Die neue Rechtsordnung

Über Jahrhunderte war die Justiz fest in der Hand der Männer. Jetzt übernehmen dort Frauen die Spitzenpositionen - und verändern das System gründlich.

In der Kunst standen Frauen schon immer für Recht und Gerechtigkeit. In der Mythologie auch. Justitia hält die Waage, Symbol für die sorgfältige Abwägung der Sachlage. In der Praxis aber sprach man Frauen lang die Urteilsfähigkeit ab.

Einige Nachrichten aus dem Gerichtssaal, bis vor Kurzem undenkbar: Josef Ackermann, Chef der Deutschen Bank, stand vor einer Richterin. Klaus Zumwinkel, Postchef, wurde von einer Staatsanwältin verfolgt. Die ehemaligen Vorstände der Bayerischen Landesbank zitterten vor der Staatsanwältin Hildegard Bäumler-Hösl, die Gerhard Gribkowsky sogar nach Hause begleitete und mit ihm seinen Computer durchsah. Nun sitzt er für achteinhalb Jahre in Haft. Es war eine Richterin, die den Attentäter Anders Breivik in Norwegen zur Höchststrafe von 21 Jahren Haft verurteilte. Es waren drei Frauen, die gerade den früheren italienischen Staatschef Berlusconi zu sieben Jahren Haft verdonnerten, wegen Prostitution Minderjähriger und Amtsmissbrauch.

DIE JUSTIZ WIRD WEIBLICH

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Doris Dierbach ist groß, blond, selbstbewusst. Und fachlich beschlagen. Sie war 26, als sie in Hamburg als Strafverteidigerin anfing. Damals fragte ein Richter, welches »blonde Gift« der Anwalt Thomas Bliwier da anschleppe. Bliwier und Dierbach führen ihre Kanzlei gemeinsam, sie sind verheiratet. Der Richter hatte Mühe mit der kämpferischen Anwältin. Und bat den Ehemann: »Bringen Sie sie doch zur Räson.« Der Ehemann antwortete: »Mit der müssen Sie schon selbst fertigwerden.«

Das versucht auch Manfred Götzl. Er ist Vorsitzender Richter im NSU-Prozess in München. Doris Dierbach vertritt dort eine Opferfamilie. Götzl und Dierbach geraten gern mal aneinander. Ihr Ton ist dem Richter zu kess. »Sie bringen hier eine Schärfe rein«, tadelt er. »Würden Sie sich bitte ein wenig zurücknehmen.« – »Ich glaube, wir geben uns da beide nichts«, gibt Dierbach zurück. »Ihr Ton gefällt mir nicht«, sagt Götzl.

Männliche Anwälte brüllen, schmeißen mit Akten, trommeln auf den Tisch. »Das lassen die Richter an sich abtropfen«, sagt Doris Dierbach. »Das gehört offenbar zum normalen männlichen Verhalten.« Bei Frauen ist das anders. »Ich habe mal den Kopf geschüttelt, da ist ein Richter in Hamburg aufgesprungen und hat sich über die Richterbank gelehnt: ›Sie schütteln in meinem Gerichtssaal nicht den Kopf‹, rief er.« Dierbach sagte: »Ich wüsste keine Norm, wonach Sie mir das verbieten können.« Als Dierbach 1989 Anwältin wurde, war die Justiz noch männlich. Das hat sich gründlich geändert:
- Heute werden mehr Richterinnen als Richter angestellt, mehr Staatsanwältinnen als Staatsanwälte.
- In der Strafverfolgung sind die Frauen bereits in der Mehrheit.
- Beispiel Berlin: Das Kammergericht hat eine Präsidentin und eine Vizepräsidentin, der Verfassungsgerichtshof wird von einer Frau geleitet, das Landessozialgericht auch. Sechs von elf Amtsgerichten stehen Frauen vor.
- Selbst in Bayern werden seit zehn Jahren mehr Frauen in der Justiz eingestellt als Männer, vergangenes Jahr lag ihr Anteil an den Neueinstellungen bei 65 Prozent. Zwar sind immer noch die meisten Richter männlich, aber der Trend spricht für die Frauen: Mehr als die Hälfte der Richter unter 40 Jahren ist weiblich. Für Doris Dierbach bedeutet das: »Jetzt treffe ich auf viele Vorsitzende Richterinnen – kluge, souveräne Frauen. Ich weiß, bei denen kriege ich ein vernünftiges Urteil, die sind diskussionsfähig, die kann man anrufen. Die thronen nicht über einem. Das ist kein Kräftemessen, kein dummes Gezerre. Aber auch die jungen Juristen haben sich geändert, die empfinden Frauen nicht mehr als Provokation, wenn sie Widerworte geben.« Nur eine Konstante ist geblieben: Die Angeklagten sind zu 90 Prozent Männer. Kurz und ungerecht heißt das: In Zukunft sitzen die Frauen auf der Richterbank und die Männer im Knast.

DER LANGE ABSCHIED VOM STAATSZIEL MÄNNLICHKEIT

Noch zu Beginn der Weimarer Republik erklärten die Vertreter der Länder in Berlin, dass Frauen aus »verschiedenen Umständen« nicht geeignet seien für die Jus-tiz: »Kraft ihrer seelischen Eigenart ist die Frau in weit höherem Maße als der Mann gefühlsmäßigen Einflüssen unterworfen und in der von Gefühlen unbeeinflussten objektiven Aufnahme und Beurteilung von Tatbeständen behindert«, hieß es. Und: »Die Frau steht an Entschlussfähigkeit und der Kraft zu energischem Durchgreifen vielfach hinter dem Manne zurück. Dies birgt die Gefahr einer Verweichlichung der Strafrechtspflege.« Schließlich habe der Mann »überwiegend Abneigung dagegen, sich von Frauen aburteilen zu lassen und sich ihrem Urteil zu unterwerfen.«

Erst 1922 ließ man die Frauen zum Richteramt zu. Kaum aber waren sie drin, flogen sie auch schon wieder raus. Die Nationalsozialisten verbrämten den Ausschluss der Frauen von der Rechtsprechung auch ideologisch: Frauen in Roben seien ein »Einbruch in den altgeheiligten Grundsatz der Männlichkeit des Staates«. Das altgeheiligte männliche Reich ging zwar unter, aber Frauen hatten in der Justiz auch nach dem Krieg nichts zu sagen. Noch im wilden Jahr 1968 erklärte der Vorsitzende der Pressekammer zu Hamburg, er nehme keine Frauen als Richterinnen. Er traf auf eine junge Juristin, die das genau wusste und dennoch bei ihm in der Tür stand und sagte: »Ich habe gehört, Sie möchten an Ihrer Kammer gern eine Frau haben. Ihnen kann geholfen werden!«

Die Richterin von damals heißt Lore Maria Peschel-Gutzeit und sie ist eine Vorkämpferin für die Frauen in der Justiz. Sie wurde 1984 die erste Präsidentin eines Senats des Oberlandesgerichts Hamburg, auch die erste Frau, die im Staudinger schrieb, dem ältesten Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch. Sie wurde in den Neunzigerjahren erst Justizsenatorin in Hamburg, dann in Berlin und als Senatorin nach Hamburg zurückgeholt. Noch heute, als über Achtzigjährige, ist sie als Anwältin tätig. Als ein Angeklagter nicht mit ihr, der Richterin, reden wollte, weil sie eine Frau ist, verhängte sie drei Tage Ordnungshaft – wegen ungebührlichen Verhaltens. Dann sprach der Kerl.

Wie ein »Schneepflug« für ihre Kolleginnen kam sich Peschel-Gutzeit vor. Der Schnee aus Konventionen und Tradition lag meterhoch. Zwar hatten sich die Frauen im Grundgesetz den Satz erkämpft: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt.« Aber das kümmerte die Justiz nicht sehr.

Bis 1977 musste der Ehemann zustimmen, wenn seine Frau arbeiten wollte.

GESETZE AUS EINER GAR NICHT FERNEN VERGANGENHEIT

- Bis 1953 konnten verheiratete Frauen kein eigenes Bankkonto eröffnen.
- Bis 1957 gab es eine Steuervorschrift, die Ehepaare, bei denen Mann und Frau arbeiteten, höher besteuerte – die Frau sollte damit »ins Haus zurückgeführt« werden.
- Bis 1958 bestimmte der Ehemann den Wohnort.
- Die Frau war auch nicht unbeschränkt geschäftsfähig. Wenn sie einen Kühlschrank kaufte, galt das Geschäft als vom Ehemann abgeschlossen. Mancher Mann schaltete eine Zeitungsanzeige, in der er warnte, seiner Frau etwas zu verkaufen – er werde nicht dafür aufkommen. Rechtlich war das korrekt.
- Bis 1959 hatte der Vater das »Letztentscheidungsrecht« darüber, wie das Kind zu erziehen sei.
- Bis 1974 bekamen nur die Kinder deutscher Väter, aber nicht die Kinder deutscher Mütter die deutsche Staatsbürgerschaft. Erkannte zum Beispiel ein amerikanischer Soldat das Kind mit seiner deutschen Freundin nicht an, war das staatenlos.
- Bis 1977 musste der Ehemann zustimmen, wenn seine Frau arbeiten wollte. Und das ging auch nur dann, wenn sie ihre »häuslichen Pflichten« nicht vernachlässigte.
- Bis 1977 war die Frau verpflichtet, den Haushalt zu führen, also, ihrem Mann hinterherzuputzen.
- Erst von 1978 an konnten Frauen in den ersten Bundesländern Schutzpolizisten werden.
- Bis 1995 durften nur Männer Feuerwehrleute werden, Frauen nicht.

Und immer ließen sich für die Ver-bote ganz wunderbare rechtliche Begründungen finden. Manche Richterin zitiert noch heute sarkastisch das Urteil des Bundesgerichtshofs, der 1966 den Frauen die Ehe erklärte: »Die Frau genügt ihren ehelichen Pflichten nicht schon damit, dass sie die Beiwohnung teilnahmslos geschehen lässt. Wenn es ihr infolge ihrer Veranlagung oder aus anderen Gründen versagt bleibt, im ehelichen Verkehr Befriedigung zu finden, so fordert die Ehe von ihr doch eine Gewährung in ehelicher Zuneigung und Opferbereitschaft und verbietet es, Gleichgültigkeit oder Widerwillen zur Schau zu tragen.« 47 Jahre später ist es vorbei mit der weiblichen Opferbereitschaft, jetzt fühlen sich die Männer als Opfer – umzingelt von Frauen. »Ich habe es ja mit einem eigenen Mandanten erlebt«, sagt die Anwältin Peschel-Gutzeit. »Der kommt in den Gerichtssaal und sagt: ›Oh Gott, da sitzen lauter Frauen auf der Richterbank! Die Staatsanwältin ist eine Frau und Sie auch noch als Verteidigerin. Das hält ja kein Mensch aus.‹« – »Ja und«, sagte sie. »Bisher saßen da nur Männer. Wie glauben Sie, dass sich die Frauen gefühlt haben?«

WAS HEISST HIER VERWEICHLICHUNG?

»Frauen theoretisieren nicht so viel«, sagt Lore Maria Peschel-Gutzeit. »Frauen haben weniger Zeit, die müssen das Kind vom Kindergarten abholen, noch einkaufen und die Waschmaschine füllen. Die Rechtsprechung wird durch mehr Frauen flotter werden. Meine Herren im Senat gingen stundenlang zum Essen, ich habe durchgearbeitet.« Sie musste ja heim zu den drei Kindern. Frauen erklären auch mehr. »Männer schreiben nur: A – B – C. Frauen erklären, warum aus A erst B und dann C folgt«, sagt die Richterin am Oberlandesgericht München Andrea Titz. Sie erlebt das, wenn sie Examensklausuren korrigiert. »Für ein Urteil ist es ja kein Schaden, wenn man es auch verstehen kann.« Und die »Verweichlichung der Strafrechtspflege«? Mit dem Einzug der Frauen ist der Umgangston ziviler geworden, das Brimborium geringer. Aber der Inhalt? »Ich erlebe Richterinnen, die sehr, sehr hart sind«, sagt Peschel-Gutzeit. Gerade in Terror-Verhandlungen sind immer wieder Frauen die Richter: zum Beispiel am Oberlandesgericht Düsseldorf. Dort ist die Chefin des Staatsschutzsenates eine Frau: Barbara Havliza, die derzeit gegen die Düsseldorfer Zelle verhandelt und ungerührt CIA-Agenten vorlädt. Gerade überlegt sie, ob es nicht sinnvoll wäre, mit dem ganzen Senat nach Mauretanien zu reisen, um Scheich Younis zu befragen, einen alten Vertrauten von Osama bin Laden. Oft gelten die Frauen sogar als herzlos. So wie Peschel-Gutzeit, die lange die einzige Richterin an ihrem Familiensenat in Hamburg war. Häufig ging es darum, ob eine Ehefrau nach der Scheidung wieder arbeiten muss.

»Mein Senatsvorsitzender sagte immer: ›Das kann man doch dieser armen Frau nicht zumuten‹«, berichtet Peschel-Gutzeit. »Und ich sagte: ›Wieso? Die Kinder sind groß, sie hat zwei gesunde Hände.‹« Dann hatte der Familiensenat den umgekehrten Fall: Eine Frau, die schon lange erfolgreich im Beruf stand, und ihr Mann, der ewige Student, verlangte nach der Trennung Unterhalt von der Frau. »Da waren meine männlichen Kollegen alle der Meinung, der Mann soll arbeiten«, sagt Peschel-Gutzeit. »Ich habe gesagt: ›Der arme Mann. Ob man ihm das zumuten kann?‹« Natürlich bestimmt die eigene Lebenserfahrung auch das Urteil, weiß die ehemalige Richterin. »Wenn da drei Junggesellen sitzen oder drei geschiedene Männer, die Ärger mit dem Unterhalt für ihre Frauen haben – das fließt alles ein.« Aber die Zeit der Junggesellen und der Patriarchen ist vorbei. Stattdessen kommen nun – die Mütter. »Es war eine Revolution von oben«, sagt die Vizepräsidentin des Oberlandesgerichts München, Ursula Schmid-Stein. Das bayerische Justizministerium hat die Gerichtspräsidenten dazu vergattert, die Mütter sofort wieder unterzubringen, wenn sie aus der Babypause kommen. Jede Stelle ist nun auch teilzeitfähig – »nur die des Präsidenten nicht«, sagt Schmid-Stein. Der ist ein Mann.

Das OLG München, zu dessen Bezirk mehr als 1000 Richter gehören, hat erkannt, worin der große Reiz des Staatsdienstes für viele Juristinnen liegt: Sie können einen verantwortungsvollen Beruf und die Familie verbinden. Trotz besserer Noten gehen deswegen viele Frauen ganz bewusst nicht in die Großkanzleien, wo sie oft 16 Stunden am Tag arbeiten müssen. Sie wählen die freie Zeiteinteilung, das große Geld in den Law firms machen die Männer. Die Justiz hingegen – wird Frauensache.
Das macht sich bemerkbar. Die Münchner Anwältin Angelika Lex hat zwei Kinder, und sie hat beide gestillt. Und weitergearbeitet. Den Richtern sagte sie, ihr Mann komme mit dem Baby vorbei, wenn es hungrig sei. »Kaum war Babygeschrei auf dem Gang zu hören, hat der Richter die Verhandlung unterbrochen«, erzählt Lex. Manchmal, wenn es schnell gehen musste, hat sie das Kind im Saal gestillt. Der Staatsanwalt hat dann weggeschaut.

WAS JETZT MOCH FEHLT: EINE MÄNNERQUOTE

Inzwischen sind die Frauen auch für die Gefängnisse gut – früher ein Tabu. Viel zu weich, die Damen. Und was sollte werden, wenn sie sich in einen Häftling verliebten oder der in sie? Nun werden von den 37 Haftanstalten in Nordrhein-Westfalen 15 von Frauen geleitet, auch in Hessen und Bayern gibt es je drei Gefängnis-Chefinnen. »Sicherheit«, sagt Renate Schöfer-Sigl, die Leiterin der JVA Nürnberg, »ist nicht nur Stacheldraht und Waffe und Mauer. Die beste Sicherheit ist Reden.« Und das können Frauen nun mal ziemlich gut. Einige Männer um die 40 gehen nun ihrerseits traurig zu den Vorgesetzten und klagen angesichts der Welle weiblichen Nachwuchses: »Ich bin doch auch gut.« Die Generation der traurigen Männer wird weiter leiden: Solange Frauen in der Justiz noch unterrepräsentiert sind, dürfen sie bei der Beförderung vorgezogen werden – natürlich nur bei gleicher Qualifikation. Doch die Frauen haben Mitleid. Sie fürchten, bald ganz unter sich zu sein. Schon hört man, dass in manchen Bundesländern Kunstgriffe angewendet werden, damit überhaupt noch genügend Männer in den Staatsdienst kommen. Da behilft man sich mit Assessment-Centern, in denen Männer mit etwas schlechteren Noten dann doch besser abschneiden als die Frauen mit ihren guten Noten – vielleicht wegen ihrer sozialen Kompetenz. Vielleicht aber auch, weil es schon eine inoffizielle Männerquote gibt, wie geraunt wird. Und oft besetzt man einfach nicht alle offenen Stellen und wartet auf den nächsten Einstellungsdurchgang – in der Hoffnung, dass dann ein paar Männer dabei sind.

Die Richterinnen wollen ja nicht ständig in Erklärungsnot kommen. So wie die Münchner Richterin Andrea Titz. Sie hatte den Fall schon: ein Mann, angeklagt wegen Vergewaltigung. Er betritt den Saal und sieht auf der Richterbank – drei Frauen. »Dem ist das Kinn runtergefallen, der dachte, er habe null Chance.« Uta Fölster, die Präsidentin des Oberlandesgerichts Schleswig, sagt, natürlich sei es sinnvoll, dass Männer und Frauen gemeinsam Recht sprechen: »Frauen können Frauen besser einschätzen und Männer Männer. Die Welt besteht nun mal aus Männern und Frauen. Auch die Welt vor Gericht.« – Ihre Kollegin Schmid-Stein aus München meint: »Juristisch macht es keinen Unterschied, aber ein Gericht sollte die gesellschaftliche Wirklichkeit spiegeln.«

Ein weiterer Beleg für die Effizienz von Juristinnen – die männlichen Kollegen haben für dieselbe Erkenntnis Jahrhunderte gebraucht.

Foto: Markus Burk