Wir zwei gegen den Rest der Welt

Unser Autor wollte wieder mehr mit seinem Sohn unternehmen. Also ließ er sich von ihm in einem Ballerspiel zum Computerspiel-Killer ausbilden. Zu seiner Überraschung lernte er dabei einiges über das Leben.

»Ich bin nicht glücklich mit dieser Waffe!«, schreie ich, während das Blastergewehr in meiner Hand überhitzt. Es richtet zu wenig Schaden an, die Zielgenauigkeit ist mies, ich treffe nichts und kämpfe um mein Leben. »Echt?« Mein Sohn bleibt gelassen. »Ich liebe diese Waffe. Du musst mit der Weichheit des Controllers arbeiten, Papa.«

So viele Eltern erzählen von Söhnen, die sie in der Pubertät an den Computer verloren haben. Und dass es dann Jahre dauert, bis die Söhne eines Tages wieder aus ihrem Zimmer kommen, »Tach« sagen und junge Männer sind. Mein Sohn ist zwölf, und ich ahne seit einem Jahr, wie das anfängt. Irgendwann hast du Angst, nicht mehr ins Gespräch zu kommen, Angst, dass der Faden reißt. Am Anfang ist dir dein Kind so nah wie nichts auf der Welt, und dann muss das Kind sich von dir lösen. Klar, aber muss es so weit wegdriften, und warum in die Richtung, aus der das Geballer kommt?

Ich möchte in Kontakt bleiben. Ich möchte ihn weiter verstehen. Und ich bin bereit, dafür einiges auf mich zu nehmen. Zum Beispiel, mich von ihm zu einer Kampfmaschine ausbilden zu lassen, zu einem gnadenlosen, effektiven Killer.

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Also sind wir im Gespräch, immer noch. Oder wieder. Auch wenn dieses Gespräch aus bizarren Sätzen besteht wie: »Okay, Papa, sechs Kills mit Widowmaker, nicht so doll; aber immerhin – zwei Headshots.«

Anfang des Jahres geriet mein Sohn wie Abermillionen andere Menschen auf der Welt in Aufregung, weil die Firma Blizzard Entertainment das neue Computerspiel Overwatch ankündigte. Die Firma hatte bereits mit Spielen wie World of Warcraft unzählige Menschen angeregt, Stunden ihres Lebens mit einem Controller oder einem Keyboard vor einem Bildschirm zu sitzen. Overwatch war schon vor seinem Erscheinen ein legendäres, lang erwartetes und vor allem: für meinen Sohn unerreichbares Computerspiel. Unerreichbar, weil: ab 16. Trotzdem wünschte er es sich zu seinem zwölften Geburtstag. Wünschen kann man sich alles, lernen die Kinder bei uns, das soll auf pädagogische Weise ein wenig hart und weise klingen, aber in Wahrheit kriegen sie dann doch die meisten Wünsche erfüllt.

Und warum nicht Overwatch?, dachte ich. Aus den fast ununterbrochenen Beschreibungen des Kindes wusste ich, dass Overwatch eher eine Zeichentrick- und Manga-Ästhetik hat: Da kämpfen zwar verschiedene Spieler in Teams gegeneinander, da töten sich die Figuren, oder, wie mein Sohn in der Diktion eines Drehbuchlehrers sagt, die »Charaktere«, aber diese Charaktere sind wie im Comic bunt und verspielt, sie haben ganz unterschiedliche, komplexe Fähigkeiten, da ist ein relativ tumber Soldat ebenso darunter wie eine Scharfschützin mit französischem Akzent, ein mit seltsamen Cyborg-Dreadlocks ausgestatteter Heiler-DJ, der sein Team mit Musik wieder gesund machen kann, und eine Art Polarforscherin, die mit Eiszapfen schießt. Ich sah mir ein paar Bilder und Filme an und dachte: Das ist doch Quatschkram, das schadet einem Zwölfjährigen nicht, jedenfalls nicht unter meiner Aufsicht.

Eine der Hauptaufgaben von Eltern mit Kindern ab dem Grundschulalter ist heute, diese Kinder auf dem Weg in die digitale Welt zu begleiten, also: ihnen auf diesem Weg so gut es geht hinterherzuhecheln. Diese Aufgabe fällt in meiner Familie mir zu, weshalb ich mir von der achtjährigen Tochter oft »Do it your- self Inspiration«-Videos auf Youtube zeigen lasse, so oft, dass ich mitunter meine eigenen Alltagshandlungen innerlich mit Sätzen untermale wie: »Ich zeige euch heute mal, wie man ein müdes Mittvierziger-Gesicht rasiert, das ist supereinfach.«

Es begann nun also das Zeitalter von Overwatch. Mein Sohn und ich würden »bonden« wie nur was durch diese gemeinsame Erfahrung. Wir besitzen nur eine Playstation, pro Gerät kann bei diesem Spiel immer nur einer mitmachen, also spielen wir abwechselnd. Die Gefechte mit anderen Menschen, die irgendwo auf der Welt auf ihrem Sofa sitzen, dauern zwischen fünf und zwanzig Minuten. Man entscheidet sich erst mal für eine Figur, die man aber zwischendurch wechseln kann, es sind mehr als zwanzig mit unterschiedlichen Fähigkeiten, die zu gewissen Zeiten abrufbar sind oder nicht, über mindestens acht verschiedene Tasten auf dem Controller. Ich hatte es mir weniger kompliziert vorgestellt, mit meinem Sohn im Gespräch zu bleiben.

Die Orte, um die man kämpft, sind angelehnt an touristische Ziele in Japan, Griechenland, Mexiko oder England, sie sehen aus, als hätte ein Reiseleiter sie unter dem Einfluss von halluzinogenen Pilzen einigen Manga-Zeichnern beschrieben.

Was mich überrascht und überfordert, ist neben der Komplexität der Bedienung (ein gutes Dutzend Tasten am Controller) bei gleichzeitiger Primitivität der Agenda (andere töten) die Strenge meines Sohnes. Als ich im Trainingsmodus des Spiels daran scheitere, ein paar Roboter mit Blasterschüssen zu zerlegen, sagt er, durchaus bedauernd: »Du bist so ein Noob, Papa«, also ein blutiger und nicht besonders intelligenter Anfänger (stammt ab von »Newbie«, wird meistens »n00b« geschrieben). Dann erklärt mir das Kind mit einer gewissen Gravitas in der Stimme: »Über diese Art Spiel sagt man: Easy to learn, hard to master.« Als ich gerade anfangen will, über die philosophische Dimension dieser Maxime zu sinnieren, insbesondere darüber, dass man sie auf ganz viel anwenden kann, was meinem Sohn im Laufe seines Lebens begegnen wird, sagt er: »Du wirst merken, was das bedeutet.«

Ich werde, um das kurz vorwegzunehmen, ein ums andere Mal gnadenlos »gewreckt«, also zerstört, von der ersten Sekunde an stellt sich eine Hierarchie zwischen meinen Fähigkeiten und denen meines Sohnes ein, die sich nicht wieder umkehren wird: Wir beginnen beide am selben Tag, im selben Augenblick mit Overwatch, aber er kann das irgendwie, und ich kann das irgendwie nicht. Und ich merke, dass das gut ist, weil es unser Verhältnis aufmischt. Seitdem ich etwas, was ihm wichtig ist, viel, viel schlechter kann als er, ist er freundlicher, geduldiger, liebenswürdiger mit mir im Alltag.

Ich merke aber auch, dass es mich wütend macht. Es gibt Nachmittage, die damit enden, dass ich den Controller durchs Wohnzimmer schmeiße und mir die Haare raufe, weil ich so gut wie keine »Kills« habe und schon wieder gestorben bin und weil mein Sohn einmal zu oft mit der enttäuschten Geduld des Lehrers fragt, warum ich denn nicht »mit der Weichheit des Controllers« spiele. Es geht so weit, dass ich mich selber frage: Ja, warum eigentlich nicht, warum kann ich diese fließenden, eleganten Bewegungen nicht, mit denen das Kind durchs Spiel navigiert, zwischen Waffen und Fähigkeiten wechselt, sich auf Dächer schwingt und im Fliegen schießt, warum ist bei mir alles so ruckartig und planlos, lebe ich am Ende mein ganzes Leben so, viel zu hart, viel zu abgehackt?

Machen wir uns nichts vor: Bei Overwatch geht es ums Töten oder Getötetwerden. Die handelnden Personen sind Roboter, Cyborgs oder Fantasiewesen – trotzdem. Es geht nicht, wie eine Freundin von uns dachte, deren Kinder auch seit Monaten immer über Overwatch reden, darum, Muffins im Ofen zu backen und sie rechtzeitig herauszuholen, damit sie nicht anbrennen. (Die Freundin dachte, das Spiel hieße »Ovenwatch«: Ofenwache.) Nein, hier geht es um die letzten Dinge, und vielleicht lädt das Spiel mich, den Vater in den mittleren Jahren, deshalb zu metaphorischen Betrachtungen ein. Einmal, als ich auf dem Sofa sitze und mich mit existenzieller Erschöpfung in der Stimme sagen höre: »Warum bin ich so schlecht?«, antwortet mein Sohn: »Ach, Papi, du machst eigentlich nur zwei Sachen falsch: Du hast keine Orientierung, und du setzt deine speziellen Fähigkeiten nicht richtig ein.« Ich nicke, denn er hat recht: Es ist mir wieder nicht gelungen, in der Figur des »Junkrat« im richtigen Moment das Zackenrad für eine ordentliche Killstreak zu aktivieren. Zugleich klingen die Worte meines Kindes entfernt nach meiner eigenen Stimme, wenn ich an schlechten Tagen mein Leben begutachte.

Ich spüre eine fast vergessen geglaubte Nähe zum frühpubertären Zwölfjährigen, während wir spielen. Eine Nähe jedoch, die auf ethisch zweifelhafte Weise zustande kommt. Das Spiel ist zwar nicht im engeren Sinne gewaltverherrlichend – aber ohne Gewalt würde das Spiel nicht existieren. Es ist interessant, wie dehnbar und leistungsfähig mein Rechtfertigungszentrum im Hirn wird, wenn es um diesen Aspekt von Overwatch geht. Ich lehne Gewalt prinzipiell und aus Furcht ab. Und doch scheint mir hier der Einsatz von Gewalt gerechtfertigt. Während ich zusehe, wie geschickt mein Sohn in der Figur der Scharfschützin »Widow- maker« mehrere sehr gezielte und für unser Punktekonto wichtige Treffer setzt, denke ich: Andere Eltern speisen ihre Kinder mit gewalttätigen Videospielen ab, um ihre Ruhe zu haben, ich dagegen begebe mich in das gewalttätige Videospiel, um meinem Kind nahe zu sein. Das muss doch was wert sein auf dem Eltern-Karma-Ethik-Gewaltverherrlichungskonto!

Als vor Monaten in München ein Schüler neun Menschen tötete, waren wir im Urlaub, weit weg von der Konsole. Worüber ich froh bin. Nicht, weil die Bilder des Spieles zu nah an der Wirklichkeit wären, das sind sie nicht. Und nicht, weil ich an den direkten Zusammenhang zwischen Amokläufen und Computerspielen glaube, den im Juli wieder einmal der Innenminister herstellte. Es ist bewiesen, dass der Zusammenhang nicht kausal und das ganze Thema sehr komplex ist. Nein, ich war froh, für den Moment weg von Overwatch zu sein, weil mich die Sprache erschreckt, das Gerede von den »Kills« und den Kopfschüssen. Ich fand keinen Weg, das für mich aufzulösen, aber als wir wieder zurück waren, stellte ich fest, dass ich es nach einer Weile wieder rein als das martialische Brimborium eines irrealen Spiels sehen konnte. Oder ich redete es mir schön, weil ich anfange, die Nähe zu meinem Sohn zu vermissen, wenn wir eine Weile nicht gespielt haben.

Und so übernehme ich den warmen Controller von meinem Kind, und es gilt wieder, sich für die Figur einer heiteren englischen Pistolenschützin namens »Tracer« zu entscheiden oder für einen pittoresken Roboter namens »Bastion«, der sich in ein Geschütz verwandeln kann und immer von einem Kanarienvogel umschwirrt wird. Beide Figuren sind vergleichsweise einfach zu spielen und darum für mich geeignet.

Trotzdem sterbe ich oft, und die zweite Seite der Gewalt im Spiel ist, dass man sie selbst erfährt, und die leichte Melancholie, die einen dann umfängt: Unmittelbar nach dem eigenen Tod wird die »Killcam« aktiviert, sie führt einem aus der Sicht dessen, der einen abgeschossen hat, vor, wie man stirbt. Wir deaktivieren diese Funktion bald, weil sie auf mich stark demoralisierend wirkt. Es ist, als könnte ich meine Kündigung im Nachhinein noch mal aus der Sicht meiner Chefin sehen oder die Verarschung in der Autowerkstatt aus der Sicht des Mechanikers. Aber nach einer Weile sagt mein Sohn: »Ich glaube, ich mache die Killcam wieder an, es ist wichtig für dich, daraus zu lernen, du wirst sehen, du bewegst dich nicht genug, und du musst mit der Weichheit …« Schon klar.

Aber es stimmt, was er sagt. Sich selbst sterben zu sehen hat etwas Instruktives. Ein anderes Feature, das mich noch melancholischer macht als die Killcam, funktioniert so: Während die eigene Figur tot ist, kann man aus dem Blickwinkel von jemand anderem sehen, wie der das Spiel erlebt. Was für eine plastische Vorstellung von der Hölle: Man stirbt und muss ab da zusehen, wie Nachbar X oder Kollege Y im Leben weiter vor sich hin nulpt.

Die Nebenwirkungen nach einem halben Jahr Overwatch sind spürbar: Manchmal haben Leute, die mir auf der Straße entgegenkommen, für eine Sekunde diese roten Umrisse, mit denen im Spiel die Feinde markiert sind. Eine weitere Nebenwirkung ist, dass ich, wie immer beim Erziehen, nach ein paar Wochen den Plan um- und die Prinzipien über Bord werfe und dem Kind erlaube, doch allein zu spielen. Ich bin einfach zu schlecht. Aber das Kind sagt, dass es ihm gar nicht so viel Spaß macht, allein zu spielen, ob ich denn nicht bitte zuschauen könne. Ich seufze, aber dann macht es mir Freude, es ist wie Actionkino ohne sinnvolle Handlung, also wie ein Michael-Bay-Film, nur viel besser. Denn an mir lehnt leicht das große Kind.

VOLLTREFFER

Overwatch ist ein Multiplayer-Ego-Shooter-Computerspiel für PC oder Konsolen wie Playstation und Xbox. Anders gesagt: ein Ballerspiel, in dem die Spieler online in einer 3-D-Welt gegeneinander kämpfen. Der Erfolg solcher Spiele begann in den Neunzigern mit Wolfenstein 3-D, Doom und Counter-Strike. Seit jeher sind sie wegen ihrer Gewalt umstritten – es gibt aber auch Studien, nach denen Team-Varianten wie Overwatch das Sozialverhalten fördern. In der Unterhaltungsindustrie haben manche Spiele, was die Umsätze angeht, den klassischen Hollywood-Blockbuster übertroffen: Als Overwatch im Mai 2016 erschien, nahm die Herstellerfirma innerhalb eines Monats fast eine Viertelmilliarde Euro damit ein, aktuell gibt es mehr als 20 Millionen registrierte Overwatch-Spieler. Von der populärsten Ego-Shooter-Serie Call of Duty sind in 13 Jahren rund 200 Millionen Spiele verkauft worden.

Illustration: Jade Schulz