Am Ende, als er sich abwendet von diesem Staat, legt er die Wohnungsschlüssel in einen Umschlag, klebt ihn zu, wirft ihn in den Briefkasten und geht. »So einfach geht das«, sagt er. Das sind seine letzten Worte in dieser Beziehung. Er sagt sie zu sich selbst, weil er den anderen nichts mehr zu sagen hat. Es war ein Prozess, eine langsame Entfremdung. Es gab Diskussionen, Auseinandersetzungen, Briefe wurden geschrieben, Forderungen gestellt, es wurde laut. Aber am Ende ist er ganz ruhig, befreit irgendwie.
An einem warmen Sonntag im Mai 2010 steigt Andreas Läufer in einem Hinterhof in Berlin auf sein Mofa und fährt davon. Er überquert keine Grenze, er bleibt in Deutschland. Aber die Bundesrepublik lässt er hinter sich. Er verlässt sie über die Karl-Marx-Straße, im Kopf ein paar eigene Gedanken zu Staat und Kapital.
Er zieht sein Kapital hinter sich her, in einem selbst gebauten Anhänger, auf dessen Rückseite, neben einem Totenkopf, »Hell on wheels« steht. Es gibt nicht viel außer dieser Kiste und dem silbernen Phoenix an seinem Hals, woran Läufer hängt. Der Staat gehört nicht mehr dazu, den hat er abgeworfen.
Als Läufer nach Berlin kam, hatte er einen Traum. Er hatte die längste Zeit seines Lebens Gerüste gebaut und Strukturen geschaffen, auf denen andere aufbauten. Doch er trug eine Lücke in seinem Lebenslauf mit sich herum. Er hatte seine Ausbildung nicht abgeschlossen und glaubte, er bräuchte kein Zertifikat seiner Talente. In diesem Punkt unterschätzte er Deutschland, und er fand in der Arbeitswelt nie seinen Platz. Ihm fehlte das Gerüst seines Lebens.
In Berlin wollte er etwas bauen, was bleibt. Er hatte keine große, visionäre Idee, doch er glaubte, dass sein Plan gut in die mobile Stadt der Zukunft passte. Er wollte am Ostbahnhof eine Fahrradwerkstatt gründen, aber nicht irgendeine. Er wollte sich auf Cruiser spezialisieren, feinstaubfreie Straßenkreuzer für nachhaltige Stadtmenschen.
Man muss Läufer betrachten und zurückgehen in dessen Leben, um zu verstehen, woher diese Idee kommt. Er ist ein groß gewachsener, sehniger Mann mit gasflammenblauen Augen, langen blonden Haaren, einem nicht ganz so langen Bart und einer Totenkopf-Tätowierung, die er sich in den Arm stach. Er trägt gern Lederwesten und mag metallische Musik, doch für ein Motorrad fehlte ihm immer das Geld.
Cruiser kommen für Läufer gleich danach, und er glaubte, dass er für seine Werkstatt alles durchdacht hatte – den Standort, das Unternehmensprofil, den Geschäftsplan. Eine neue Zeit sollte beginnen in Berlin. Es war eine Heimkehr in die Stadt, in der er geboren wurde. Ein West-Berliner, der am Ostbahnhof seinen Traum verwirklicht. Es klang nach einer schönen deutschen Geschichte.
Die Geschichte beginnt mit einem Glücksfall der Bürokratie. Auf seiner Suche nach Unterstützung landet Läufer im Jobcenter Neukölln. Die Kunden werden dort nach Buchstaben gebündelt, das führt ihn zu Arbeitsvermittler Helmuth Pohren-Hartmann, zuständig für »La« bis »Le«. Pohren-Hartmann ist so, wie man Läufers perfekten Berater klonen würde. Ein Mann, der genau hinsieht und zuhört, frei von Sachbearbeiterignoranz und Dienst-nach-Vorschrift-Symptomen. Der gelernte Großhandelskaufmann wuchs in prekären Verhältnissen auf, hat eine Vergangenheit als Arbeitsloser und eine stille Wertschätzung für Unangepasste.
Als Läufer zum ersten Mal Pohren-Hartmanns Büro betritt und seine Idee präsentiert, zeigt er ihm Fotos von Cruiser-Fahrrädern und Werkzeugen für deren Reparatur. Den Arbeitsvermittler beeindruckt Läufers Detailwissen und dessen Entschlossenheit, seinen Plan zu verwirklichen. »Er ist aus dem Rahmen gefallen im Vergleich zu dem, was wir hier sonst haben«, sagt Pohren-Hartmann. »Er hatte eine Mission.«
Läufer ist zu diesem Zeitpunkt gerade von Düsseldorf nach Berlin gezogen und wohnt in einer Unterkunft für Obdachlose. »Will dort schnell wieder raus«, notiert Pohren-Hartmann in der Kundenakte. Viele Sätze in dieser Akte erzählen von Läufers Willen. Sie stehen in den »Historieneinträgen«, und sie klingen, als könnte Kundennummer 419A300737 die Chiffre einer Erfolgshistorie werden.
Läufer beginnt unmittelbar nach seiner Ankunft als Tagelöhner zu arbeiten. Als Hartz-IV-Empfänger könnte er seine Versorgung dem Staat überlassen und auf die Bearbeitung seiner Anträge warten, aber er erscheint jeden Morgen um vier in der Jobvermittlung Neukölln und lehnt kein Angebot ab. Trägt Bauschutt durch Treppenhäuser, hebt Gräben aus, entrümpelt Garagen, verlegt Pflastersteine, schneidet Hecken, kratzt Pilz aus verschimmelten Wohnungen. »Und dann wurde er krank«, erinnert sich Pohren-Hartmann, »und sagte: Ist egal, ich arbeite trotzdem.«
Pohren-Hartmann berät etwa 450 Kunden bei der Suche nach Arbeit. Er kann sich in den Gesprächen mit ihnen nicht mehr als eine halbe Stunde Zeit nehmen, wenn er im Dickicht seiner Aufgaben nicht die Orientierung verlieren will. Die meisten Gesichter verblassen in seiner Erinnerung, aber die Begegnungen mit Läufer kann er mit der Präzision eines Stenografen beschreiben. Er erzählt von ihnen in schlanken, analytischen Sätzen, in denen Läufer eine Figur ist, die einen langen Schatten warf auf den Jobcenterfluren. »Ich muss Ihnen sagen: Ich fand ihn toll.«
Läufer erkennt das nicht. Er ist fixiert auf seinen Traum von der eigenen Werkstatt, und ihm gehen die Dinge zu langsam. Pohren-Hartmann will ihm helfen, doch er hält es für den klügeren Weg, ihn zuerst zum Zweiradmechaniker umzuschulen. Er kennt den Wert der Zertifikate. »Wir sind ein Scheinland«, sagt er. »Sie müssen hier für alles Scheine haben.«
Läufer hat das verinnerlicht. Wichtige Dokumente archiviert er in einem Ringordner mit Klarsichthüllen. Bevor er sie dort abheftet, thematisch und chronologisch geordnet, scannt er sie und speichert eine Sicherungskopie auf einer externen Festplatte. Die Festplatte verwahrt er in einem kleinen, mit Schaumstoff ausgelegten Aluminiumkoffer. Er ist ein guter Buchhalter seines Lebens.
Den Wert, den ein Zweiradmechaniker-Zertifikat in seiner Dokumentensammlung hätte, unterschätzt er. Die Umschulung würde ungefähr 10 000 Euro kosten. Pohren-Hartmann sieht sie als erste Phase eines Drei-Stufen-Plans, an dessen Ende die Selbstständigkeit steht. In der zweiten Phase will er Läufer in der Werkstatt eines anderen an das Ziel heranführen. Es ist der gründliche deutsche Weg. »Ich kann ja alles nur im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten tun«, sagt er, und aus diesem Rahmen fällt Läufer heraus. Er ist 49. »Das ist bei uns schon alt«, sagt Pohren-Hartmann. »Leider.«
Es verletzt Läufer, dass er, gemessen mit den Schablonen der Bürokratie, die Norm nicht erfüllt. Im Mittelpunkt seiner Geschichte sieht er einen Mann mit Talenten, einem Plan und nicht zu brechendem Arbeitswillen, und er will nicht glauben, dass es im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten keine Abkürzung für ihn gibt. Es ist ein erstes Anzeichen, dass er Schwierigkeiten hat, sich mit der Systematik des Staates zu arrangieren. Vielleicht unterschätzt er, wie komplex Geschichten sind, in denen der Staat eine Rolle spielt. Und vielleicht unterschätzt der Staat, wie komplex Läufers Geschichte ist, wenn man sie aufblättert. In gewisser Weise sind sie sich ähnlich, er und der Staat. Sie heften beide gern Papier ab und berufen sich beide gern auf das Recht. Sie folgen beide einem eigenwilligen, manchmal schmerzhaft detaillierten Regelwerk, und in der Auslegung sind beide sehr streng. Vielleicht sind sie zu deutsch füreinander.
Vier Monate nach seiner Ankunft wendet Läufer zum ersten Mal den Blick ab von Berlin. Er fährt nach Osnabrück und sucht dort nach Arbeit. Nach seiner Rückkehr berichtet er Pohren-Hartmann von der Aussicht auf einen Job in einer Fahrradwerkstatt. Es scheint, als wolle er dem Rat des Vermittlers folgen und den zertifizierten Weg gehen.
Das Jobcenter mag Kunden, die weite Wege gehen auf der Suche nach Arbeit. Es belohnt sie mit der Erstattung der Fahrtkosten. Doch Läufer vergaß, die Reise zu beantragen. Es ist nur ein Formfehler, aber die Form ist eine elementare Kategorie des Scheinlands. Für Läufer ist das Ringen um die Erstattung der Fahrtkosten ein weiterer Historieneintrag in seiner Akte der Staatsdefizite. Er führt Buch über diejenigen, die Buch führen über ihn, und für ihn fügt sich das Bild eines Staates zusammen, der Form über Funktion stellt.
Das ist die Bruchstelle in ihrer Beziehung, die Frage nach Form und Funktion des Staates. Je tiefer Läufer hineingezogen wird in die Mechanik der Bürokratie, desto klarer wird ihm, dass sein Lebensentwurf nicht systemkonform ist. Eine Zeit lang hält er das aus und heftet Konflikte über Formfragen einfach ab. Doch dann geschieht etwas, das ihn aufbringt: Der Staat verdächtigt ihn. Er soll nachweisen, dass er nicht mehr Tagesjobs annahm, als er angab – und damit Geld verdiente, das ihm von seinen Hartz-IV-Zahlungen abgezogen werden müsste. Der Verdacht des Systembetrugs hängt über ihm.
Läufer kann den Verdacht entkräften, er zieht entlastende Dokumente aus seinen Klarsichthüllen. Doch der Vorgang trifft ihn an einem empfindlichen Punkt: Er stellt ihn auf eine Stufe mit den anderen. Läufer, selbst ein Hartz-IV-Empfänger, betrachtet die anderen mit dem Westerwelle-Sarrazin-Mißfelder-Blick. Er sieht bei ihnen einen Hang zu Faulheit und Sauferei, eine spätrömische Prekariatsdekadenz. Nun fühlt er sich stigmatisiert. Zu der Anhörung, in der er sich erklären soll, erscheint er nicht. Pohren-Hartmann verzichtet auf die Anhörung und bewahrt ihn vor Konsequenzen. Es ist eine Geste, doch sie erreicht Läufer nicht mehr.
In den Wochen danach rennt Läufer von einem Tagesjob zum nächsten, als wolle er sich bei den Firmen empfehlen. Doch er befindet sich bereits in der Abwicklungsphase – er braucht Geld für die Zeit danach. Die Beziehung zwischen ihm und dem Staat ist zerbrochen, angekommen am Schlusspunkt einer Geschichte, in der unterschiedliche Staatsverständnisse, eine reformierte Republik und Joschka Fischer eine Rolle spielen. Als er loslässt, fühlt Läufer sich wie ein Faktor in einer Kosten-Nutzen-Rechnung, betrachtet durch das dunkle Glas der Marktwirtschaft, und er reagiert kühl marktwirtschaftlich. Er privatisiert sein Leben.
Es bleibt nichts zurück
Jetzt zieht er die Tür hinter sich zu und lässt nichts zurück außer einer leeren Wohnung, einer Penny-Tüte mit Abfall und einem Brief. »Die Wohnung ist gereinigt und besenrein«, so beginnen seine letzten Zeilen. Er verabschiedet sich im Ton eines Sachbearbeiters, klarsichthüllenkalt. »Die Mietkaution kann für eventuelle Außenstände verwandt werden bzw. ist an das Jobcenter Neukölln zurückzuzahlen. Mit freundlichen Grüßen, Andreas Läufer, Karl-Marx-Str. 204/206, Wohnung 70, 2. SF links, 4. OG, 12055 Berlin.«
Zwei Tage zuvor meldete er sich ab, das hielt er für seine Pflicht. Die Dame im Einwohnermeldeamt wollte wissen, wohin er zieht. Sie brauchte etwas, um die Leerstelle in ihrem Formular zu füllen. Läufer wollte ihr nicht erklären, dass er gekommen war, um sich aus dem Staat abzumelden. Da sagte er: Italien.
Er zieht um in eine andere Struktur, in gewisser Weise auch ein anderes Land. Läufer fährt nicht nach Süden, sondern nach Westen, nach Osnabrück. Dort lebte er vor Jahren einmal, und er hat gute Erinnerungen an die Aufgeräumtheit der Stadt. Sein Ziel ist das ehemalige Franziskanerkloster, in dem sich Ordensschwestern um die Hungrigen in den Ritzen der Osnabrücker Bürgerlichkeit kümmern. Ein Freund arbeitet dort und erzählte ihm, dass es in dem Haus einen Platz geben könnte für einen Mann mit seinen Fähigkeiten, vielleicht auch für eine Fahrradwerkstatt.
Das ehemalige Kloster ist immer noch ein Ort, der vom Glauben getragen wird, doch Läufer sucht dort nur beruflich nach Sinn. Er will sich in kein System mehr einfügen, sich keiner Hierarchie mehr unterordnen. Er will als externer Dienstleister an das System der Schwestern andocken, ohne Scheine. Sein Verhältnis zur Kirche ist so gespalten wie das zum Staat: Er ist ausgetreten und glaubt nicht mehr an die Institution. Er nutzt nur noch die Infrastruktur.
Läufer betreibt das Outsourcing seiner selbst mit radikaler Konsequenz, auch seinen Wohnsitz lagert er aus. Es soll keine Verortung mehr geben in seinem Leben, keine Hausnummer, keine Postleitzahl. Seine Handynummer, seine E-Mail-Adresse, seinen Skype-Namen und seine Facebook-Seite wird er behalten, um sich einzuklinken in die Netze, in denen er sich bewegt. In seinen Personalausweis wird er eine Zahlenkombination eintragen lassen, die eine Chiffre ist für Menschen, die keinen festen Wohnsitz haben. Doch wenn man Läufer über zwei Jahre folgt bei der Abwicklung des einen Lebens und dem Aufbau des anderen, wird klar, dass er kein Obdachloser ist. Er hat nur kein Gehäuse.
Am Morgen seines letzten Arbeitstages in Berlin geht Läufer durch einen dunklen, endlosen Regen. Seine Schritte haben eine raumgreifende Leichtigkeit, doch seine Lungen klingen wie von innen zerkratzt. Arbeitsunfälle und Krankheiten hinterließen eine lange Spur in seinem medizinischen Lebenslauf. Das ärztliche Gutachten, das Pohren-Hartmann in Auftrag gab, liest sich wie eine Risikoanalyse. Zwei Operationen wegen eines Nasenhaut-Tumors und eine chronische Entzündung der Nasenschleimhäute ließen den Arzt eine sprachlich ungelenke, aber medizinisch scharfe Schlussfolgerung ziehen: »Folgende Arbeiten sind auszuschließen: Nässe, Kälte, Zugluft, Temperaturschwankungen, Arbeiten draußen mit Sonneneinwirkung.«
Läufer ignoriert das. Auf der Suche nach seinem letzten Job geht er noch einmal durch die Neuköllner Straßen, die in den vergangenen neun Monaten der Mittelpunkt seines Lebens waren. Sie ziehen wie die Kulissen einer Aufführung über das Leben in den Zeiten der Globalisierung an ihm vorbei. Der Arbeiterstrich auf der Karl-Marx-Straße, wo die osteuropäischen Tagelöhner und der einsame Kameruner in Kleinlastern verschwinden, auf deren Flanken die Namen deutscher Handwerksbetriebe stehen. Die
Praxis von Dr. Darwesh (»Doctor of Philosophy in Medicine«). Die Spielothek »Glücksburg« (»Jeder Besuch ein Gewinn«). Das leere Schaufenster mit dem leeren Versprechen (»Insolvenzware – extrem günstig«).
Um vier Uhr sitzt Läufer in der Jobvermittlung und wartet auf die Auslosung der Reihenfolge, in der die Jobs vergeben werden. Er wollte diese Jobs nur vorübergehend machen, sie sollten seine Brückentechnologie sein bis zum Anbruch der Fahrradwerkstattzeit. Jetzt sind sie sein Kerngeschäft.
Sein Name wird als zweiter gezogen, und in zwei Stunden wird er auf einer Baustelle am anderen Ende der Stadt erwartet. Auf dem Weg zur S-Bahn blickt er zurück auf seine politische Vergangenheit und landet bald bei dem Mann, der ihn auf besondere Weise mit dem Staat verband. Er ist inzwischen ein älterer Staatsmann, der von oben auf den politischen Betrieb sieht und manchmal sein Urteil herabschickt. Auch er hat losgelassen. Das fiel ihm leicht, weil er in Berlin erreichte, was Läufer nicht gelang. Er verwirklichte seinen Traum.
Joschka Fischer verkörperte die Regierung, auf die Läufer immer gewartet hatte. In einer früheren Zeit hatten beide dafür gekämpft, den Staat zu durchlüften, ihn diesseitiger zu machen, durchlässiger. Sie waren nicht befreundet, doch ihre Wege kreuzten sich im Berlin der Revoluzzer und Hausbesetzer, und wenn Läufer von dieser Zeit erzählt, in den Augen das Leuchten des Aufbruchs, scheint es, als hätten die beiden den selben Traum gehabt.
Läufer und Fischer. Zwei Namen wie die Überschriften ihres Lebens. Der eine suchte immer nach seinem Weg und verrannte sich. Der andere hatte ein Gespür für Strömungen und warf klug seine Netze aus. In Berlin berührten sich ihre Leben, in Berlin entfernten sie sich. Der eine wurde Außenminister und veränderte den Staat. Der andere sah in diesem Staat keinen Platz mehr für sich und zog sich aus ihm zurück. Im Prinzip machten Fischer und die Regierung, die er mit Schröder anführte, genau das, was Läufer von ihnen erwartete: Sie wagten den Systembruch. Sie nahmen den Sozialstaat auseinander und fügten seine Komponenten neu zusammen. Sie formten einen Sozialstaat, der ein bisschen moderner war, ein bisschen beweglicher, ein bisschen ehrgeiziger. Aber sie fanden die Schnittstelle zwischen Reformen und Reformierten nicht, die Verbindung zu denen, die diesen Staat als kälter empfanden. An diesem Punkt verloren sie Läufer.
Als es zum Bruch kommt zwischen ihm und dem Staat, ist Fischer längst fort aus der operativen Politik, und es hilft nicht, dass er in einer Villa im Grunewald residiert. »Damals war er froh, wenn er Marmelade auf der Stulle hatte«, sagt Läufer. »Jetzt schwimmt er im Kaviar.« Es ist ein schönes Bild, um einen Mann zu porträtieren, der als Berater am Bau einer Pipeline namens Nabucco verdient, die russisches Gas vom Kaspischen Meer nach Europa bringen soll. Es klingt, als neide er Fischer das Geld, aber das ist es nicht. Es geht, wie fast immer bei Läufer, um Grundsätzliches, um das, was Fischer den Paradigmenwechsel nennen würde.
In Läufers Gedanken hängt an Fischer das Wort, das weit oben in Schröders Nachruf stehen wird. Am Anfang klang das Wort nach einem rekonfigurierten Sozialstaat, der mit solcher Schubkraft durchstarten würde, dass dem Wort Ziffern angehängt wurden, wie Zündstufen. Doch für Läufer ist Hartz IV der Codename einer Operation, die ein Versprechen machte, das der Sozialstaat nicht erfüllt. Er sieht ein Ungleichgewicht zwischen dem Fordern und Fördern. Das Geld, das aus seiner Sicht kontaminiert ist durch den Verrat dieses Prinzips, nimmt er bis zum Schluss. Er sieht darin keinen Widerspruch. Unter dem Strich, den er unter sein Leben zieht, errechnet er ein Staatsdefizit. Er fühlt sich unterfördert.
Auf seiner letzten Baustelle in Berlin steht Läufer in einem Graben, glasiert mit feuchter Erde, und schaufelt, bis er langsam im Boden verschwindet. Er ist einer der ersten Tagelöhner, mit denen die Firma zusammenarbeitet. Eine Aufseherin steht neben dem Graben und beobachtet ihn.
»Für uns ist das ein Testlauf«, sagt die Aufseherin.
»Ich bin am 31. weg«, erwidert Läufer.
»Und wo gehen Sie hin?«
»Ich geh weg. Berlin ist für mich ein Luftloch.«
Läufer spricht oft in Bildern, lyrisch und proletarisch zugleich. Manchmal zitiert er Weisheiten von Brecht und Zille, bevorzugt die bildhaften. Er musste sich das anlesen, weil er die Schule mit 14 Jahren verließ. Er ist ein Beobachter mit durchdringendem Blick, und der zweite Tagelöhner, der mit ihm im Graben steht, beunruhigt ihn. Läufer hat den Mann bei der Jobvermittlung nie gesehen und er vermutet, dass er mit den Papieren eines anderen arbeitet. Das will er melden. Er glaubt, das sei er dem Staat schuldig.
In seiner Wohnung entkernt Läufer sein Leben und wirft ab, was nicht systemrelevant ist. Er hat keinen Tisch mehr, keinen Stuhl, kein Bett, nur eine Matratze und einen Schlafsack. Daneben liegt ein Aluminiumkoffer mit seinem Laptop und Navigationsgerät. »Mein Bewegungskoffer«, sagt er. Über dem Kohleofen hängen ein blaues und ein rosa Handtuch, davor steht ein makellos geputztes Paar schwarzer Schuhe. Der Vorhang am Fenster, der den Raum in blaues Licht taucht, ist ein Müllsack. Läufer steht in der Mitte des Raumes und betrachtet die Leere um sich herum. »Die meisten brauchen viel«, sagt er. »Ich brauche nicht so viel.«
An dem Tag, als er Berlin verlässt, steht Läufer um kurz vor fünf auf und isst die Reste aus dem Kühlschrank. Er beginnt zu verschwinden, wie einer, der sich rückwärts bewegt und alle Spuren beseitigt. Er duscht, dann belädt er den Anhänger unten im Hof. Das Innere des Anhängers strukturiert er wie die Abteilungen eines Warenhauses: Lebensmittel, Werkzeug, Haushaltswaren, Elektronik, Drogerie. Sein Sortiment reicht vom Linseneintopf »Dinnerfee« bis zu Wiesenkräuter-Shampoo.
Das Mofa, mit dem er sein Leben verschiebt, ist ein Relikt aus einem vergangenen Deutschland. Es stammt aus einer Zeit, in der in Postämtern Fahndungsplakate mit Gesichtern von RAF-Terroristen hingen, Karl-Heinz Köpcke in der Tagesschau mit getönter Brille die Nachrichten verlas und Helmut Kohl die geistig-moralische Wende vorbereitete. Mit seiner roten Zündapp, Baujahr 1982, Modell »Madras«, will er in der Mitte des Tages aufbrechen. »Zwölf ist ’ne gute Zeit«, sagt er. Eine Zeit, die einen Wendepunkt markiert.
Als die Wohnung leer ist, geht er in die Eckkneipe »Zur Rixdorfer Molle« und steht dort wie eine Figur in einer Postkarte aus einem vergilbten Deutschland. Zum Abschied leistet er sich seinen letzten Berliner Luxus, eine große Fassbrause. Er wirkt leichter in diesen letzten Stunden, wie ein Mann, dessen Fragen beantwortet sind, auch die verfassungsrechtlichen. »Wir haben nach dem Grundgesetz das Recht zu arbeiten«, sagt er. »Aber ich glaube, das steht nur so auf dem Papier.«
Läufer irrt. Das Grundgesetz garantiert das Recht auf die freie Wahl des Arbeitsplatzes, aber nicht das Recht auf Arbeit. Er interpretiert diesen Artikel zu seinen Gunsten, weil er glaubt, dass er sich das Recht auf den freien Wunsch des Arbeitsplatzes mit seiner Lebensleistung verdient hat. Er, der nie viel verlangt hatte vom Staat, wollte einen Existenzgründungszuschuss wert sein. Pohren-Hartmann konnte das nicht genehmigen. Er lehnte nur einen Antrag ab, aber für Läufer war es die Ablehnung seines Lebens.
Er nimmt den Umschlag mit der Kündigung des Mietvertrags und macht im Telecafé nebenan eine Kopie für seine Buchhaltung. Zurück in der Wohnung prüft er ein letztes Mal, ob er sie ordnungsgemäß hinterlässt. An der Tür klebt noch das Namensschild seines Vorgängers. Herr Läufer lebte hier als Herr Tauscher.
Er schließt die Tür zweimal ab und geht die Treppe hinunter, in der einen Hand die Kündigung, in der anderen die Penny-Tüte mit Abfall. Im Flur legt er die Schlüssel in den Umschlag und wirft ihn in den Briefkasten des Hausmeisters. Um zwölf Uhr, als in der Nähe Kirchen-glocken läuten, blickt er auf seine Armbanduhr und fährt vom Hof. Dann fädelt er in den Verkehr auf der Karl-Marx-Straße ein und ist fort.
Niemand vermisst Fischer
In Berlin bemerkt zunächst niemand, dass Läufer fehlt. Die Ersten, die ihn vermissen, sind die Firmen, die in der Jobvermittlung anrufen. Als Pohren-Hartmann auffällt, dass Läufer nicht mehr zu ihm kommt, ist der seit Monaten in Osnabrück. In einem Arbeitsvermittlergedächtnis, das voll ist mit Hunderten Namen und Geschichten, geht auch ein Kunde, der so anders ist wie Läufer, irgendwo zwischen »La« und »Le« verloren.
Es gab einen Vertrag zwischen Läufer und dem Staat, ein Dokument mit einem harmonisch klingenden Titel: Eingliederungsvereinbarung. Die Jobcenter schließen diese Vereinbarung mit Empfängern von Arbeitslosengeld II. Sie soll eine Art Strategiepapier sein, eine Wegbeschreibung zu dem Ziel, den Kunden in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Der Vertrag ist befristet und muss alle sechs Monate neu geschlossen werden. Läufer ließ ihn einfach auslaufen.
Beim Staat meldete er sich ab, doch von Pohren-Hartmann trennte er sich still. Er wusste nicht, dass ihn und den Vermittler mehr verbindet als ein bürokratischer Zufall. Pohren-Hartmann wurde 1950 in Koblenz geboren und wuchs, ähnlich wie Läufer, in einer Welt der Entbehrungen auf. Als junger Mann fuhr er oft nach Frankfurt, wo die Welt und die Gedanken größer waren. Es war die Zeit, in der ein anderer Mann aus der Arbeiterklasse in Frankfurt nach Sinn suchte, ein Metzgersohn mit abgebrochener Lehre. Er hieß Joseph und hatte ungarische Vorfahren. Darum nannte er sich Joschka.
Pohren-Hartmann erinnert sich nicht, Fischer in Frankfurt begegnet zu sein, doch sie bewegten sich in der selben Gedankenwelt. Beide waren angezogen von Adorno, Habermas und Negt, dem Frankfurter Dreigestirn der Philosophie. Sie taumelten zwischen Kritischer Theorie und dem Aufrührertum des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes. Pohren-Hartmann erinnert sich an eine Veranstaltung mit Adorno, die in einer Prügelei endete. Er verstand das nicht. »Ich dachte: Wir müssen doch zusammenhalten!« Es klingt wie ein Gedanke, den er auch bei Läufer hatte, der den Gedanken auch bei Fischer hatte. Doch sie hielten nicht zusammen, Pohren-Hartmann, Läufer und Fischer, drei Lebensläufe, die sich in dieselbe Richtung zu bewegen schienen.
Pohren-Hartmann kam 1970 mit 50 Mark in der Tasche nach Berlin und ging nie wieder fort. Ein langer, verschlungener Weg führte ihn in das Büro, in dem er heute für einen Staat arbeitet, den andere formten. Es gibt Dinge in diesem Büro, die etwas erzählen über den, der hier arbeitet. Auf der Tür eines Metallschranks klebt ein Blatt Papier mit einer Passage aus einem Brief, den Joseph Roth kurz nach der Machtergreifung Hitlers an Stefan Zweig schickte. »Ich gebe keinen Heller mehr für unser Leben«, schrieb der Jude Roth dem Juden Zweig mit prophetischer Präzision. »Es ist gelungen, die Barbarei regieren zu lassen.« Wann immer Pohren-Hartmann den Schrank öffnet, um Akten hervorzuholen, blickt er auf diese Zeilen.
Ein zweites Blatt hängt in diesem Büro, mit einem Gedanken, den Hannah Arendt einmal so ähnlich formulierte: »Keiner hat das Recht zu gehorchen!« Wenn man Pohren-Hartmann eine Weile zuhört, wie er zwischen Roth, Zweig und Arendt sitzt und seine eigenen Gedanken über das System und das Recht formuliert, bekommt man den Eindruck, dass in diesem Büro einige von denen versammelt sind, die Läufers idealen Staat repräsentieren.
In einem früheren Leben war Pohren-Hartmann Groß- und Außenhandelskaufmann und arbeitete als Abteilungsleiter bei einem Handelskonzern. Dann überwarf er sich mit seinen Vorgesetzten und war anderthalb Jahre arbeitslos. In dieser Zeit bekam er ein Gefühl für die Perspektive von der anderen Seite des Schreibtisches. Am Anfang sah er seine Arbeitslosigkeit als eine Chance, einen Traum zu verwirklichen. Er wollte immer Betriebswirt werden, und den für die Umschulung notwendigen Test bestand er. Doch als sein Arbeitsvermittler feststellte, dass er kein Englisch sprach, sagte der: »Das können Sie alles vergessen!« Pohren-Hartmann begrub seinen Traum und fand schließlich Arbeit in der Bezirksverwaltung Neukölln, die ihn, in einer ironischen Wendung, seit einigen Jahren an das Jobcenter ausleiht. Wahrscheinlich wird er dort, wo er alles vergessen sollte, in Rente gehen. »Ich habe Glück gehabt«, sagt er. »Ich hätte auch da sein können, wo Herr Läufer war.«
In dem Regal hinter Pohren-Hartmann steht ein Buch, das ihn viel lehrte über die auf der anderen Seite des Schreibtisches. In seinem Klinischen Wörterbuch schlägt er manchmal nach, um die Medizinersprache in den ärztlichen Gutachten über seine Kunden zu entschlüsseln. In diesen Momenten wird ihm bewusst, wie krank es machen kann, keine Arbeit zu haben. »Hartz IV ist ganz unten«, sagt er und zeigt mit dem Finger auf den Boden.
Er merkte irgendwann, dass er Freunden nur von Fällen erzählte, über die er sich ärgerte – und damit Klischees über Hartz-IV-Empfänger verbreitete. »Man darf nicht vergessen, Achtung vor dem Menschen zu haben«, sagt er. Manchmal sieht er sich als Teil eines Apparates, in dem er sich daran erinnern muss. »Die ganze Struktur hier hat McKinsey erarbeitet«, sagt er. »Da können Sie nicht davon ausgehen, dass der Mensch im Vordergrund steht.«
Läufer hätte es gefallen, das zu hören. Pohren-Hartmann hat einen Blick für strukturelle Defizite, doch er sieht sie nicht nur in seinem Apparat, sondern auch in seinen Kunden. Er studiert ihre Verhaltensmuster, er verfolgt ihre Wege, und er glaubt den Punkt zu kennen, an dem Menschen wie Läufer vom Staat nichts mehr annehmen. »Sobald sie auf Widerstand stoßen, ziehen sie sich zurück«, sagt er. »Bei Herrn Läufer kann man sagen: Er zieht weiter.«
Er fährt auf der Bundesstraße 1 Richtung Westen. Bei Magdeburg wird es plötzlich dunkel, und Läufer gerät in einen niederschmetternden Regen. Als ihm jemand die Vorfahrt nimmt, fährt er in einen Graben und stürzt. Er verbrennt sich den Unterschenkel am Auspuff, der Kupplungshebel verbiegt sich, das Rücklicht des Anhängers zerbricht. Läufer betrachtet den Schaden und sagt: »Alles reparierbar.« Das sagt er immer, wenn Dinge zerbrechen.
Spät in der Nacht erreicht er Helmstedt und stoppt, als existiere die innerdeutsche Grenze noch. In der Nähe eines alten Wachturms, auf dem ehemaligen Todesstreifen zwischen den beiden Deutschlands, spannt er eine Plane auf, rollt seinen Schlafsack darunter aus und schläft vier Stunden. Im ersten Licht des Tages steht er auf und fährt weiter. In Braunschweig und Hannover macht er Station, um zu duschen und die Batterien seines Navigationsgerätes, Laptops und Telefons aufzuladen. Am sechsten Tag erreicht er Osnabrück.
In der Wärmestube im ehemaligen Franziskanerkloster erwarten ihn die Ordensschwestern bereits. Ihnen fehlt ein Mann. Sie brauchen einen Gärtner, einen Klempner, einen Schreiner, einen Schlosser, einen Fliesenleger, einen Maler, einen Aufräumer. Einen, für den alles reparierbar ist. Sie bieten Geld, Unterkunft und Wärme, doch Läufer will nur eine Aufgabe.
Die Strukturen seines Systems sind hermetisch. Seine Aufgaben erfüllt er pflichtbewusst, aber er mag keine Verpflichtungen. Er bietet sich an, aber er will nicht verfügbar sein. Er gehört zum Inventar, aber er sortiert sich jede Nacht aus. Er übernachtet an wechselnden Orten, aber immer draußen. In seinem System gibt es immer ein Aber.
Der wichtigste Mensch in Läufers Leben wird Schwester Antoinette, die Leiterin der Wärmestube. Sie ist Pohren-Hartmanns Schwester im Geiste, auch sie hat ein Gespür für Läufers Talente und bewundert ihn für seinen widerständigen Weg. Kein gesetzlicher Rahmen engt sie ein, und sie versucht, Läufer in die Strukturen der Wärmestube einzugliedern, ohne seine Freiheit einzuschränken.
Für die Schwestern wird der neue Mann zu einem wertvollen Werkzeug, handwerklich und atmosphärisch. Der groß gewachsene, zu Strenge neigende Läufer wirkt neben den zu Vergebung neigenden Schwestern disziplinierend auf die zu Konflikten neigende Klientel. Er ist eine stille Autorität auf den Gängen der Wärmestube, konzentriert auf seine Arbeit und jeden Versuch abwehrend, ihn zu vereinnahmen.
Wenige Tage nach seiner Ankunft beginnt er, in einer Garage der Wärmestube eine Werkstatt einzurichten. Er repariert dort die geschundenen Fahrräder der Wärmestubenbesucher. Seine Preise sind so niedrig, dass sie ihn in Münzen bezahlen, aber darum geht es nicht. Sie sollen wissen, dass Arbeit einen Wert hat.
In der Garage verwirklicht Läufer eine minimierte Version seines Traums. Es ist nicht die Werkstatt, die er in Berlin gründen wollte, doch er hat sein Geschäftsmodell der neuen Lage angepasst. Die Reparaturen für die Wärmestubenbesucher sind nur eine Geste, ein Zuschussgeschäft. Seine Profite erwirtschaftet er in einem lukrativeren Marktsegment. Er kauft für wenig Geld vernachlässigte Fahrräder mit guter Substanz und optimiert sie mit gut erhaltenen Teilen aus Schrotträdern. Was die Firmenjäger der Private-Equity-Branche mit angeschlagenen Unternehmen machen, praktiziert er im kleinen Stil: Er schlachtet aus, filetiert, fusioniert, dann verkauft er mit Gewinn. »Ich bin ein guter Geschäftsmann«, sagt er und zündet sich einen der »Al Capone«-Zigarillos an, die Schwester Antoinette ihm schenkte.
In seinen freien Stunden steigt er auf sein Cruiser-Fahrrad, Modell »Shangri-La«, und fährt durch die Stadt. Einer seiner Rückzugsorte ist der Dom Sankt Peter. Dort wandelt er unter den an den Säulen hängenden Aposteln, wirft zwei Euro in den Opferstock und steht eine Weile im Schein der Gedenkkerzen. Doch er betet nicht. »Ich knie nicht«, sagt er. Er setzt sich auch nicht.
Einige Tage später kniet Läufer mit Schwester Antoinette an einem Grab. Sie zupfen das Unkraut, schneiden die Sträucher, harken die Erde, pflanzen frische Blumen. Sie kannten Günther Steinbrügge, der hier begraben liegt, nicht. Er war obdachlos, und er wäre vergessen, wenn Läufer und die Schwester sich nicht um sein Grab kümmerten. Sie tragen eine Liste bei sich, auf der die Namen von Menschen stehen, die so einsam starben wie Steinbrügge. Sie arbeiten die Liste ab und schieben eine Karre mit Blumen von Grab zu Grab, von Helmut Löhe zu Hannelore Stickelbruck, von Siegfried Gintz zu Reinhold Schalast. Aber wo ist Heinz Menke? Sie suchen und suchen, doch er scheint im Tod so verloren wie im Leben.
Auf der Bundeststraße Richtung Westen
Sie sind ein eindrückliches Paar, wie sie entlang der Gräber gehen. Läufer mit seiner Baseballkappe, seinem langen Haar, langen Bart und dem Totenkopf-Arm. An seiner Seite die Schwester in ihrem schwarzen Habit und schwarzen Schleier, um die Hüfte den Leibstrick mit den drei Knoten, die ihr Gelübde von Armut, Gehorsam und Keuschheit symbolisieren. Vieles trennt sie, doch sie verbindet der Glaube an den Wert einer Haltung und die Schönheit der Ordnung.
Irgendwann finden sie Heinz Menke. Sie hörten nicht auf zu suchen, weil er in Unfrieden starb. Er wurde umgebracht. Sie pflanzen Margeriten, rote Nelken und Männertreu auf seinem Grab, dann zieht Läufer ein Tuch aus der Hosentasche und wischt den Staub von der Grabplatte.
Am Abend steigt er auf sein Shangri-La-Fahrrad und zieht seinen Anhänger in ein Industriegebiet am Rande der Stadt. In der Nähe eines bewachten Erdgasdepots schlägt er sein Nachtlager auf. Läufer hat einen Mumienschlafsack mit dem aufgenähten Versprechen, ihn auch bei minus 24 Grad nicht erfrieren zu lassen. Seine Sorge ist, sich nicht erschlagen zu lassen. Er muss ein Gleichgewicht finden zwischen einer gewissen Abgeschiedenheit und gefährlicher Einsamkeit. Er versteckt sich nicht, doch die Innenstadt meidet er, und jede Nacht wechselt er den Platz. »So kann sich keiner an mich erinnern«, sagt er. Dann formt er ein Kopfkissen aus seinem Handtuch und legt ein Steakmesser darunter.
Auf der Wiese zwischen dem Depot und einem Industriekanal breitet Läufer eine Decke aus, stellt seinen Gaskocher auf und brät ein Stück Hühnerbrust in einer seiner beiden WMF-Pfannen. Dazu trinkt er Blauen Zweigelt, den er bei Plus für 2,29 Euro kaufte. Nach dem Essen zündet er sich einen Zigarillo an, legt sich auf den Rücken, betrachtet den Kondensstreifen, den ein Flugzeug in den Abendhimmel malt, und sagt: »Hier habe ich meine Plattform.« Er braucht keine Hausnummer mehr, nur IP-Adressen, die er wie seinen Anhänger hinter sich herzieht.
Am Morgen seines Geburtstages sitzt Läufer auf einer Bordsteinkante am Stadtrand und liest im Schein einer Straßenlaterne die Neue Osnabrücker Zeitung. Auf einer der hinteren Seiten, unter der Überschrift »Der Stoß zurück ins Leben«, entdeckt er eine Geschichte über Jugendliche, »die auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance gehabt hätten«. Sie bekamen einen Ausbildungsplatz in einer sozialen Einrichtung, und bei einem der Berufe, in denen sie ausgebildet werden, bleibt Läufer hängen: Zweiradmechaniker. Er tippt mit dem Zeigefinger auf das Wort, so fest, dass er eine Delle ins Papier drückt. »Muss ich mal hingehen«, sagt er und faltet die Zeitung zusammen.
Er steigt auf sein Fahrrad und fährt zu der Werkstatt, in der die Zweiradmechaniker ausgebildet werden. Als er den Ausbildungsleiter gefunden hat, faltet er vor ihm die Zeitung auseinander und legt den Finger auf die Geschichte über den Stoß zurück ins Leben.
»Kann man hier auch mit 50 eine Ausbildung machen?«, fragt Läufer.
»Maximal bis 45«, sagt der Leiter.
»Dann kann ich auch Rente beantragen.«
»Ja, wenn Sie können.«
»Ich werde nämlich heute 50.«
»Glückwunsch.«
Sie schweigen eine Weile in der Kälte des Moments, dann faltet Läufer die Zeitung zusammen und fährt zurück zu den Schwestern. Im Behandlungszimmer der Wärmestube setzt er sich auf die Patientenliege und starrt auf seine Schuhe. Er würde jetzt gern arbeiten, doch das haben die Schwestern ihm an seinem Geburtstag verboten. Schwester Antoinette kommt herein und gibt ihm einen Briefumschlag, auf den sie »Dem lieben Andreas« schrieb. Sie weiß nicht, warum er hier sitzt. Er sagt es
ihr nicht.
Sie spürt, dass er allein sein will, und geht in ihr Büro. Dort schließt sie die Tür und erzählt von dem Tag, an dem jemand die Reifen von Läufers Anhänger zerstach. »Wir saßen draußen auf der Mauer, und er wollte alles hinschmeißen«, sagt sie. »Da habe ich gemerkt, was für ein feinfühliger Mensch er ist.« Der Mann, für den alles reparierbar war, weinte um zerstochene Reifen. Er sah darin einen Angriff auf sich und sein System, und wahrscheinlich war es das auch. Seit diesem Tag begleitet die
Schwester die Sorge, ihn zu verlieren. »Ich brauche ihn«, sagt sie. »Ich brauche ihn sehr.«
Am Nachmittag zeigen die Schwestern, wie sehr sie ihn schätzen. Sie backen eine Erdbeertorte, stellen im Festsaal frische Blumen in die Vasen und decken die Tafel mit dem guten Geschirr. Läufer trägt zur Feier des Tages seine glänzend geputzten Freizeitschuhe und eine Baseballkappe, auf der »Mercedes-Benz Financial« steht.
Die Schwestern flattern mit wehenden Schleiern in den Saal und singen ein Geburtstagslied, in dem sie ihm Glück wünschen und Segen auf all seinen Wegen. Sie haben einen Berliner Bären für ihn getöpfert, dem sie vier Zehn-Euro-Scheine unter den Arm gesteckt haben. Als pragmatische Zugabe überreichen sie drei Gläser löslichen Kaffee und drei Pakete Tabak. Die Schwester, mit der Läufer einmal darüber stritt, ob er am siebten Tag ruhen soll, erhebt sich und trägt ein Gedicht vor, das sie für ihn schrieb.
Ohne Rast und Ruh
arbeitest Du immerzu.
Mit Argusaugen und großen Schritten
schreitest Du durch die Mitten.
Alle Arbeiten machst Du sehr geschwind,
dabei flattern Deine blonden Haare im Wind.
Einige Wochen später fährt Läufer am frühen Morgen auf seinem Fahrrad durch Osnabrück und betrachtet die gelben Säcke am Straßenrand. Er fährt langsam, den Kopf gesenkt. Wenn er Plastikflaschen oder Getränkedosen durch das Gelb schimmern sieht, stoppt er, hockt sich vor den Sack, streicht mit den Händen über die Plastikhaut und drückt an den verdächtigen Stellen, um zu untersuchen, ob sich ein Objekt mit Pfandwert dahinter verbirgt. Wenn der Verdacht sich bestätigt und das Objekt in der oberen Hälfte liegt, knotet er den Sack auf, zieht es heraus, hält es zur Endkontrolle ins Gegenlicht und verknotet den Sack wieder. Wenn das Objekt in der unteren Hälfte liegt, zückt er sein Taschenmesser, klappt die kleine Klinge aus und macht einen Schnitt wie mit dem Skalpell, gerade so groß, dass nur das Objekt hindurchpasst. Er will keine Unordnung hinterlassen.
Läufer hat einen Plan der Müllabfuhr, in dem er sehen kann, an welchen Tagen in welchen Stadtteilen die gelben Säcke abgeholt werden. Er könnte dem Plan einfach folgen, aber er kartografierte die Stadt nach seinem eigenen System. Er entwickelte mit der Zeit einen soziologischen Blick, der ihm erlaubt, Rückschlüsse vom Inhalt der gelben Säcke auf die Bevölkerungsstruktur einer Nachbarschaft zu ziehen. Seitdem konzentriert er sich auf die sozial schwächeren Gegenden, weil sie ertragreicher sind. »Die Reichen werfen keine Pfandflaschen weg«, sagt er. »Die haben Mehrwegflaschen aus Glas.«
Das Flaschensammeln gehört zum McKinsey-Prinzip seiner Strategie: Er diversifiziert, um sich von keinem einzelnen Geschäftszweig abhängig zu machen. Darum repariert er in seiner Werkstatt nicht nur Fahrräder, sondern nimmt auch alte Fernseher und Stereoanlagen auseinander, um den Elektroschrott zu verwerten. Darum hat er bei einigen Firmen in der Stadt seine Telefonnummer hinterlassen. Er bekommt immer wieder Anrufe von Firmen, die ihn für ein paar Tage haben wollen. Sein Telefon spielt dann das Lied vom Tod, und Läufer meldet sich mit einem Satz wie aus einer Zeit, in der Telefone Wählscheiben hatten und Nächte Mondscheintarife: »Ja, ich höre.« Er hört dann eine Weile zu und sagt am Ende immer Nein. Die Anrufe kommen aus Berlin.
Sie führen ihn nicht in Versuchung, auch nicht in den Monaten nach der Geburtstagsfeier, als sich sein Verhältnis zu den Schwestern abkühlt. Es gibt Spannungen zwischen den Schwestern, und er hat das Gefühl, dass sie ihn in ihre Konflikte hineinziehen und bestimmend werden im Umgang mit ihm. Er wertet das als Bruch ihres Abkommens.
Eines Morgens kommt Läufer dreimal kurz hintereinander zu Schwester Antoinette ins Büro. Er wirkt unruhig. »Andreas, ist etwas?«, fragt sie ihn. Läufer schüttelt den Kopf und schweigt. Am nächsten Morgen, die Schwestern schlafen noch, wirft er die Schlüssel in den Briefkasten und fährt davon.
Weiter von Stadt zu Stadt
Läufer fährt nicht zurück nach Berlin, sondern Richtung Süden. Er will an den Rhein und ihm folgen bis Mannheim, dann abbiegen nach München. Er hat sich die Wirtschaftsdaten und Arbeitslosenstatistik angeschaut und entschieden, dass die Stadt ein guter Standort wäre für ihn. In seiner Analyse kam er zu dem Ergebnis, dass die CSU ihm näher steht als alle anderen Parteien. »Die haben die Wirtschaft in Bayern gut auf Vordermann gebracht«, sagt er. Es wäre die nächste Stufe in Läufers Evolution, wenn er im Freistaat seinen Platz fände, ein marktliberaler Wohnungsloser, der nicht kniet, aber sich in Kirchen geborgen fühlt.
In seiner Mobilität ist Läufer ein Prototyp der globalisierten Gesellschaft. Er operiert wie die Manager der Moderne, kabellos, ruhelos, ständig unterwegs und radikal individualisiert. Ihre Plattform ist die Vielflieger-Lounge, seine die Wiese am Kanal. Seine Privatisierung führte ihn in ein Leben ohne Wände und Bindungen, ein digitales Nomadentum in Vollendung. Er ist ein Deutscher mit Migrationshintergrund.
Läufer weiß, dass sein System nicht nachhaltig ist. Er bildet keine Rücklagen, und sein Kapital schwindet. Er spürte das auf der letzten Baustelle in Berlin, als er sich im Graben krümmte und sein Rücken schmerzte. »Irgendwann ist ’ne Grenze erreicht«, sagt er. Noch sieht er die Grenze nicht, noch fühlt er sich denen in der Enge ihrer Häuser überlegen. Er empfindet eine Lebenstüchtigkeit, die kein noch so hohes Einkommen zu vermitteln vermag. »Luxus«, sagt er, »ist das, was ich habe. Das kriegst du in keinem Kaufhaus.«
In diesem Luxus folgt er dem Rhein. Wie an einer Perlenschnur hangelt er sich von einer Stadt zur nächsten, stromaufwärts durch die deutsche Gegenwart. In der Nähe von Düsseldorf bricht die Deichsel an seinem Anhänger. Er kann das reparieren, aber es ist nur eine Laufzeitverlängerung. Als er Köln erreicht, leitet er seine Energiewende ein. Die Umstände zwingen ihn dazu, sein Mofa verbrennt zu viel Benzin. Er steigt um auf ein Fahrrad und zieht den Anhänger jetzt mit einem Beach Cruiser, Modell »Hyde Park«, 26 Zoll, sieben Gänge. Der Kauf reißt ein Loch in seinen Etat, doch er glaubt, dass er in der Krise antizyklisch handeln sollte und verbucht das als Investition in eine Zukunftstechnologie.
In Mainz lernt Läufer eine Gruppe von Geschäftsmännern kennen, die ihm davon abraten, nach München zu fahren. Sie sehen dort einen Standortnachteil für ihn, ein Missverhältnis zwischen seinem Geschäftsmodell, den hohen Lebenshaltungskosten und für ihn geeigneten Jobs. Läufer macht eine scharfe Wende und steuert Hamburg an. Er hat dort eine Vergangenheit und Bekannte, die sagen, es gebe Jobs.
Nach elf Tagen erreicht er Hamburg, erschöpft und hoffnungsvoll. Doch kurz nach der Ankunft bekommt sein System Risse. Er spricht in der Jobvermittlung vor und erfährt, dass es kaum Angebote gibt. Als er im Hafen nach Arbeit sucht, zersticht erneut jemand die Reifen seines Anhängers. Der Angriff trifft ihn in einem Moment der Verletzlichkeit. Er hat Zweifel an seinem System und Schmerzen im linken Bein. Eine Weile ignoriert er beides, aber als die Schmerzen stärker werden, geht er ins Krankenhaus. Die Diagnose ist eine Warnung: Er hat Wasser im Bein. Der Arzt behandelt ihn, doch er macht ihm klar, dass es ohne Krankenversicherung nicht weitergeht. Er sagt, ohne es auszusprechen, dass er den Staat braucht.
In Osnabrück hatte Läufer das eingesehen. Nach einem Unfall, bei dem er sich einen Finger quetschte, hatte Schwester Antoinette ihn überredet, einen Arbeitsvertrag abzuschließen, damit er krankenversichert ist. Das hat er verloren, auch das. Er schien das auszuhalten, doch eines Abends schickt Läufer, der nie um etwas gebeten hatte, eine SMS und bittet darum, ihn anzurufen. Seine Stimme klingt dünn. Er erzählt, dass die Deichsel an seinem Anhänger gebrochen ist, irreparabel. »Der Anhänger«, hatte Schwester Antoinette einmal gesagt, »ist sein Ein und Alles.« Jetzt klammert er sich an ihn, als fürchte er, das zentrale Modul seines Systems zu verlieren. »Vielleicht«, sagt er, »zünde ich alles an.« Dann schaltet er sein Telefon aus und ist nicht mehr erreichbar.
Als Pohren-Hartmann das hört, sieht er sich in seinem Büro um und sagt: »Ich weiß jetzt nicht, wie ich ihm helfen kann.« Er kann sehr anschaulich die Strukturen und Mechanismen des Sozialstaats erklären. Manchmal setzt er dazu seine Lesebrille auf, schlägt in Akten und Gesetzbüchern nach und zitiert relevante Passagen. Er sieht dann aus wie ein Wissenschaftler. »Herr Läufer«, sagt er, »hatte eine Vorstellung, die er umsetzen wollte in diesem System, und das ist sein Problem. Dieses System ist nicht auf individuelle Visionen eingestellt.« Einen Moment lang denkt er darüber nach. »Er hätte einen Sponsor gebraucht«, sagt er dann, »so wie die Leute von Google.«
In Osnabrück wird es einsam um Schwester Antoinette. In ihrem Büro hängt noch ein Bild, das Läufer neben seinem Fahrrad und Anhänger zeigt. Manchmal fällt es ihr schwer, das Bild zu betrachten. Einige Wochen nach seinem Verschwinden rief er sie versehentlich an, weil er die falsche Taste auf seinem Telefon drückte. Sie war erleichtert, seine Stimme zu hören, aber das Gespräch war kurz, ein kühler Austausch der Positionen. »Er sagte: Ich stehe aufrecht«, erinnert sie sich. »Und ich sagte: Ich auch.«
Nach Läufers Fortgehen haben sich die Konflikte zwischen den Schwestern in der Wärmestube verschärft. Eine lässt sich in den Ruhestand versetzen, die beiden anderen melden sich krank. Schwester Antoinette bleibt allein zurück und ruft beim Bischöflichen Stuhl um Hilfe. Sie bittet um jemanden, der sie entlastet, doch sie bekommt einen Diakon, mit dem sie sich die Leitung der Wärmestube teilen soll. Wenige Wochen später beruft ihr Orden sie ab. Sie wehrt sich, doch sie ist in ihrem Widerstand so allein wie Läufer, und auch sie macht einen Schnitt. Sie legt den Schleier ab und bricht mit der Kirche.
Drei Tage lang ist Läufer nach der Nacht, in der er alles anzünden wollte, nicht erreichbar. Als er sein Telefon wieder einschaltet, erzählt er, wie er in den Stunden danach Gewichte in einem Fitnessraum stemmte und dazu Rammsteins Engel und Metallicas The End of the Line hörte. In wenigen Tagen hat er Geburtstag, aber er will das nicht feiern. Es würde nicht in die Zeit passen.
Läufers Krise verläuft parallel zur europäischen Schuldenkrise, und er fühlt sich bestätigt in seinem Zweifel an den Staaten der anderen. Während in Berlin und Brüssel immer größere Rettungsschirme aufgespannt werden, schnürt er ein radikales Sparpaket. Als Europa sich auf den Schuldenschnitt vorbereitet, lässt er seinen Anhänger stehen. Er tauscht ihn aus gegen einen kleineren, leichteren Anhänger. Seinen Laptop ersetzt er durch ein Netbook. Alles schrumpft in dieser Phase, auch seine Zuversicht. Er ist die personifizierte Sparsamkeit.
Die Frau, die einmal Schwester Antoinette war, zieht sich zurück auf ein Weingut an der Mosel. Sie trägt jetzt Farbe im Haar, Farbe in den Kleidern und den Namen, mit dem sie zur Welt kam. Margareta Völker hat sich von allem gelöst, das sie äußerlich zu Schwester Antoinette machte, doch ihren Glauben hat sie nicht verloren. Nach einer Zeit des Schweigens betet sie wieder stündlich, sie kniet wieder gern, und auch Läufer kommt zu ihr zurück. An einem eisigen Morgen im Frühling begegnen sie sich in Trier. Sie haben nur ein paar Stunden, doch sie ist froh, ihn so entschlossen und aufrecht zu sehen, wie er sie verließ. »Er war ganz aufgeräumt«, sagt sie. »Ich glaube, er hat seinen Weg wiedergefunden.«
Einmal noch führt Läufers Weg ihn nach Berlin. Er geht durch die Stadt wie ein Tourist, leichtfüßig und weitäugig, auf seiner Kapuzenjacke steht »BERLIN«. Die Stadt schimmert und glänzt im Regen, und er folgt den S-Bahn-Gleisen vom Alexanderplatz zum Ostbahnhof. Hinter dem Bahnhof bleibt er an einem Zaun stehen und blickt auf eine Brachfläche. Ein paar Obdachlose lungern zwischen Kleiderbergen und trinken die Stunden weg. In Läufers Traum entstand hier eine Fahrradwerkstatt, es war seine Projektionsfläche. Die Männer, die sie einnahmen, leben an der Straße der Pariser Kommune, als hätten sie bewusst eine Adresse gewählt, die an den Traum von der Diktatur des Proletariats erinnert. Läufer betrachtet sie wie fremde Wesen. »So könnte ich nicht leben«, sagt er. »Die haben keine Struktur.«
In einer anderen Parzelle der Stadt, am Boulevard Unter den Linden, setzt er sich ins Restaurant »Jedermann’s« und bestellt eine Bulette mit Kartoffelsalat. Er nennt es das »kleine deutsche Menü«. Dann folgt er der großen deutschen Achse, an der er viele von denen finden könnte, die den Staat formten, der nicht mehr seiner ist. Er geht vorbei am »Café Einstein«, der Kantine der Berliner Republik, an deren hinteren Tischen Fischer und Schröder so gern Hof hielten. Er blickt an der Fassade des Bürogebäudes hinauf, in dem Schröder seine Altkanzlerjahre verwaltet. Im Schaufenster von Madame Tussauds sieht er Angela Merkel, eine Kanzlerin in einem Wachsfigurenkabinett.
Als er durch das Brandenburger Tor geht und auf der Wiese vor dem Reichstag steht, erkennt er das Kanzleramt nicht. Es sieht für ihn aus wie eine Fabrik, eine Regierungsmanufaktur. Er geht um den Reichstag herum und bleibt vor einer gläsernen Wand stehen, durch die er in die Büros von Bundestagsabgeordneten sehen kann. In das Glas sind die ersten 19 Artikel des Grundgesetzes geschliffen. Läufer schreitet sie langsam ab. Bei Artikel 12 stoppt er. Es ist der Artikel, der allen Deutschen das Recht gibt, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. »Das ist der Punkt«, sagt er, »wo ich Streit mit dem Staat habe.«
Er beugt sich vor und spiegelt sich in den Worten. Im Glas sind sie jetzt vereint, Läufer, das Gesetz und der Staat, doch es ist nur ein Hologramm, eine Illusion. In ein paar Wochen wird sein Personalausweis ablaufen. Er überlegt noch, ob er einen neuen beantragen wird.
Fotos: Maurice Weiss