Die letzte Auschwitz-Nummer

Viele aus Gal Wertmans Familie wurden von den Nazis ermordet. Doch seine Tätowierung sollte auch für die vielen anderen Schicksale stehen.
Foto: Heather Sten
Als ich aufhöre zu sprechen, vergräbt Gal Wertman sein Gesicht in den Händen. So sitzt er da, minutenlang. Als hätte der Schreck ihn versteinert.
»Hätte ich es dir nicht sagen sollen?«, frage ich. Wertman sieht auf. Sein Blick ist leer. Es wirkt, als hätte der 52-jährige Mann vergessen, wer er ist.
Ich kenne Gal Wertman seit sieben Jahren. Das heißt, eigentlich kenne ich ihn nicht wirklich. Bevor wir uns im Juni 2019 zum ersten Mal treffen, habe ich nur
Ich lebte damals in Jerusalem und schrieb einen Artikel über die Enkel von Holocaust-Überlebenden. Zu jener Zeit gab es in Israel einen Trend: Junge Juden ließen sich die
Ich fand das befremdlich. Doch je mehr Interviews ich führte, desto besser verstand ich die Beweggründe der jungen Israelis. Die Enkel wollten, dass das Leid ihrer Großeltern niemals
Wertman war damals Kreativdirektor bei Haaretz, einer der größten Tageszeitungen in Israel. Und er war Künstler, so wie er es heute noch ist. In einem Artikel über Wertman las ich, er sei der Sohn von Holocaust-Überlebenden und habe sich zum Gedenken an seine Familie eine Ziffernfolge tätowieren lassen. Aber Wertman wählte nicht die Registrierungsnummer seiner Eltern oder Großeltern, sondern eine symbolische Zahl: Vor etwa 17 Jahren ließ er sich die letzte Nummer stechen, die im Konzentrationslager Auschwitz tätowiert wurde. Die Zahl auf Wertmans Arm lautet 202499. Sie wurde am 18. Januar 1945 gestochen, neun Tage bevor die Rote Armee das Lager befreite.
Als ich Wertman 2012 anrief, erzählte er, er habe mit der Nummer an alle ermordeten Juden erinnern wollen. Die Tätowierung sollte ein Symbol sein für den Schmerz, den
Doch Wertman wollte nicht öffentlich über seine Nummer sprechen. Ein paar Tage nach unserem Telefonat sagte er mir ab. Die Tätowierung sei eine private Entscheidung gewesen und gehöre
Wertman hatte sich die letzte Auschwitz-Nummer stechen lassen, ohne zu wissen, wem sie gehörte. An Wertmans Stelle hätte ich alles getan, um herauszufinden, wessen Nummer ich durch mein
Der Holocaust ist ein Völkermord ohne historischen Vergleich. Die Juden sollten ausgerottet werden: Das Ziel der Nazis war, dass Gal Wertman und ich nie geboren werden. Es gelang
Wie gedenkt man eines solchen Ereignisses? Wie kann man verhindern, dass es sich wiederholt? Darüber herrscht Uneinigkeit, auch unter Juden. Einige plädieren dafür, sich möglichst viel mit den
Mein Artikel über die Tätowierungen der Holocaust-Enkel erschien 2013. Gal Wertman tauchte nicht darin auf. Ich verließ Israel und zog nach Berlin. Ich hatte kaum jüdische Freunde, die
Aber das Telefonat mit Gal Wertman ließ mich nicht los. Immer wieder kam mir die Nummer in den Sinn, die er auf seinem Arm trägt. »Man muss die
Im Juni 2017, fünf Jahre nach unserem ersten und bis dahin einzigen Gespräch, setze ich eine E-Mail an Wertman auf. Ich schreibe, dass mich die Erinnerung an die
Was wurde aus diesem Menschen? Ist er tot? Oder gibt es zwei Personen, auf deren Armen die Zahl 202499 prangt – einen Holocaust-Überlebenden und Wertman?
Ich schreibe Wertman:
Gal Wertman ist
Bis er ein
Wertmans Großeltern, sein
Wertman sagt, er
Als Wertmans Großmutter
All das weiß
»Vielleicht«, schreibt er
Ich habe nicht
Ich stelle eine
Dieser Umstand führt
Der International Tracing
M., erfahre ich,
Wie wird Wertman
Wochen vergehen. Wertman
Ich bitte Wertman
Auch ich habe
Warum bringt man
Wenn der Holocaust
Wertmans Familie starb
Wertmans Großmutter entkam
Das Bild verfolgte
Wertman begann, sich
Wertmans Großeltern haben
Erst in den
Mir, die in
Gal Wertmans leise
Ich frage Historiker,
Eines Abends stoße
Etwa 15 Jahre
Wertman wollte etwas
Irgendwann um die
Ich wende mich
Ich mache M.s
Spätestens zu diesem
Warum kam M.
Dann stoße ich auf das Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, ein Buch der polnischen Historikerin Danuta Czech. Es umfasst mehr als tausend Seiten und beschreibt detailliert, was in Auschwitz an jedem Tag seiner Existenz geschah. Auf Seite 969 ist M.s Ankunft erwähnt. »Er erhält die Nummer 202499. Es ist die letzte Nummer, die im KL Auschwitz an einen Häftling ausgegeben wird.«
Zu diesem Satz
Ich frage mich:
202499. Gal Wertman
Mehrere Wochen lang
Doch in einem
Wertman erinnert sich,
»Es war, als
Wertman hatte die
»Dieser Häftling wird
Oskar Dirlewanger war
Anders als die
M., lese ich
Die Nummer 202499,
Eine jüdische Weisheit
Gal Wertman wurde
»Erzähl es ihm
Ich versuche, mehr
Die Informationen sind
Das wurde M.
Und noch etwas
Nach dem Kriegsende
M. wurde nach
Am liebsten würde
Irgendwann beschließe ich:
Im Mai 2019,
Wertman ist inzwischen
Im Juni 2019
Es kommt mir
New Jersey sieht
An Wertmans Türpfosten
Wertman öffnet die
Er sieht älter
Wenn er mutlos
Doch die Vergangenheit
Als ich ein
Wertman sagt, dass
Während Wertman Kaffee
An den Wänden
»Fangen wir an?«,
Wir setzen uns
Dann beginne ich
Dann ziehe ich
Ich zeige Wertman
»Die Nummer auf deinem Arm gehörte jemandem, der wohl bei der SS war«, sage ich. »Es tut mir leid.«
Wertman senkt den Kopf, ich höre ihn nach Luft ringen. Minuten vergehen, ohne dass er sich rührt.
»Wie lange war er in dieser Einheit?«, fragt Wertman schließlich.
»Einige Monate«, sage ich.
»Was hat er dort getan?«
Ich schlucke. »Ich weiß es nicht.«
Wertman schließt die
Irgendwann stehe ich
Im Hotel werfe
Ich träume, wie
Am nächsten Morgen
Ich fahre noch
Nachdem ich fort
»Er war auch
Wertman erzählt, er
Aber für mich
Erinnerung ist wichtig.
Ich will keinen
Bei meinem Besuch
Wertman wollte mit
Ich kenne die
Dieser Text erschien erstmals im SZ Magazin 35/2019