Die Dose Bohnen auf dem Tisch ist laut Aufdruck haltbar bis Oktober 2016. Oktober, da ist der Sommer wieder rum, ich habe noch mehr weiße Haare im Bart, meine Tochter ist schon in der Schule. Wie das wohl wird? Auf dem U-Bahnsteig ein Plakat: Am 24.5.2017 tritt DJ Bobo in der Münchner Olympiahalle auf. Das Konzert interessiert mich nicht, aber das Datum, noch fast ein Jahr hin – was in der Zeit wohl passieren wird? Werden die Menschen gesund bleiben, die ich mag? Werde ich tatsächlich mal ein Houellebecq-Buch zu Ende lesen? In der SZ ein Hinweis auf die Fußball-WM in Russland, Anpfiff 14. Juni 2018. Schau an, das ist ein Tag vor meinem, uff, acht-und-vier-zig-sten Geburtstag, wie kann man denn bitte so alt sein, werde ich da noch aufrecht stehen können?
Wo ich auch hinsehe, ich werde ständig mit der Zukunft konfrontiert. Mein Alltag ist voll mit Datumsangaben, bei denen ich sofort anfange zu rechnen. Ich lese, dass im Mai 2019 die nächste Europawahl stattfindet, und überschlage im Kopf, wie alt meine Kinder dann sein werden. Ich stolpere über die Meldung, dass die Stadt Barcelona bis 2026 allen Ernstes die Sagrada Família fertig bauen will (100. Todesjahr von Antoni Gaudí), und frage mich, mit was für Smartphones wir in dem Jahr wohl fotografieren werden, gibt es dann schon welche mit Holografie, kann ich nach dem Urlaub in meinem Wohnzimmer um die Kirche rumgehen?
Jede Datumsanzeige ist wie eine kurze Zeitreise, ein Blick in die Zukunft. Schon klar, ich weiß dadurch nichts Konkreteres darüber, wie mein Leben weitergeht, aber wenn ich so ein Datum lese, ist zumindest ein Partikelchen dieser unbekannten Zukunft greifbar. Das Datum. Diese Zahlen stehen schon mal fest. Es wird den 4. März 2034 geben. Ich kann mir dieses Datum ansehen, ich kann es in Bezug zu mir setzen, zu meinem Geburtsjahr, zum jetzigen Jahr, ich kann mir überlegen, wie viele Legislaturperioden bis dahin vergehen, ob es mich selbst an diesem Datum noch geben wird, ob die Welt in Krieg versunken ist, ob der Klimawandel schon halbe Kontinente hat untergehen lassen. Oder andersrum: Ich kann mich fragen, wie alt heute der Mensch ist, der in dieser Zukunft, sagen wir, US-Präsident sein wird. Oder Papst. Oder auf Platz eins der Charts. Das Datum allein verrät mir nichts, aber es gaukelt mir vor: Die Zukunft ist benennbar, wir schreiben ihren Namen hierhin, auf das Plakat, die Reispackung, den Verbandskasten, und jetzt überleg du dir, wie sie aussehen könnte.
Seit der Mensch denken kann, will er wissen, was auf ihn zukommt. Und seit der Mensch sich Geschichten ausdenkt, handeln die regelmäßig von der Zukunft. H. G. Wells schickt seinen namenlosen Helden per Zeitmaschine in ein trostlos graues Jahr 802701, Marty McFly muss in die Zukunft reisen, um von dort aus die Vergangenheit und die Gegenwart und überhaupt alles zu retten, George Orwell und Aldous Huxley haben erschreckende Versionen der Zukunft beschrieben (die natürlich eigentlich zeigen sollten, wie viel in der Gegenwart falsch läuft).
Dank Albert Einstein und der Relativitätstheorie glauben Leute, dass Zeitreisen möglich sein könnten (die Nebentheorie, um die es da geht, heißt Zeitdilatation, man muss mit einem sehr schnellen Raumschiff sehr weit weg fliegen, und währenddessen vergeht auf der Erde mehr Zeit; den Rest bitte nachlesen, es ist schrecklich kompliziert). Und ausgerechnet Einstein selber erklärte: »Ich denke niemals an die Zukunft. Sie kommt früh genug.« Jajaja. Sehr vernünftig. Aber der Mensch will es nun mal wissen: Was kommt? Was wird? Que sera, sera? Der Publizist Robert Jungk schrieb: »Das Morgen ist schon im Heute vorhanden (…). Die Zukunft (…) hat schon begonnen. Aber noch kann sie, wenn rechtzeitig erkannt, verändert werden.«
Morgen, morgen, nur nicht heute: Manchmal macht es den Menschen, das vernunftbegabte Tier, geradezu wahnsinnig, dass er nicht weiß, was kommt. In der Wirtschaft gibt es so lustige Ressorts wie das »Zukunftsmanagement«, an den Universitäten widmen sich Optimisten der »Zukunftsforschung«. Und was bringts? Der Mensch steckt sein Geld in Aktien, ohne zu wissen, ob es gut geht; setzt Kinder in die Welt, ohne zu wissen, ob das in dieser Welt eine so gute Idee ist; bucht Urlaube fürs übernächste Jahr, ohne zu wissen, ob er den nächsten Tag noch erlebt. Der Mensch plant und beabsichtigt und will – und weiß doch nie, ob es so kommt, wie er sich das vorstellt. Lustige kleine Wesen, diese ratlosen Menschen.
Der Blick aufs Datum ermöglicht, zumindest für einen ganz kurzen Augenblick, die Illusion, man sähe in die Zukunft. Und manchmal, ganz selten, sieht man dabei ja auch etwas, was feststeht. Vor einiger Zeit teilten auf Facebook sehr viele Leute mit, sie würden an der Veranstaltung »Totale Sonnenfins-ternis« teilnehmen. Termin: 3. September 2081. Unterzeile: »Mal sehen, wer noch dabei ist.« Das wäre drei Monate nach meinem 111. Geburtstag. So viel weiß ich über die Zukunft: Ich werde verhindert sein. Oder?
Illustration: Benedikt Kaltenborn