Vor einiger Zeit im Kino: Willkommen bei den Hartmanns. Hussein und Saladdin* kicherten anderthalb Stunden durch, ihr Deutsch ist mittlerweile ziemlich gut, und jedes Mal, wenn Senta Berger auftauchte und ein Begrüßungsschild oder den Zeigefinger hochhielt, Post-its mit deutschen Vokabeln an Gegenstände klebte und ein volles Weinglas schwenkte, flüsterten die Jungs: »Das bist DU!«
Na herzlichen Dank auch! Sahen sie mich damals so? Sehen sie mich heute so? Dachten, denken sie überhaupt über mich nach, wer ich war, wer ich bin, warum ich das tat, warum ich das tue? Haben sie mich gern oder nur billigend in Kauf genommen? Und ist das überhaupt wichtig?
Ein Rückblick. Für eine Selfiestangen-Krampfgeburt ist unser Willkommensfoto ganz lustig. Der Große posiert links, der Kleine rechts, ich verschwimme, mit Lesebrille und iPhone jonglierend, hinten auf dem Sofa, über mir hängt Friedrich Schiller, daneben Warhols grelle Marilyn. Das kleine Apartment neben meinem hatte ich im Januar 2016 möbliert übernommen, um mir ein Schreibbüro einzurichten. Im Frühjahr stand der Umbau an. Bis dahin würde dieses kleine Apartment noch unbewohnt sein, es sei denn, ich nähme einen Flüchtling auf.
Die Idee war mir eine Woche vorher gekommen, als ich von einem anderthalbmonatigen Einsatz in einem Hospiz aus Jerusalem zurückkehrte (spätestens an dieser Stelle, so ein Testleser, deute sich mein Sockenschuss an) und an einen wütenden Berliner Taxifahrer geriet. Er berichtete von schrecklichen Zuständen, die die »Flüchtlingswelle« in Deutschland ausgelöst habe. Er selbst hatte nie einen Flüchtling gesehen, er kannte auch keinen, der einen kannte, war aber durch »die Medien« im Bilde: Um unser Land stand es schlecht!
Zu Hause angekommen, befragte ich meine Nachbarn. Auch von ihnen hatte bisher niemand einen Flüchtling persönlich getroffen. Was sie davon hielten, fragte ich, wenn ich vorübergehend einen aufnehmen würde? Alle fanden das okay. Nach fünf Tagen voller ergebnisloser Telefonate mit Ämtern traf mein Enthusiasmus auf den eines kleinen Vereins, der sich unbürokratisch für homosexuelle Migranten engagierte.
Eine müde Frau lieferte die Jungs zwei Tage später bei mir ab. Ich solle ihnen eine klare Ansage machen, wozu ich bereit sei und wozu nicht. Bei Problemen jedweder Art solle ich mich bei ihr melden.
Eigentlich hatte ich nur einen aufnehmen wollen, am liebsten eine Frau. Klar, alle wollen eine Frau. Lieb, still, schmutzt nicht. Aber es sind nur wenige alleinstehende Frauen durch Wüste und Ozean geflüchtet. Der Verein hatte mir zwei junge Männer vermittelt, ein schwules Paar aus Thüringen. Das heißt, aus Syrien, aber aktuell aus Thüringen. Es ist mehr als ein Jahr her, und wenn mir ich die Fotos von damals anschaue, entfaltet sich unsere Geschichte wie eines jener Pop-up-Märchenbücher meiner Kindheit.
Die Täler und Berge, die wir miteinander durchwanderten, sind erst im Nachhinein blühende Landschaften geworden. Alle Missverständnisse, Ärgernisse und Enttäuschungen, alle Freuden, Rührungen, Momente der Nähe lagen damals noch vor uns. Und wir ahnten es nicht. Oder ahnten wir es?
Der Große, Hussein, Prinzessin aus Tausendundeiner Nacht, biegt freundlich-distanziert den Daumen ins Bild, ohne sein gut sitzendes T-Shirt zu verdecken, der Kleine, eine fröhlich krähende Knutschkugel namens Saladdin, zeigt alles, was er hat: Muskelhemd, Bizeps, Tattoo. Wir haben viel gelacht in jenen ersten Tagen. Verlegenheitslachen, Vertrauen-weck-Lachen, Verständnis-such-Lachen.
Am Tag nach dem Einzug klingelten Freunde, ein schwules Ehepaar aus meinem Haus, um Hallo sagen und die Jungs auszuchecken. Ich brauche mir keine Sorgen zu machen, sie seien »viel zu schwul, um Terroristen zu sein«, sagten meine Nachbarn später wohlgelaunt. Die Stimmung war gut. Wir erzählten den Jungs, worum es gegangen war. Und lachten wieder. Und zwar alle. Und zwar laut.
Mit Ausnahme einer paranoiden Attacke 14 Tage später, als halb Berlin wegen eines Staatsbesuchs von Netanjahu abgesperrt war und ich, weil ich sie telefonisch nicht erreichte, plötzlich fürchtete, die Jungs seien doch islamistische Selbstmordattentäter – habe ich ihnen von da an vertraut.
Und das, obwohl ihre Vorgeschichte sich täglich zu ändern schien. Zum Beispiel waren sie keine Syrer, wie vom Verein angekündigt. Jedenfalls Hussein, der Große, nicht. Er war Palästinenser und kam aus Gaza. Einige Tage später erzählte er, er sei zwar Palästinenser, habe aber in Dubai BWL studiert und schon seit einigen Jahren in den Vereinigten Arabischen Emiraten gelebt. Aha. Ich fühlte mich wie jemand, der das Stethoskop auf ihre Brust setzt, ohne überhaupt Arzt zu sein.
Aber schwul seid ihr schon? Ja, schwülll (sie riefen das deutsche Wort)! Und tatsächlich ein Couple? Ja, ein Couple. Und eure Familien sind wo?
Der Kleine erzählte. Der Vater sei früh gestorben, die Geschwister im Nahen Osten verstreut, die Mutter bei Verwandten in Aleppo. Er selbst komme aus Damaskus. Aber nicht direkt. Er sei vor der Flucht eine Weile in der Türkei gewesen. Wie lange? Weile!
Die beiden hatten sich auf dem Weg nach Deutschland kennengelernt, oder vorher, jedenfalls außerhalb von Syrien und Gaza, und waren dann mit einem jener Gummiboote gekommen, die wir aus den Nachrichten kennen.
Kurz nachdem sie deutschen Boden betreten hatten, machte sich ein Fernsehteam über sie her. Sie wurden während einer Deutschstunde für Flüchtlinge über Mülltrennung befragt. Ich sah mir den Beitrag im Internet an und konnte es nicht fassen. Eine Matrone kujonierte meine Jungs mit leeren Tetrapacks, der Kleine musste vor der Kamera Papier und Plastik sortieren, der Große die Farben der Mülltonnen aufsagen.
Die Jungs wiesen sich seit der Einreise mit zerknickten, abgegriffenen A4-Zetteln aus, auf denen ihre Namen, undeutliche Fotos, die Adresse ihres Flüchtlingsheims und das Datum ihrer Aufnahme standen.
Sie sprachen Englisch und hatten beim Überwintern in einem aufblasbaren Übergangscamp in Thüringen einige deutsche Vokabeln aufgeschnappt. »Natullisch« oder »Gennnau!« sagten sie, wenn Zustimmung erforderlich war, »Achsooh«, wenn ihnen etwas einleuchtete, und »Wassloss«, wenn sie jemanden begrüßten. Saladdin, der Kleine, erzählte, wie er einmal in Thüringen einer Frau helfen wollte, die auf der Straße ausgerutscht und hingefallen war. »Wassloss!«, hatte er gebrüllt und war auf die Liegende zugestürzt. Die Frau hätte daraufhin mit dem Schreien gar nicht mehr aufgehört.
Sie versuchten, der Situation etwas Komisches abzugewinnen. »Na du Fluschtling!« – »Selba Fluschtling!« – »Vou look like a Fluschtling!« – »Look at you, Fluschtling!«
Die müde Frau vom Verein hatte bei der Ablieferung der Jungs erwähnt, dass die beiden illegal in Berlin seien und Polizeikontrollen vermeiden müssten, aber sie hatte nicht gesagt, dass sie nur die Hälfte des Geldes zur Verfügung haben würden, das Thüringen ihnen bereitstellte, weil pro Person für Unterkunft, Verpflegung, medizinische Versorgung bereits vorab über 200 Euro abgezogen würden. Sie hatte nicht erwähnt, dass die beiden in Berlin U-Bahn-Fahrkarten brauchen würden, Lebensmittel, Kleidung, Sachen aus der Apotheke, einen Arzt. Dass sie immer wieder nach Thüringen fahren müssten, um so zu tun, als lebten sie noch dort im Camp. Dass auch das Geld kosten würde. Und dass all das nun mein Problem wäre. Und überhaupt, machte ich mich hier eigentlich strafbar?
In Thüringen waren Hussein und Saladdin nicht sehr populär gewesen. Außerhalb des Camps, weil Araber, innerhalb, weil schwul. Auf eigene Faust waren sie mit dem Flixbus nach Berlin gefahren, um bei dem Verein zur Unterstützung von homosexuellen Migranten Hilfe zu finden. Dem Großen, der manchmal etwas schnippisch wirkte, hatten die arabischen Alphamännchen im Camp schon ein Veilchen gehauen.
Jetzt waren sie sicher, sie würden endlich Zeit miteinander verbringen können, Ruhe haben, warmes Wasser, eine Privatsphäre. Sie würden in meinem Viertel jede Menge Schwulenbars finden, Hand in Hand gehen können, ohne aufs Maul zu kriegen, ihr Frühstückscafé würde »Romeo und Romeo« heißen, das alles musste ihnen ja geradezu paradiesisch vorkommen. Oder höllisch? Wie Sodom und Gomorrha?
Nicht sicher, was sie überhaupt essen würden, hatte ich als Willkommensgruß ein Sechserpack hart gekochte knallbunte Eier von Kaiser’s in den Kühlschrank gelegt. Erst Wochen später erzählten sie mir, was damit geschehen war. Sie hatten die Eier gefunden, geschüttelt, daran gerochen und sie für rituelle heidnische Gegenstände gehalten. Später ergoogelten sie, dass das »Ostereier« seien und das letzte Osterfest bereits fast ein Jahr zurücklag. Irgendwann war die Neugier so groß, dass sie die Eier aufschlagen und braten wollten, um sie dann, als ihr weißer gummiähnlicher Inhalt zum Vorschein kam, erschrocken wegzuwerfen.
In den zweieinhalb Monaten waren die Jungs nicht nur meine Nachbarn. Wir lebten wie eine Familie. Ich gab ihnen Deutschunterricht, kaufte ihnen Klopapier, fuhr mit ihnen auf den Fernsehturm, telefonierte mit Behörden, machte zwei Feste für unsere Hausgemeinschaft.
Mir war bewusst, dass diese jungen Männer mir vollkommen ausgeliefert waren. Sie konnten nicht Nein sagen zu meinen Vorschlägen, die von Deutschunterricht über Stadtbesichtigung bis hin zu »arabisch kochen für die Nachbarn« reichten. Sie mussten mit mir, meinen Hoffnungen, Enttäuschungen, persönlichen Krisen klarkommen. Und auch wenn es ihnen weit besser ging als im Camp, machte die Anwesenheit einer übergriffigen Gastmutter sie auf andere Art und Weise unfrei. Meine Vorträge über Safer Sex, Drogen und schlechten Umgang mussten sie ebenso über sich ergehen lassen wie diverse Ansagen, dass der Müll raus muss. Von meinen Nachbarn, obwohl einige kaum Englisch sprechen, wurden die neuen Hausbewohner mit offenen Armen empfangen. Aber der Mai rückte näher. Immer wieder mahnte ich, sie müssten sich eine neue Bleibe suchen, und die Vorstellung, dass sie zurück ins Flüchtlingslager müssten, machte mich krank.
Mein Ton wurde schärfer, fordernder, ihrer wurde trotziger. Warum konnte nicht alles so bleiben? We love you so much, guest mom!
Ich rief beim Verein an, um die müde Frau zurück ins Boot zu holen. Aber sie war wegen Burn-outs in der Klinik, mein Fall ihren Kollegen unbekannt – die Schattenseite von schnellem, unbürokratischem Handeln. Ein Mitarbeiter des Vereins versprach, sich zu kümmern. Parallel ging ich zu einem Einwanderungs-Anwalt, um herauszufinden, wie den Jungs zu helfen sei. Sie müssen zurück nach Thüringen, wo sie gemeldet sind, sagte der. Und dass sie nur heiraten könnten, wenn vorher rauszufinden sei, ob sie in ihren Herkunftsländern schon Ehefrauen hätten. Frauen? Die beiden sind doch schwul! Ja, ungeoutet. Ich verhörte die Jungs: Habt ihr zu Hause Frauen, Kinder? Sie verneinten. Ich weiß nicht, ob sie die Wahrheit sagen. Die Bescheinigung konnte jedenfalls nie beschafft werden.
Ich fuhr zu einer Freundin, die außerhalb Berlins in einer ökologischen Gemeinschaft lebt. »Ihr habt doch mehrere Hektar hier«, sagte ich, »könntet ihr euch vorstellen, ab Mai zwei Geflüchtete aufzunehmen?« Meine Freundin, die als Umweltaktivistin freiwillig auf die Annehmlichkeiten des Kapitalismus verzichtet, lachte: »Meinst du, die sind in Gummibooten übers Mittelmeer gekommen, um hier in den Wald zu kacken?«
Fuck! Sie hatte recht. Was mich bei aller Sorge für die Jungs innerlich wurmte, war ihre Anspruchshaltung. Aber dann … durften sie denn keine Ansprüche haben? Was ist das überhaupt, ein Flüchtling? Ist das ein kriegsgebeutelter monoglotter Analphabet, der eine verhüllte Frau und sieben hungrige Kinder hinter sich herzerrt? Ist er politisch verfolgt? Ist er überhaupt politisch? Ist er undankbar, wenn er sich nicht über Wohlstandmüll freut?
Meine Jungs mussten nicht länger in Aleppo oder Gaza sein, aber auf Weimar, Gera und Jena hatten sie auch keinen Bock. Während hochmotivierte ehrenamtliche Helfer sie finanziell, mental und juristisch unterstützten, waren die Jungs fasziniert von bunten Kontaktlinsen, Shishacafés und McFit. Als ich ihre Oberflächlichkeit kritisierte, ließen sie durchblicken, dass ich ruhig auch mal wieder zum Friseur gehen könnte.
Manchmal kam ich zu Hause nicht mehr ins Netz, weil sie nebenan mit vier Geräten gleichzeitig (drei Smartphones und dem Computer, den ich ihnen geliehen hatte) online waren. Einmal hatte sich der Große einen verdorbenen Magen geholt, gebärdete sich wie ein Sterbender und scheuchte mich nachts durch halb Berlin in die nächste Bereitschaftsapotheke.
DAS war unser Culture Clash, nicht Schweinefleisch und Alkohol, nicht Jesus und Mohammed. Sie waren Konsumenten und wollten es in aller Ruhe sein, sie wollten sich weder von Mullahs noch von mir davon abhalten lassen, eimerweise Protein bei Amazon zu kaufen. Uns trennte nicht der Koran, nicht der IS, uns trennte ein »Lifestyle«, wie es der Kleine einmal nannte. Nach Jahren der Selbstverleugnung waren sie 24 Stunden am Tag damit beschäftigt, schwul zu sein, und das war verdammt noch mal ihr Menschenrecht. Aber auch ich hatte Ansprüche. Ich wollte, dass sie obendrein noch fleißig sind, pünktlich, ehrgeizig, kreativ und hartnäckig, aber gleichzeitig bescheiden.
Ein Kioskbesitzer, der Zeuge eines Telefonats wurde, in dem ich die Jungs »undankbar« nannte, kommentierte: »Araber sind wie Kätzchen. Du streichelst sie, sie mögen es, sie vergessen es.« Woraufhin ich ihn anschnauzte, das sei rassistisch, und er müsse doch als Kurde wissen, was es heiße, unterdrückt zu sein, ich jedenfalls könne mich noch sehr genau an meine DDR-Jugend erinnern. Er winkte ab, ich ging als moralischer Sieger vom Platz. Aber der Satz mit den Kätzchen hing mir im Kopf, gleich neben dem Satz mit dem In-den-Wald-Kacken.
»Hilf uns« war ihre Bitte, ausgesprochen und unausgesprochen, konkret und allgemein. Ich helfe euch doch bereits, antwortete ich. Trotzdem, es war nie genug. Ich nahm sie mit zu meinen Freunden, es gab mich nur noch im Dreierpack. Am Anfang war das ja noch ganz exotisch. Aber nach und nach rollten meine Freunde mit den Augen. Mit den Flüchtlingen erstarben alle Feiern pflichtgemäß in Ernsthaftigkeit und politischen Diskursen. Die Jungs, die sich nach Spaß und Leichtigkeit sehnten, fanden sich immer wieder den gleichen Fragen ausgesetzt: Assad, Aleppo, der Gazastreifen, der Nahostkonflikt. Näherte sich ihnen jemand aus der schwulen Community in freundschaftlicher Absicht, vermuteten sie oft erotische In- teressen. Sie bewachten einander voller Eifersucht, spionierten sich gegenseitig wegen vermeintlicher Untreue aus, und obgleich sie einander Trost waren, standen sie sich gleichzeitig im Weg.
Ich verstand nun, warum sie ganz versessen aufs Fitnessstudio waren. »Das ist der einzige Ort, wo wir uns nicht wie Flüchtlinge fühlen«, sagte der Kleine. Takt hin, Takt her, aber, Leute, ihr SEID doch Flüchtlinge? Ihr kamt doch als Flüchtlinge? Ihr nehmt doch alles, was wir Flüchtlingen bieten? »I feel used«, sagte der Große scherzend zu mir, als ich beide wieder mal mitschleppte, diesmal zur Ausstellungseröffnung des syrischen Comiczeichners Hamid Sulaiman in Kreuzberg.
»I know that feeling«, zischte ich zurück. Wie bitte? Benutzt? Ich hatte sie mit auf die Veranstaltung genommen, um ihnen zu zeigen, dass man außer Flüchtling auch noch was anderes werden kann. Zum Beispiel Künstler.
»Ich mache einen Youtube-Channel auf«, sagte der Kleine nach langem Nachdenken.« Bravo! Und was ist die Idee? »Ich ziehe mein Shirt aus!« Stolz zeigte er mir seinen Instagram-Account mit 8000 Followern, denen er fast schon manisch sein Sixpack zeigte.
Ich würde nie erfahren, was die beiden wirklich suchten. Gut, ich lernte sie besser kennen, sie zeigten mir alte Fotos, erzählten von ihren Familien. Willst du deine Mutter nachholen?, fragte ich den Kleinen einmal. »Ach, sie ist schon sehr alt und kann nicht mehr reisen.« Wie alt sie ist denn? »Über fünfzig!«
Autsch!
Einmal half ich ihm, ein paar Euro via Western Union an die Mutter in Aleppo zu überweisen. Drei Tage später kam das Geld zurück, die Bank war wegen der Bombenangriffe geschlossen worden. Der Große, mutterlos, verstritten mit dem Vater und nur mit seiner Schwester in Kontakt, war ein wackeliger Asylkandidat, weil er nicht aus einem Kriegsland kam. Er wusste, dass er gemeinsam mit dem Kleinen bessere Chancen hatte als ohne. Der Kleine war eine Frohnatur, aber er hatte die Hosen an. Manchmal markierte er seinen Besitzstand mit Knutschflecken.
Der Vorfall, der unsere Beziehung auf die Zerreißprobe stellte, trägt heute den Titel »42 Kilo aus Abu Dhabi«, und wir können inzwischen darüber lachen. Der Große hatte mich gefragt, ob sein Cousin ein paar Sachen mit der Post schicken könne. Erst dachte ich, gut, warum auch nicht, dann, einem Instinkt folgend, sagte ich: Wartet lieber, bis ihr eine Wohnung habt, und lasst euch dann die Sachen dorthin schicken.
Aber es war schon zu spät. Zwei Tage später erhielt ich einen Brief von einem Frachtgutunternehmen: Es seien zwei Kisten mit insgesamt 42 Kilo Zollgut aus Abu Dhabi eingetroffen. Die Sendung sei als Flüchtlingsgut deklariert. Was denn da drin sei? Ich hatte keine Ahnung. Was um Himmels willen war da drin? Der Große druckste rum: Nur Kleidung und so. Am nächsten Tag kam der nächste Anruf. Ob in den Kisten auch elektronische Geräte seien? Ich nahm mir Hussein erneut zur Brust. Nee, sagte der, höchstens ein alter Rasierapparat. Und so ging es weiter und weiter. Ich musste Fragebögen ausfüllen, Telefonate führen und schließlich mehr als achtzig Euro Zollgebühren überweisen. Zeitgleich hatte der Verein, der mir die Jungen gebracht hatte, erreicht, dass ihnen als schwulem Paar eine »sichere Wohnung« in Thüringen zur Verfügung gestellt wurde.
Das war meine letzte Tat als Saladdins und Husseins Gastmutter, ich leitete die 42 Kilo Designerklamotten von Abu Dhabi über Berlin nach Thüringen um, karrte ihnen mein halbes Mobiliar inklusive Waschmaschine, Tisch und Bett dorthin und entließ meine Jungs in die nächste Etappe ihrer Asylverfahren.
»Your little Troublemakers« nannten sie sich und schenkten mir zum Abschied ein Bastkörbchen mit drei teuren Flaschen Rotwein. Statt mich zu freuen, schimpfte ich: »Wisst ihr eigentlich, wer dieses hässliche Scheißkörbchen bezahlt? Ich!« Die Erleichterung, dass ich mich nun wieder auf mein eigenes Leben konzentrieren konnte, blieb aus. Im Gegenteil, ich fühlte alle Symptome von Liebeskummer.
Saladdin ist inzwischen als Flüchtling anerkannt, er hat einen blauen Pass, eine eigene Wohnung in Berlin, schließt demnächst den Deutschkurs Grundstufe A2 ab und darf drei Jahre bleiben. Hussein wurde vorerst ein Jahr subsidiärer Schutz gewährt. Er ist noch in Thüringen gemeldet, hat sich aber für ein Praktikum in einem Wirtschaftsprüfungsunternehmen in Berlin beworben und gute Chancen, es zu kriegen. Er und Hussein sind immer noch ein Paar. Vielleicht nicht für immer, aber sie werden immer schwul sein.
In Syrien wird Homosexualität mit Gefängnis bestraft, in Palästina muss ein Schwuler damit rechnen, Opfer eines Ehrenmordes zu werden, in den Vereinigten Arabischen Emiraten droht Homosexuellen die Todesstrafe. Deswegen genießen sie unseren Schutz, und er steht ihnen zu, auch wenn ihnen Brustrasur, Selbstbräuner und Muskelpumpen wichtiger sind als politisches Engagement.
Erst jetzt, wo die Jungs »aus dem Gröbsten raus« sind, entscheide ich mich, darüber zu schreiben, weil ich mir wünsche, dass auch andere sich trauen, die Generalisierung, die sie durch »die Medien« im Kopf haben, gegen die Realität des Einzelschicksals einzutauschen, gerade jetzt, in politischen Zeiten wie diesen. Wir müssen ehrlich sein, unsentimental, wir müssen darüber reden ohne Zuckerguss, denn nur so spielt das Ungesagte, das Brodelnde, das Schöngeredete nicht dem Feind in die Hände.
Der Feind, das sind für mich die, die entscheiden wollen, wie jemand zu sein hat, damit wir ihn aufnehmen. Die mich Gutmensch schimpfen und meine Jungs Wirtschaftsflüchtlinge. Die behaupten, dass es unserem Land schlechter geht, nur weil wir enger zusammenrücken.
Im Dezember, gleich nach unserem Kinobesuch bei den »Hartmanns«, ging ich mit den Jungs und ein paar Bekannten auf dem Weihnachtsmarkt. »Else und die sieben Zwerge« haben wir das Selbstauslöser-Foto, das dort entstand, übermütig genannt. Am nächsten Tag passierte der Anschlag am Breitscheidplatz. Die Einzeltat eines Verrückten hat die Stimmung gegen Flüchtlinge noch mehr aufgepeitscht.
Am Tag nach dem Anschlag beschloss ich, meine Wohnung wieder für Flüchtlinge zu öffnen.
Happy Valentine’s Day, schrieb der Kleine im Februar. Happy Mother’s Day, schrieb der Große neulich. Von allen Menschen hatten ausgerechnet diese beiden an mich gedacht. Das war schön.
Foto: privat