Zuhause: ein Einfamilienhaus in Hannover-Isernhagen
Schule: Integrierte Gesamtschule Langenhagen
Eltern: Diplomingenieur, Psychologische Beraterin und Autorin
Geschwister: zwei Brüder, eine Schwester
Taschengeld: 3 Euro/Woche
Berufswunsch: irgendetwas mit Musikanlagen
Lieblingsessen: Pizza mit Spaghetti drauf
Lieblingsstar: der Skateboarder Tony Hawk
Größter Wunsch: gut skaten können
Sommerferien: Zelten in Oberbayern
Die Haare hat Jasper zu einem Irokesen gekämmt, an den Füßen trägt er zu große Sneakers, an der weiten Jeans baumelt eine silberne Kette. Ziemlich »cool« sieht er aus. So einer zieht auf dem Pausenhof schon mal einem anderen Jungen die Hosen runter und schlurft lässig weiter.
Kürzlich aber ist Jasper nicht weitergeschlurft und war total unlässig. Er schämte sich, bekam plötzlich ein schlechtes Gewissen. Obwohl der andere dastand wie ein Idiot, fühlte sich Jasper auf einmal selbst wie einer. »Ich glaube, ich habe Mist gebaut«, beichtete er noch am Abend seiner Familie. »Dann entschuldige dich«, riet ihm der Vater. Am nächsten Morgen bat Jasper den Jungen um Verzeihung.
Uncool sein, wenn es drauf ankommt, das kann Jasper. In seinem CD-Ständer klemmt nicht nur Inferno von Motörhead, sondern auch Mensch von Herbert Grönemeyer. Jasper holt Kuchen für die Familie beim Bäcker, bügelt seine Hemden und putzt das Klo. Außerdem fährt er Prospekte aus, um Geld für Süßigkeiten oder ein neues Skateboard zu verdienen. Er empfindet den Job zwar als »Belastung«, aber er weiß, das Geld ist knapp, sein Vater arbeitslos. Deswegen fragt er neugierig nach dem Preis, wenn jemand aus der Familie neue Schuhe anhat.
Die Jumpbox in Hannover-Langenhagen gehört zu Jaspers Revier. Auf dem Gelände übt er seine Tricks auf dem Skateboard. Die Älteren kommen lieber zum Kiffen und Saufen hierher. Kein angenehmes Pflaster. Neulich wurde ein Junge mit Benzin übergossen und angezündet. »Das hätte auch ich sein können«, sagt Jasper leise. Er ziert sich nicht, Gefühle zu zeigen, über seine Gedanken zu reden. Vielleicht liegt das an seinem Zuhause, da gibt es keine Tabus, da wird über alles gesprochen: Drogen, Geld, Liebe, Tod. Jasper kann mit jedem Problem ankommen, nur Ehrlichkeit verlangt die Familie. Seinen Vater umarmt er ohne Scham, auch wenn Fremde dabei sind, den riesigen Berner Sennenhund Schröder küsst er zärtlich auf die Stirn.
Gerade herrscht große Aufregung wegen des nächsten Urlaubs: Zelten in Bayern mit der Familie. Öde? Überhaupt nicht, Jasper freut sich wie ein kleines Kind.
Die Osbournes auf MTV mag er zwar, »weil die so eine chaotische Familie sind«, aber im wirklichen Leben hat Jasper von Chaos erst mal die Nase voll: Jasper war sechs und wohnte in Holzkirchen bei München, da verließ ihn seine Mutter. Die Ehe der Eltern funktionierte einfach nicht mehr. Also machten sein Vater, sein großer Bruder und er vier Jahre einen auf Männer-WG. »Wir Männer waren unter uns und es gab keine Frau, die was anderes wollte«, erzählt er. Weil sein Vater die Jungs aber nicht »mit unter die Brücke« nehmen wollte, als seine Netzwerkfirma den Bach runter ging, schickte er sie nach Mainz zu ihrer Mutter. Die lebte dort inzwischen mit »so einem Typen in Anzügen zusammen, der klassische Musik hört«. Eine schreckliche Zeit: Jasper wurde mit zu kurzen Hosen zur Schule geschickt, schämte sich fürchterlich und vermisste seinen Vater. Nach zehn Monaten klärte ein Gericht das Sorgerecht: Jasper und sein Bruder wollten zu ihrem Vater und zogen erst zu ihm nach München, dann mit ihm nach Hannover. Dort lebte Frauke, Papas neue Freundin, die der beim Chatten im Internet kennen gelernt hatte. Außerdem Nils, Nicky und Nino, Fraukes Kinder, die ihren Vater bei einen Motorradunfall verloren hatten.
Frauke, zu der Jasper längst »Mama« sagt, kaufte ihm erst mal neue Klamotten – er hatte ja nur drei Hosen und fünf T-Shirts. Dafür war Jasper sehr dankbar. Er ist nämlich eitel, steht jeden Morgen eine halbe Stunde vor dem Kleiderschrank.
Noch dankbarer aber war er für Nino. Der ist nur ein paar Monate jünger, dafür einen Kopf kleiner und viel ruhiger. Und weil Jasper erst mal alle Spielsachen von Nino angrabschte, fand der ihn zwar »unerzogen«, aber trotzdem sympathisch. Die beiden verstanden sich. Gemeinsam drohten sie Frauke und Jaspers' Vater: »Wenn ihr kein Paar bleibt, wandern wir aus und ziehen gemeinsam auf eine Berghütte.« Die beiden blieben ein Paar, doch dann geschah eine Tragödie.
Im Juni 2003 warf sich Fraukes älterer Sohn, der 19-jährige Nils, vor die Straßenbahn. »Ich hab nur geheult«, erzählt Jasper. »Immer mussten wir in unserem Zimmer bleiben und alle haben geschwiegen.« Es war plötzlich so ruhig im Haus, die laute Musik, die Nils immer hörte, fehlte. Jasper und Nino saßen die Wochen gemeinsam aus.
Heute fühlen sie sich als Freunde und Brüder. »Nino ist immer für mich da«, sagt Jasper. Er liebt den »kleinen Bruder«, das zeigt er jedem und er findet ihn sogar viel erwachsener als sich selbst: »Ich will immer Spaß haben, Nino braucht auch mal Ruhephasen.«
Die beiden teilen sich ein Zimmer. Die Betten stehen Kopf an Kopf, dazwischen hängt ein Vorhang. Jasper schläft auf der roten Seite, Nino auf der blauen. Den Vorhang machen sie zu, wenn sie ihre Ruhe haben wollen. Schwierig bleibt es trotzdem. »Wenn der eine HipHop und der andere Rock hören will.«
Freunde der Familie fragen manchmal: »Wie können diese beiden Jungs überhaupt noch lachen, nach allem, was sie durchgemacht haben?« Komische Frage. Sie lachen – weil sie sich gefunden haben. »Wenn ich zurückblicke«, sagt Jasper, »bin ich froh, dass alles so gekommen ist.« Jetzt kann es richtig losgehen.
Foto: Konrad R. Müller