Geisterfahrer

Als der Portugiese Luis seine alte Xbox anschließt, mit der er als Kind oft gespielt hat, ist seine Freude groß: Dort ist sein längst verstorbener Vater noch lebendig.

Inzwischen hat Luis seinen Vater auf allen Strecken besiegt - nur auf einer nicht.

Illustration: Anna Parini

Das Lieblingsauto des Vaters war der Subaru Impreza WRX in Blau-Metallic, ein Turbo-Allradler, viertürig, mit Stufenheck. Sein Sohn Luis fuhr immer den Mitsubishi Lancer Evo VI. »Der war knallrot, und auf der Kühlerhaube prangte die Ziffer 1, das musste einfach mein Auto sein«, sagt er heute. »Mein Vater mochte am Subaru, dass er besser zu steuern war als die Konkurrenzautos.«

2002 schenkte der Vater seinem Sohn die Spielekonsole Xbox zum vierten Geburtstag. Bald verbrachten Vater und Sohn Stunden um Stunden auf den virtuellen Rennstrecken des Spiels RalliSport Challenge. Die beiden lieferten sich wilde Verfolgungsjagden auf vereisten Bergstraßen oder quer durch die Wüste. Von Zeit zu Zeit, wenn der Sohn im Bett lag, spielte der Vater auch allein. Dann im Karrieremodus, da geht es darum, verschiedene Strecken möglichst schnell entlangzurasen, ohne die Konkurrenz anderer Autos. Bei diesem Zeitfahren holte der Vater aus seinem Subaru heraus, was ging, und schlug seine eigenen Rekorde ein ums andere Mal.

Doch dann hatten die Xbox-Fahrten ein jähes Ende. An einem Wintermorgen im Jahr 2003 war der Vater mit Luis’ Halbschwester auf einer Landstraße in Portugal unterwegs. Plötzlich sackte er am Steuer seines Geländewagens zusammen – Herzinfarkt. Der Tochter gelang es, den Wagen an den Straßenrand zu lenken. Der Vater, von Beruf Feuerwehrmann, war noch eine Weile bei Bewusstsein und versuchte, sein eigenes, versagendes Herz zu massieren. Er starb auf dem Weg ins Krankenhaus.

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Luis war beim Tod des Vaters fünf Jahre alt. Die Xbox rührte er jahrelang nicht mehr an – zu schmerzhaft wären die Erinnerungen gewesen. Dafür spielte er jede Menge andere Computerspiele. Heute studiert Luis Grafikdesign. Er zeichnet Drachen und andere Fabelwesen und animiert sie in 3-D. Sein Traum ist es, als Trickfilmzeichner zu arbeiten oder selbst Videospiele zu kreieren – am besten beides.

Mehr als zehn Jahre sind seit dem Tod seines Vaters vergangen, als Luis eines Tages doch wieder die Xbox hervorholt. Er schließt die Konsole an den Bildschirm an und wählt natürlich das Auto, mit dem er schon als Kind fuhr: den roten Mitsubishi mit der Nummer 1. Schon beim ersten Rennen geschieht etwas Ungewöhnliches: Luis wird von einem anderen Rennwagen überholt. Das Auto erscheint halb durchsichtig auf dem Bildschirm, ein »Ghost Car«. Luis erinnert sich an diese spezielle Funktion des Spiels RalliSport Challenge: Die Fahrten des Rekordhalters werden gespeichert, andere Spieler können mit dessen »Ghost Car« um die Wette fahren. Zuerst denkt Luis, er führe gegen seinen eigenen Streckenrekord. Erst als er nach dem Rennen die Bestzeiten prüft, erkennt er, dass es der Vater mit seinem Subaru war, der ihn überholte. Seit zehn Jahren ist der Vater tot – auf den Straßen des Computerspiels aber auf wundersame Weise da.

»Ich konnte es kaum fassen«, erzählt Luis. »Ich erinnerte mich wieder an seinen Fahrstil: wie er erst mal ausholt, bevor er in die Kurve geht, und sie dann früh anschneidet, um Zeit zu gewinnen. Immer und immer wieder fuhr ich mit dem Subaru um die Wette, genau wie früher.« Luis verbringt nun wieder viel Zeit mit der Xbox. Dennoch hat er lange Mühe, seinen Vater zu schlagen – »glücklicherweise«, denn jeder gespeicherte Rekord des Vaters wird bei einem Sieg des Sohnes vom System gelöscht.

Inzwischen hat Luis den Vater auf den meisten Strecken besiegt, nur auf einer nicht: einer Bergstraße mit jeder Menge Kurven und schmalen Stellen. »Mich freut es immer wieder, ihn dort mit 200 Stundenkilometern hochbrettern zu sehen!« Luis fährt jetzt so gut, dass er auch dort gewinnen könnte. Aber er möchte nicht. Kurz vor dem Ziel bremst er jedes Mal ab. Und lässt das »Ghost Car« gewinnen.