Ich lag bäuchlings. Und rücklings. Auf der linken Seite. Der rechten. In Fötusstellung. Halb aufrecht, halb sitzend, halb schlafend. Nach diesem Fernsehmarathon weiß ich, Serien schaut man am besten in der Horizontalen. Ich habe allerdings nicht irgendeine Serie gesehen, sondern die Königin aller Serien: Game of Thrones. Sechs Tage, sechs Staffeln, 60 Folgen und nahezu 60 Stunden.
Es beginnt alles mit einem harmlosen Gespräch im Freundeskreis. »Das mit Hodor hätte ich nie gedacht - sooo traurig«, sagt meine Freundin. Bis auf mich stimmen ihr alle zu. Ich weiß nicht, wer Hodor ist. Überhaupt schaue ich keine Serien. Vielleicht aus intellektueller Überheblichkeit. Vielleicht aus Selbstschutz. Es ist wie mit den Chips, die man nicht kauft, weil man weiß, dass die Tüte leer ist, bevor man die Couch erreicht.
Sicher, ich schaue Filme. Art House, Drama, Biopics. Auch Hollywood. Alejandro González Iñárritu oder Christopher Nolan. Aber Serien? Dabei sind Serien, so hört man seit Jahren, die neuen Filme. Aufwendige Produktionen mit Schauspielern wie Kevin Spacey oder Billy Bob Thornton. Es gibt Fanartikel, Fanseiten, Foren, Communities, Serienabende in Bars. Ein echter Fan kampiert schon mal während der Dreharbeiten in Nähe desSets. Oder reist nach Island und badet in der Grotte, in der Jon Snow (einer der Protagonisten von Game of Thrones) seine Unschuld verliert.
Nur ich nicht. Ich bleibe daheim. Allein mit meinen Büchern. Doch als sich meine Freunde am nächsten Freitagabend wieder zu einem Game-of-Thrones-Abend verabreden, denke ich mir, ich will auch dazugehören. Ich will auch Game of Thrones sein. Und wenn schon, denn schon: alle Folgen hintereinander. Ich leihe mir alle Staffeln aus, nehme mir sechs Tage frei, mache Urlaub von meinem sonstigen Leben, meinen Interessen und Bedürfnissen. Bestücke Kühl- und Gefrierschrank, speichere die Nummer vom Lieferservice im Handy. Ich bin bereit.
Nach den ersten zwei Folgen weiß ich nicht, ob ich mehr nackte Brüste oder rollende Köpfe gesehen habe, mehr Hintern oder Eingeweide. Später beißt ein Wolf einem bärtigen Krieger den Finger ab, woraufhin dieser hämisch lacht. Realismus nennen das meine Freunde. Denn das Leben sei brutal. Genau wie die Serie. So blutig kenne ich das Leben gar nicht.
Ich glaube, die Untoten, Riesen, Geister, Steinmenschen und Urwesen sollen nicht realistisch sein. Leider hatte ich für Fantasy nie viel übrig. Ebenso wenig wie für das Mittelalter. Auf mich wirkt es wie Herr der Ringe gemischt mit Splatter, Softporno und etwas Habsburger Romantik, sage ich meiner Freundin. Es gäbe die Drei-Folgen-Regel, erwidert sie. Erst nach der dritten Folge dürfe ich entscheiden, ob mir die Serie gefällt.
Meine Freundin kennt natürlich bereits alle Folgen. Sie sagt, sie würde nur ein, zwei davon mitschauen. Aus ein, zwei werden sechs, sieben, acht – und es ist, als hätte ich die Kommentarfunktion eingeschaltet. Bald weiß ich, wer wie viele Kinder hat, wer mit wem befreundet ist, wer wieviel pro Folge verdient.
Dann mache ich einen Fehler: Ich kritisiere irgendwas. Warum genau, daran erinnere ich mich nicht mehr. Woran ich mich aber erinnere, ist der daraufhin folgende Streit und dass ich nie zuvor mehr Platz in unserem Bett hatte. Sie auf der einen Seite. Ich auf der anderen. Sie das Haus Stark. Ich das Haus Lannister. Nein, ich Stark, sie Lannister.
Zumindest weiß ich jetzt, dass man sich Fans gegenüber nicht unbedacht äußert. Im Idealfall gar nicht. Eigentlich habe ich keine Lust mehr. Stimmt nicht: Eigentlich hatte ich nie wirklich Lust. Aber ich muss da durch. Ich muss - wie würde ein wahrer Game-of-Thrones-Fan sagen? - kämpfen wie ein Krieger der Unbeflecktenarmee. Man gewöhnt sich an alles, rede ich mir ein, auch an Game of Thrones.
Und tatsächlich. Langsam tauche ich in die Geschichte ein. Unterhaltsam ist die Serie allemal. Der Plot ist gut ausgearbeitet, manchmal sogar überraschend. Die Schauspieler sind fast alle gut, manche sogar herausragend. Die Figuren werden mit jeder Folge facettenreicher, vielschichtiger. So hangle ich mich voran. Von Cliffhanger zu Cliffhanger.
Hinter den Gardinen steigt und sinkt die Sonne. Geräusche des Tages ziehen vorbei. Doch das Draußen wird mir allmählich egal. Die Menschen, die an der Tür klingeln. Die E-Mails in meinem Posteingang. Alles egal, auch ich bin mir egal. Zähneputzen? Egal. Duschen? Egal. Ich brauche diese Welt nicht mehr. Ich habe eine neue. Mit Westeros und Essos. Mit Drachen und Hexen. Und ja, das mit Hodor ist wirklich traurig.
Anfangs versuche ich noch, nebenbei aufzuräumen, zu bügeln oder mich anderweitig zu betätigen. Doch die Erdanziehungskraft ist stärker und zieht mich zurück auf die Couch. So lerne ich nicht nur, dass die natürliche Position bei einem Serienmarathon die Horizontale ist. Sondern auch, dass das dazu passende Nahrungsmittel Pizza heißt. Warum, weiß ich nicht, aber vor dem Fernseher schmeckt sie einfach besser. Außerdem lerne ich, dass Sucht sich potenziert, wenn man ihr nur genügend Raum zur Entfaltung bietet.
Ohne die in den letzten zwei Tagen zunehmenden Kopfschmerzen hätte ich wahrscheinlich gar nicht bemerkt, wie schnell alles vorbei ist. Daran ändern nicht einmal die Handlungsstrukturen etwas, die sich zum Ende hin wiederholen. Vermutlich ist das der Nachteil des Serienmarathons. Dass so alles etwas wiederholt und gedrängt wirkt. Dass mir das sehnsüchtige Warten zwischen den Folgen fehlt, der Tag mit harter Arbeit und dann die ersehnte Erholung.
Als ich das Haus das erste Mal wieder verlasse, wirkt alles unecht. Ich betrachte die Menschen und überlege, was für Figuren, was für Kämpfer sie sein könnten. Ich bin bereit für Abenteuer, Heldentaten, Kämpfe, Schlachten. Für Sex und Blut. Doch die – das wird mir alsbald bewusst – gibt es hier nicht. Der Welt fehlt Realismus, könnte man sagen.
Ja, Game of Thrones thematisiert Macht, Religion, Ehre, Liebe und Leid. Aber wo ist diese große Wahrheit, die uns in den unsterblichen Werken der Kunst begegnet? Dieses Gefühl, das uns lange Zeit nicht verlässt, auch wenn wir das Buch zugeklappt oder das Kino, das Theater, die Oper, das Museum verlassen haben?
Und doch habe ich ein Gefühl. Ein Gefühl der Leere. Vielleicht weil mir nach sechs Tagen nichts bleibt außer Lebensatrophie. Vielleicht aber auch, weil die Staffel vorbei ist, die Geschichte aber noch nicht. Werde ich mir die siebte Staffel anschauen? Nein! Ich meine, ja. Ich meine, jaein.