtete den Fuß also sehr lang. Er sah tadellos aus. Ich weiß ziemlich viel über Herrn R., seine Tochter sprach natürlich normal laut mit ihm, wenn sie zu Besuch kam: Im März, als der Winter noch einmal heftig zurückgekehrt war, hatte man Herrn R. morgens im Schnee gefunden. Seine Körpertemperatur betrug nur noch 26 Grad, aber er hatte noch über zwei Promille im Blut. Das hat ihm wohl das Leben gerettet. Seine Tochter bekniete ihn nun, nach seiner Entlassung ein neues Leben zu beginnen, endlich mit dem Rauchen aufzuhören, sich den Schnurrbart wieder abzurasieren, nach Augsburg oder Hamburg zu ziehen, irgendwohin, wo ihn niemand kenne. Ich weiß natürlich nicht, ob er ihren Rat befolgt hat. Mich beschleichen aber Zweifel. Herr R. seinerseits muss mich für ungewöhnlich hässlich halten. Mein Mann hatte mir eines Tages den Brief einer Kollegin vorgelesen. Ich selbst konnte ja nicht lesen, denn meine Augen waren durch die Medikamente zu schlecht. Jedenfalls kam er an die Stelle, an der die Kollegin in etwas schwierig zu entziffernder Schrift schrieb, sie erinnere sich an mich als an einen Menschen »mit starken Wurzeln«. Mein Mann aber las vor: »Ich erinnere mich an dich als an einen Menschen mit starken Warzen.« Als Herr R. entlassen wurde, kamen andere. Manche blieben nur ein paar Stunden, manche ein paar Tage. Gesehen habe ich auch von ihnen keinen. Dafür konnten sie alle sprechen. Einer sagte, er sei völlig gesund, außer dass er Krebs habe, zwei schnarchten so stark, dass ich nachts um Oropax bat; Frau G. brauchte eine Blutwäsche, doch der Dialyseapparat war kaputt und schlug alle drei Minuten sirenengleich Alarm. Ach ja, und da war dann auch noch jener Mann, der auf den schönen Vornamen Candidus hörte und von seiner Frau Candi genannt wurde. A TAWÖRSCHN
Als ich etwa am 20. März aus dem Koma zurück war, lebte ich die ersten Wochen zwischen Tag und Traum, das lag an den vielen Medikamenten. Ich wähnte mich in New York, und was nicht in diese Vorstellung passte, wurde passend gemacht: Das Personal sprach Deutsch? Ist eben eine Dependance von Großhadern in Manhattan. Die Besucher? Sind wegen mir hierher geflogen. Beschlichen mich doch mal Zweifel, schaute ich nur aus dem Fenster. Und tatsächlich, wenn es noch eines Beweises für meine New-York-Theorie bedurfte, hier stand er: ein Wolkenkratzer, noch höher als der, in dem ich lag. In Wahrheit lag ich im Parterre und das Haus draußen war kaum mehr als acht Stockwerke hoch. Nur Kleingeister halten sich mit solchen Nebensächlichkeiten auf. Wurden die Zweifel noch stärker, musste ich bloß die Augen schließen. Ich konnte wochenlang auf Befehl von New York träumen. Glück gehabt, was hätte ich auch sonst tun sollen? Ich hörte und sah immer noch schlecht – also kein Radio, keine Zeitung, keine DVD. Nur ich. Und New York. Ich glaube, die Zeit auf der Intensivstation vergeht so wie ein Zwölf-Stunden-Flug: Man schaltet innerlich auf Stand-by, ist zwar wach, aber die Zeit rieselt ohne Bedeutung. Oft habe ich einfach die Augen zugemacht, das war die einzige Form von Privatheit, die auf einer Intensivstation zu haben ist, weil 24 Stunden am Tag die Zimmertüren geöffnet sein müssen. Irgendwann erkennt man jede Schwester an ihrem Gang. Unter ihnen waren übrigens sehr viele Sachsen. Manchmal dauerte es eine Weile, bis ich sie ganz verstand. Aber ich hatte ja Zeit. Unter den Tabletten, die ich abends bekam, war auch eine namens Tavor. Die Schwester gab sie mir und sagte: »a Ta-wörschn«. Bald begriff ich. Sie meinte eine kleine Tavor, also ein Tavörchen. Wochenlang konnte ich nicht mal schreiben, so blieben nur die Fingersprache und das Flüstern, um mich mitzuteilen. Ich verbrachte viele Stunden damit, in Gedanken lange Sätze kurz zu machen, damit mich die Ärzte und Schwestern verstehen konnten. Bald kapierte ich, dass ich mir Wörter mit vielen Konsonanten suchen musste. »Aua« kann man nicht flüstern, »Schmerzen« dagegen schon; von »Arzt« bleibt beim Flüstern nur »tst«, »Doktor« aber geht. Wobei das so auch nicht ganz stimmt mit den Konsonanten, denn sind sie weich, versteht das auch kein Mensch. Von einem Satz wie: »Mein Mann meint« – bleibt nur: »… t« Man kann aber auch Haare von der Bettdecke, vom Kissen, vom Nachthemd zuppeln oder aus dem Essen fischen. Stundenlang. Kaum ist man fertig, fallen die nächsten aus. Nach vier Monaten verlor ich zum ersten Mal haufenweise welche, nach sechs Monaten zum zweiten Mal. Medikamente und Psychostress im Krankenhaus, sagten mir die Ärzte.
IHRE FRAU VERNEBELT GERADE
Mitte April, die dritte Operation. Der linke Lungenflügel musste entfernt werden, er funktionierte nicht und bot nur einen Nährboden für alle möglichen Keime. Tagelang wägten die Ärzte ab, schließlich barg eine neue Operation viele Risiken und natürlich auch eine hohe Infektionsgefahr. Was man mir erst viel später erzählte: Nachdem mein Mann am Vorabend der Operation mit den Ärzten gesprochen hatte, sagte er zu unserer Tochter: »Die Chance, bei Russisch Roulette zu überleben, ist größer.« Bei der Entfernung eines Lungenflügels stirbt jeder Fünfte. Mein Sohn, zu der Zeit 14, wusste nicht, wie es um mich stand, und die Kollegen meines Mannes auch nicht. Den einen wollte er schützen, die anderen sollten ihn schützen. Ihn im Büro zu fragen: »Geht der Kopierer wieder?« hätten sie sich nie getraut, wenn sie gewusst hätten, welche Sorgen er mit sich rumschleppt. So aber konnte mein Mann tagsüber jenen Hauch von Alltag behalten, der blitzartig mit Verlassen des Büros verschwand. Manchmal, wenn er mich abends besuchte, musste er warten, weil ich gerade inhalierte, im Krankenhaus nennt man das »vernebeln«. Nach der Operation war mir weinerlich zumute. Die Depression brach sich langsam Bahn und sollte mich viele Monate begleiten. Da sagte einmal ein Arzt zu mir: »Seien Sie froh, nach einer Operation am Lungenflügel verlieren viele Patienten auch noch eine Niere.« Es hat mich nicht getröstet.
AM PATIENTEN STEHEN
Was man auf Intensivstationen lernen kann? Zum Beispiel: – Viele haben Angst, einen zu besuchen, weil sie denken, dort herrschen Elend und Tod. Das muss überhaupt nicht sein. Ich lag viele Wochen da, in denen es mir ganz gut ging; ich war zwar schwach, aber fröhlich, solang man mir nicht die Beatmungsmaschine wegnahm und ich selbst atmen musste. Im Lauf des Sommers reduzierte sich auch die Zahl der Schläuche und Kanülen drastisch. Aber ich wurde eben noch beatmet, darum konnte ich nicht verlegt werden »auf Normal-station«, wie man so sagt. – Ruft jemand vom Krankenhauspersonal: »Ich stehe am Patienten«, meint er, er ist unabkömmlich. – Öffnet ein Arzt die Tür der Intensivstation, steht es sehr schlecht um einen Patienten, sodass die Angehörigen informiert werden. Da Besucher auf Intensivstationen klingeln müssen, macht normalerweise eine Schwester die Tür auf. – Im Krankenhaus herrscht striktes Handyverbot, der elektronischen Geräte wegen. Die sind aber wohl ziemlich robust, schließlich kümmern sich Ärzte und Pflege-personal herzlich wenig darum und telefonieren munter.– Der Satz gehört zum Alltag des Patienten: »Jetzt wird es mal ein bisschen kalt am Rücken.« Natürlich bekommt man auch den Rücken eingerieben, doch in Wahrheit wird kontrolliert, ob sich der Patient nicht wund gelegen hat. – Besuch zu bekommen ist überlebenswichtig. Die Besuchszeit ist der Höhepunkt eines jeden einzelnen Tages, der Kontakt mit der normalen Welt. – Niemals zwei Bitten an das Pflegepersonal gleichzeitig äußern: Mit Sicherheit folgt sonst ein Satz von der Qualität: »Nun mal langsam« oder »schön der Reihe nach«. Perfiderweise haben sich viele Schwestern und Pfleger aber eine Art angewöhnt, auf der Hacke kehrtzumachen und aus dem Zimmer zu stürmen, sobald ein Wunsch erfüllt ist, sodass der Patient denken muss: Ach, die hat was vergessen und kommt gleich wieder. Stimmt aber nicht. Es gilt also jenen Moment abzuwarten, in dem die Schwester, die eine Tätigkeit schon beendet hat, dem Patienten aber noch nicht den Rücken zuwendet, um zu gehen. Keine einfache Übung, wenn man nur flüstern kann und nicht hinterherrufen.– Im Krankenhaus sagt man nicht »Auf Wiedersehen«. Nur: »Alles Gute«.– Wer dieses Wissen allerdings anwendet, wird bei seiner Entlassung im Arztbrief wahrscheinlich »Hospitalismus« beschei-nigt bekommen. So wie ich. Und damit ist nicht eine Infektion oder eine frühkindliche Verwahrlosung gemeint, sondern, grob gesagt, übergroße Identifikation mit dem Krankenhaus und seinen Abläufen.
TOBI HAT HINTERGRUND
Wie die Zeit vergeht? Ich weiß es nicht. Am ehesten wie Brei. Oder vielleicht so: Wochenende ist, wenn keine Physiotherapeuten kommen und nicht ein halbes Dutzend Oberärzte rumspringt. Dann vergeht wieder eine Woche. Und dann wieder eine. Ich weiß zwar noch, dass Ende April oder Anfang Mai meine beste Freundin und mein bester Freund aus Hamburg gekommen sind, aber ich weiß nur noch, dass sie einen blauen Pullover trug.
Es gibt zwei Polaroid-Fotos von mir. Auf dem einen steht: 13. April. Da wurde ich zum ersten Mal in die Thekla, also den Reha-Stuhl gesetzt. Vier Mann hoch hievten sie mich vom Bett hinüber. Auf dem zweiten steht »10. Mai« und es zeigt mich im Krankenhauspark am ersten schönen Sonnentag seit Wochen. Eine Schwester und ein Pfleger hatten mich samt Bett hinausgeschoben, damit ich den Frühling schnuppern konnte. Ohne diese Daten hätte ich keine Ahnung, wann das war. Ich habe mir auch oft vorgestellt, ich müsste in einem Film eine Schwester auf einer Intensivstation spielen und deshalb die Handgriffe genau studieren. Sollte mir also eines Tages jemand eine solche Rolle anbieten, ich wäre gewappnet: Ich käme ins Zimmer, zöge von dem Spender an der Tür eine Plastikschürze ab, stülpte mir Gummihandschuhe über – davon gibt es zwei Schachteln in jedem Zimmer –, ginge dann zum Rollwagen, auf dem die Sprühdosen stehen und würde erst mal rumsprühen. Gesprüht wird eigentlich immer, auch die Sagrotanflaschen werden mit Sagrotan aus einer anderen Flasche desinfiziert. Dann heißt es quasi alles wegschmeißen. Jedes Kabel, jede Pinzette, jede Tablette ist einzeln verschweißt, der Hygiene willen, sicher, aber dadurch entstehen Abfallberge von gigantischem Ausmaß. Allein in meinem Zweierzimmer standen acht verschiedene Abfallkörbe, -säcke und -eimer. Bevor ich im Rollenspiel das Zimmer wieder verließe, würde ich noch was rufen von der Art: »Tobi hat heute Hintergrund«, wissend, dass es eh kein Patient kapiert. Aber ich bin ihnen auf die Schliche gekommen. Heute verstehe ich nahezu komplett Intensivstationsdeutsch. »Tobi hat heute Hintergrund« bedeutet, außer dem Stationsarzt ist für kritische Fragen auch noch ein Oberarzt erreichbar, abends und am Wochenende per Handy. Und weil sich alle duzen, heißt der Arzt eben Tobi. Für den Patienten ist das weniger geschickt, er kann ja schlecht »Doktor Tobi« sagen. Meine Welt sah so aus: Oben die weiße Decke, links eine sekundengenaue Uhr, rechts die Milchglasscheibe, die an ihrem oberen Rand den Blick zum Himmel freigab. Das Stückchen Himmel, mein Kontakt zur Welt da draußen, konnte ich vom Bett aus zwischen Daumen und Zeigefinger abmessen, es ergab so vier, fünf Zentimeter. Das hab ich oft gemacht. So ging der Frühling vorbei und der Sommer auch.
SCHLÜPPI UND STUHLI
Allmählich, im Mai, im Juni, ging es mir besser. Ich bekam sogar eine Klingel, konnte wieder schlucken, biss mir beim Essen nicht mehr auf die Zunge, meine Finger und Arme ließen sich wieder bewegen, sodass ich mit Hilfe einer Buchstabentafel Wörter und Sätze eindeutig formulieren konnte. Und als ich endlich auch besser hörte, ließ ich mir ein Radio bringen, um die Fußball-WM verfolgen zu können. Ein Arzt trug an jedem Tag, an dem Deutschland spielte, über seiner weißen Arzthose das weiße Nationaltrikot. Als ich ihm deswegen zulachte, sagte er: »Ich trage es so lange, bis sich einer beschwert.« Es hat sich aber keiner beschwert. Irgendwann zu der Zeit habe ich wohl mal gescherzt, ich erinnere mich nicht genau. Jedenfalls sagte ein anderer Arzt da zu mir: »Sie haben ja noch gar keine Ahnung, wie schwer es ist, wieder gesund zu werden.« Ich wusste nicht recht, wovon er sprach. Ich hatte keine körperlichen Gebrechen mehr, ich lag im Bett, bekam Medikamente, war schwach und musste eben warten, bis es mir wieder besser ging. Wie immer, wenn man krank ist, dachte ich. Die Wahrheit ist: Ich hatte wirklich keine Ahnung. Jeder noch so winzige Fortschritt kostete Wochen, war ein immerwährender Kampf mit meinem Kopf und meinem Körper. Zwei Monate mindestens hat es gedauert, bis ich wenigstens wieder die Beine anwinkeln konnte, noch mal so lang, bis ich die zehn Meter von meinem Zimmer zum Ärztezimmer gehen konnte. Unendlich langsam, links stützte mich eine Physiotherapeutin, rechts eine Schwester, vorn klammerte ich mich an einen Gehwagen. Zurück im Bett schlief ich erst mal stundenlang ob der Anstrengung. Dann kam die Depression dazu, die Verzweiflung darüber, woher ich die Kraft nehmen sollte, um nicht aufzugeben. Ich weiß bis heute nicht, wie es gegangen ist: Ich war so schwach und musste trotzdem jeden Tag aufs Neue die Kraft aus mir selbst schöpfen. Oft habe ich geheult, was die Tränen hergaben. Und sie gaben eine Menge her, schon mangels anderer Möglichkeiten, mich zu äußern. Und wehe, es wurde drei und die Besuchszeit begann, und um fünf nach drei war noch kein Besuch bei mir. Dann musste ich wieder fürchterlich weinen, weil ich mir sicher war: Jetzt haben sie mich vergessen. Frei von Selbstmitleid war ich nicht. Oft sagten die Schwestern, ich solle mir das, was ich mir am meisten wünsche, ganz fest vorstellen, das gebe Kraft. Mein größter Wunsch war, mein kleines Leben wieder zurückzukriegen: Morgens in die Redaktion gehen, abends nicht wissen, was ich kochen soll, mal ins Kino, mal eine Woche in Urlaub, mehr wollte ich nicht, vielleicht weil es um viel mehr ja auch nicht geht. Mein zweitgrößter Wunsch war, dass mir niemand mehr meinen Hintern abputzen muss. Ich freute mich ehrlich auch auf den Tag, an dem niemand mehr zum Stuhlgang »Stuhli« und zur Unterhose »Schlüppi« sagen würde. Viele meinten, ich würde ein anderer Mensch, wenn ich die Krankheit überwunden habe – demütiger, gelassener, geduldiger. Darauf habe ich mich sehr gefreut, denn genau diese Eigenschaften fehlen mir. Bis jetzt merke ich jedoch nicht viel von ihnen.
PFLEGE VON RECHTS
Dass man als Patient im Krankenhaus nur noch wie eine Nummer behandelt wird, kann ich nicht unterschreiben. Die Ärzte und Pfleger haben sich für mich, mit Verlaub, den Arsch aufgerissen. Nicht immer alle, aber die meisten meistens. Als ich knapp am Tod vorbeischrappte, stand 24 Stunden einer von ihnen an meinem Bett, manchmal zwei. Selbst wenn einer nur aufs Klo musste, hat er Ersatz geholt. Ich war so aufgequollen und aufgedunsen und hatte so viele Schläuche, Nadeln und Kanülen in meinem Körper, dass meine Tochter einmal bei 49 aufgehört hat zu zählen. Manchmal wusste keiner mehr, wo er hinstechen sollte, um mir noch ein Medikament zu injizieren. Weil ich wegen des Lärms, des ständigen Kommens und Gehens für andere Patienten unzumutbar gewesen wäre, legte man mich allein; um mich herum eine Armada an Maschinen, an aufgehängten Flaschen, Monitoren, Beatmungsgeräten, Urinbeuteln. Jeden Tag ab 15 Uhr saß meine Tochter an meinem Bett, außer ihr durfte mich nur noch mein Mann besuchen. Mein Anblick war so furchterregend, dass sie nicht wollten, dass mich jemand anderer sah.
Schwester oder Pfleger zu sein ist ein Knochenjob. Nachtschichten, Wochenendschichten, 100-Kilo-Menschen auf den Rücken rollen oder in einen Stuhl wuchten, Hintern abputzen, Zehennägel schneiden; nicht gut bezahlt, soziales Ansehen deutlich unter dem der Ärzte. Vielleicht wechseln deshalb viele Pfleger häufig die Stelle, vielleicht sind deshalb viele ziemlich dick – das Frustpotenzial ist groß. Einmal, als wir im Park waren, es war vielleicht Juli, da erzählte mir eine Schwester, sie sei von der Krebs- auf die Intensivstation gewechselt, weil sie es nicht mehr ertrug, dass quasi monatlich Freunde von ihr starben. Denn auf einer Krebsstation kommen und gehen die Patienten oftmals über Jahre, man fühlt und hofft und leidet mit ihnen. Und manchmal eben sterben sie. Es wäre wohl alles ziemlich gut auf einer Krankenstation, würde dieses ewige Eltern-Kind-Verhalten zwischen Pflegern und Patienten mal aufhören. Aber vielleicht geht das ja gar nicht. Wie oft lag ich jämmerlich in meinem Bett, angewiesen auf Hilfe, häufig weinend, und musste mir Sätze anhören wie »Solange Sie so rumfuchteln können, kann es Ihnen nicht sehr schlecht gehen«. Oder »Im Leben draußen müssen Sie sich ja auch zusammenreißen«. Ich dachte mir immer: Wenn hier einer das Leben erklärt, dann ich, ich könnte deine Mutter sein. Die meisten waren schließlich blutjung. Aber ich konnte es eben nur denken – reden ging ja nicht. Ja, sie belehren einen schon gern: Als mir ein Pfleger den Rücken einreiben wollte, bat ich ihn, mich auf die rechte Seite drehen zu dürfen. Er ging auf die linke Seite des Bettes und sagte: »Ausnahmsweise, denn ich pflege normalerweise von rechts.« Ob man selbst in diesem Job auch so würde?
FEUCHTE NASE
Die Angst war das Schlimmste. Nicht die Angst zu sterben, die hatte ich merkwürdigerweise nie. Ich meine die Angst, selbstständig und ohne Atemmaschine atmen zu müssen. Die wurde alles beherrschend und übermächtig groß, Panikattacken schüttelten mich. Ich musste von der Maschine entwöhnt werden, jeden Tag ein paar Minuten mehr, das verstand ich. Ich verstand ohnehin eine Menge, nur: Es nützte mir nichts. Selbst der Blick auf den Monitor, der eine hundertprozentige Sauerstoffsättigung anzeigte, beruhigte mich oft nicht. Kann man einer Maschine vertrauen? Als das Selbstverständliche, nämlich automatisch zu atmen, nicht mehr selbstverständlich war, kam die Angst. Dann kam die Angst vor der Angst. Manchmal beherrschte sie meinen ganzen Tag. Ich war abhängig von der Atemmaschine. Ich wollte nicht mit dieser »Feuchten Nase« atmen, diesem Aufsatz, den man mir auf die Kanüle im Hals gesteckt hatte, ich wollte an die Maschine. Die gab mir Ruhe und Sicherheit. Wenn jemals in meinem Leben zehn Minuten, 20, 40 Minuten lang gedauert haben, dann da. Die Ärzte, die Pfleger legten sich wirklich unglaublich ins Zeug, schoben mich mit dem Rollstuhl stundenlang durch den Krankenhauspark, um mich abzulenken, es war ja inzwischen Hochsommer, und ins Café, stellten mir einen Psychiater ans Bett, verbrachten ganze Nächte neben mir, um mich zu beruhigen. Das ging sehr lang so. Und nur allmählich wurde es besser. Als es fast gut war, im August, als ich acht Tage am Stück ohne Atemmaschine aushielt, nähten die Ärzte das Loch in meinem Hals zu. Am nächsten Tag kam der Rückfall, eine Lungenentzündung. Da machten sie das Loch wieder auf, ich musste wieder an die Maschine. Und mich dann wieder entwöhnen. Aber die Angst ist seither nicht mehr gekommen. Und die Angst vor der Angst hat ihren Schrecken verloren. Ich bin jetzt seit zwei Monaten zu Hause. Ich habe ein großes Stück von meinem kleinen Leben wieder. Bin zwar noch dünn wie Kate Moss und habe noch das Loch im Hals, aber das wird, wenn alles klappt, im Januar zugemacht. Dann wäre ich wieder ganz gesund. Fast ein Wunder.