Hin und wieder rufen Menschen einen auf dem Mobiltelefon an und hinterlassen, wenn man nicht rangeht, keine Nachricht auf der Mailbox. Ende der Durchsage? In einer perfekten Welt wäre damit alles klar: Du hinterlässt keine Nachricht, also willst du offenbar auch nichts; sonst hättest du ja was gesagt.
Aber weil die Welt nicht perfekt ist, sondern voll von Menschen, die einander mit unausgesprochenen Erwartungen fertigmachen, ist die Geschichte komplizierter. Irgendwann stellt man nämlich fest, dass sehr viele Menschen, deren »entgangenen Anruf ohne Mailbox-Nachricht« man auf dem Handy angezeigt bekommen hat, einen Rückruf erwartet hätten. Wenn man sie trifft, fragen sie erstaunt bis empört: »Warum hast du mich nicht zurückgerufen?«
Wieso hätte man das tun sollen?
»Hast du nicht gesehen, dass ich versucht habe, dich zu erreichen?«
Schon, aber ohne Nachricht, das kann ja nicht so wichtig gewesen sein.
»Wieso? Du hast doch die Nachricht erhalten, dass ich dich angerufen habe? Wenn ich dich anrufe, dann doch wohl, um mit dir zu sprechen?«
Einerseits klingt das logisch, wenn auch auf eine etwas technokratische, sparsame Art und Weise: Man will nicht mal mehr die Zeit und Energie aufwenden, Worte für die Mailbox zu finden. Deshalb gibt es gute Gründe, die Behauptung »Keine Nachricht ist auch eine Nachricht« abzulehnen: Auch wenn man begreift, dass die Anzeige »Entgangener Anruf« eine wortlose Rückrufaufforderung ist, behält das Ganze doch den Charakter einer Vorladung oder einer Geste wie Fingerschnippen oder Händeklatschen, um jemanden auf sich aufmerksam zu machen. Man wird nicht angesprochen, sondern wortlos dazu angehalten, sich selbst in Bewegung zu setzen. Man kriegt ein Signal, das eigentlich keins ist. Oder soll ich, Alter, noch mal Umberto Eco lesen, Einführung in die Semiotik, Kapitel 2.1, »Vom Signal zum Sinn«, um zu verstehen, welchen Sinn dein Signal hat?
Wenn einen das ärgert und man einfach nicht mehr auf entgangene Anrufe reagiert, droht vielleicht die Isolation. Und man bekommt Selbstzweifel: Ist es vielleicht kleinlich und unmodern, so zu tun, als würde man nicht verstehen, dass der andere zurückgerufen werden möchte, auch wenn er es nicht sagt? Ist man, wenn man das ignoriert, nicht auf halbem Weg in einen Lebensabend als Korinthenkacker und Querulant?
Auf eine formulierte Nachricht kann und muss man reagieren, da ist alles klar, und zugleich hat man schon was, womit man arbeiten kann. Wenn man einen »entgangenen Anruf« enthält, muss man aber anfangen, Optionen abzuwägen: Ignorieren? Reagieren? Und wenn ja, wie? Man kann natürlich bei der nächsten Begegnung sagen: »Du, ich hab gesehen, dass du mich angerufen hast. Hinterlass mir doch nächstes Mal bitte eine Nachricht, damit ich weiß, worum’s geht.« Ein ziemlicher Aufwand, und auch wieder mit seltsamem Beigeschmack: Plötzlich fängt man an, seine Telefonkontakte zu erziehen.
Vielleicht regelt sich das in den nächsten Jahren von selbst. Manchmal klappt so was ja: Ohne dass es je offiziell irgendwo verkündet wurde, haben wir uns darauf verständigt, was die Lichthupe bedeutet (von hinten: Mach Platz, du Idiot; von vorne: Dann fahr halt du zuerst). Es könnte aber auch sein, dass der »entgangene Anruf« sich zum Dauermissverständnis entwickelt wie die Rolltreppe (bei der seit 1925 keine Einigkeit darüber besteht, ob sie zum Gehen oder zum Stehen ist).
Im Bemühen, sich möglichst effizient zu verhalten, haben alle, die einen anrufen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, also das Gegenteil erreicht: Alles ist komplizierter und nerviger geworden. Danke, Leute. Das kriegt ihr zurück. Und zwar buchstäblich. Der einzige Weg, ebenso schnell und wirkungsvoll auf die Nachricht zu reagieren, die keine ist: selbst kurz beim anderen durchklingeln und auflegen, bevor er selbst oder die Mailbox rangeht. Dann hat man auf keine Nachricht mit keiner Nachricht reagiert, und damit ist dann entweder alles gesagt oder der andere ist dran und kann sich Gedanken machen: Entgangener Anruf ohne Mailboxnachricht – zurückrufen oder nicht?
Illustration: Andy Rementer