Absatzprobleme

Zu Hause Gäste zu empfangen ist schön, genau wie selbst Gast zu sein, doch am Beginn des Besuchs steht dieser heikle Moment: Schuhe ausziehen oder anlassen? Max Scharnigg über eine sehr deutsche Frage – und mögliche Lösungen.

Je nach Besucherzahl kann das Ausziehen der Schuhe auch räumliche Probleme hervorrufen.

Foto: Renke Brandt

Es ist schön, Menschen gelegentlich in ihrem Zuhause zu besuchen. Als Kind macht man es oft, als Erwachsener sollte man nicht komplett damit aufhören, nur weil es einfacher ist, sich in einer Bar oder einem Café zu treffen. Denn daheim Gäste zu haben oder Gast zu sein, schafft schon freundschaftliche Nähe, noch bevor man irgendwas anderes erlebt hat. Es gibt Manieren bei so einem Hausbesuch, die einem der gesunde Menschenverstand vorgibt. Man stürmt zum Beispiel nicht gleich ins Schlafzimmer und setzt sich pfeifend aufs Bett oder schaut ohne zu fragen in den Kühlschrank. Solche Dinge sind besuchenden Eltern vorbehalten, nur die dürfen sich das herausnehmen.

Eine komplizierte Hürde aber wartet für alle schon an der Türschwelle. Während man sie übertritt, stellt sich bei den meisten Menschen blitzartig Befangenheit ein, das eigene Schuhwerk betreffend. Dicht gefolgt von der Frage: »Ach so, soll ich die Schuhe ausziehen?« Sie wird meistens von einer Handbewegung begleitet, die andeuten soll, dass man dazu wirklich sofort imstande wäre. Die Antwort ist oft auch eine Handbewegung, nämlich ein wedelndes Abwinken, das so ungefähr sagen soll: Wirken wir etwa wie Menschen, die spießige Haushaltsregeln haben? Gesprochen klingt das so: »Och, ganz wie du willst, kannst ruhig anlassen!« So reden die Gastgeber tapfer und denken dabei nur ein bisschen an ihr gekalktes Eichenparkett und die hellen Teppiche.

So oft dieser Dialog immer gleich abläuft, so selten bringt er also eine echte Lösung der Schuhfrage mit sich. Das ist der un­geklärte Konflikt an deutschen Türen,es fehlt hierzulande einfach eine stabile gesellschaftliche Haltung zu Straßen­schuhen in Wohnungen. In anderen Kulturen sind die Regeln da klar: Wer rein will, muss raus aus den Schuhen. In muslimischen Haushalten, in Japan oder Russland gilt: Draußen ist schmutzig und hart, drinnen aber ist weich, sauber und ein Lebensraum, in dem schwere Sohlen und der Staub der Welt nichts verloren haben. Es ist auch ein symbolisches Abrüsten, was man dort als Gast betreibt – man signalisiert mit dem Ausziehen der Schuhe friedliches Entgegenkommen und Zurücklassen der Bandagen, mit denen man draußen kämpft. Von strumpfsockigen Menschen geht bekanntlich kaum Gefahr aus.

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Bei uns gibt es diese klare Haltung nicht, es gibt nur verschiedene Frak­tionen. Das macht es kompliziert. Zwar sehen in Deutschland, einem Land mit verkümmerter Teppichkultur, viele Wohnungen aus, als wären sie leicht zu kärchern – Fliesen, Naturstein und abwaschbare Farbe an Boden und Wänden, dazu Möbel aus Beton oder mit Klavierlack. Aber das bedeutet nicht zwingend, dass sie schmutzig werden dürfen. Im Gegenteil, die Erfahrung lehrt: Je teflonartiger die Menschen eingerichtet sind, desto schlechter können sie mit spontaner Verunreinigung umgehen und desto un­glaubwürdiger ist ihre Beteuerung, man könnte die Schuhe anlassen. Als Gast muss man also erfühlen, wie ernst es ihnen damit ist, oft handelt es sich nur um eine rhetorische Erlaubnis. Die Mikrobiologie gibt den strengen Ausziehern übrigens recht – etliche Studien haben ergeben, dass die Unterseite auch von scheinbar sauberen Straßenschuhen ein bakterieller Vergnügungspark ist.

Und natürlich laufen auch die wenigs­ten Deutschen bei sich zu Hause mit Straßenschuhen herum, sondern tragen dort Strümpfe, Barfüße oder zertifizierte Hausschuhe. Derlei von Gästen einzu­fordern bereitet uns aber Hemmungen. Voreinander die Schuhe auszuziehen, ist ein Akt von gewisser Intimität. Je formaler die Beziehung zur besuchenden Person, desto schwieriger ist es deshalb, darum zu bitten. Den Pfarrer würde man nie danach fragen, Handwerker und Kaminkehrer auch nicht, obwohl es sich bei denen durchaus lohnen könnte. Bei den neu­reichen Nachbarn, die zum ersten Mal vorbeikommen, verkneift man es sich lieber auch, denn Sockenpflicht wirkt doch hausbacken bis kleinbürgerlich. Sowieso gilt: Männer genieren sich, an­dere Männer die Schuhe ausziehen zu lassen und sie in Strümpfen zu sehen. Auch Frauen winden sich, bevor sie andere Frauen darum bitten. Weil die mutmaßlich Teil eines schützenswerten Gesamt­ensembles sind und man schnell in den Verdacht gerät, Bodenpflege wichtiger zu finden als Mode. Auch nicht sehr schmeichelhaft.

Ein klares »Schuhe aus!« fühlt sich also übergriffig an, zumal wenn man die Menschen eingeladen hat: Gäste sollen sich ja wohlfühlen und nicht gleich geschurigelt werden. Ein verschobenes Mindset: In anderen Kulturen ist das Schuheausziehen eine Geste des guten Willens. Bei uns möchte man dem Gast etwas Gutes tun, indem man es ihm so leicht wie möglich macht. Für die einen also ist es eine Ehre, eingeladen zu werden. Für Deutsche eine Ehre, aufgesucht zu werden.

Partys oder größere Einladungen stellen eine Eskalation des Problems dar. Hier muss man noch dringender davon ausgehen, dass die Gäste sich ganzheitlich hübsch gemacht haben. Bittet man sie nun, die Schuhe auszuziehen, raubt man der Abendgarderobe das Fundament. Und ist eine Party in Socken schon jemals in Schwung gekommen? Können Menschen miteinander flirten, wenn sie in den Redepausen verlegen auf Stoffzehen des anderen schauen müssen? Nein! Andererseits wäre es gerade in der Rollsplittsaison oder bei vielen Gästen erst recht angebracht, nicht stundenlang alles im fremden Haushalt hin und her zu tragen, was eben noch unten zwischen Bordstein und Hundestreifen lag.

Voreinander die Schuhe auszuziehen, ist ein Akt von gewisser Intimität

Als Partygast an der Tür vom Angebot Gebrauch zu machen, die Schuhe anzu­lassen, fühlt sich meistens trotzdem sehr richtig an. Allerdings nur so lange, bis man feststellt, dass man der Einzige in der Runde ist, der sich dafür entschieden hat. Dann bleibt nichts anderes übrig, als unterwegs schnell die Botten abzustreifen, auch auf die Gefahr hin, dass die Strümpfe auf diesen Auftritt nicht vorbereitet sind. Eine kleine Merkregel könnte man hier eventuell aufstellen: Findet eine Einladung in einen Haushalt mit kleinen Kindern statt, ist das Ausziehen der Straßenschuhe nahezu Pflicht. Denn Kinder sind bodennah unterwegs und nehmen vieles in den Mund. Und sowieso gilt: Die Strümpfe sollten immer in einem Zustand sein, dass man bedenkenlos einen Handstand in großer Runde demonstrieren könnte. Festivitäten in Privathäusern nehmen bekanntlich gelegentlich die ulkigsten Wendungen.

Bemühte Gastgeber wollen das Dilemma minimieren, indem sie Gäste-Hausschuhe anbieten. In Landhäusern steht dafür oft ein eigener Korb mit Puschenware unklarer Provenienz bereit. »Der Boden ist ziemlich kalt!« muss man entschuldigend dazusagen und den eintreffenden Gästen den Korb sanft hin­schieben. Deren Lust auf diesen Schuhwechsel hält sich aber meistens in Grenzen. Niemand zieht gern Hausschuhe an, die aussehen, als wären sie aus Maulwurfsfell gefilzt und dann vierzig Jahre eingetragen worden. Eine Zeit lang galt es als brutal witzig, Gästen lustige Hausschuhe anzubieten, sodass in Abendgarderobe angetretene Menschen in Flamingo- und Tigerpuschen um den Esstisch sitzen mussten. Das ist eine wenig subtile Art, den Eindringlingen zu zeigen, was man von ihnen hält.

Nein, Schuhe ausziehen zu müssen, ist Erniedrigung genug, wenn man Hausschuhe anbietet, sollten sie schon von erlesenem Geschmack sein. Weibliche Gäste von Welt haben für diesen brisanten Moment Hausballerinas in der Handtasche oder ähnliche Lösungen, die eine gewisse Restwürde zulassen. Unter Männern sind derlei Mitbringsel nicht verbreitet, eigene Hausschlapfen in Größe 45 mit sich herumzutragen, hat auch einfach null Flair. Schon gar nicht kommt infrage, dass die Frau vorsorglich für ihren Partner Schuhe mitbringt: »Stefan, ich hab für dich deine braunen Hausschuhe dabei!« Nach so einem Satz kann man sich auch gleich als Ausstellungsstück fürs BRD-Museum ausstopfen lassen. Männer haben aber, wenn sie das Pro­blem antizipieren, immerhin die Möglichkeit, Strümpfe zu wählen (oder mitzunehmen), die eine gewisse Öffentlichkeit vertragen – kräftiger gefärbt, gröber gefertigt und gemustert als sonst vielleicht.

Die Lage an deutschen Türen bleibt kompliziert. Es werden weiter Diplomatie und Feingefühl vonnöten sein, um sich richtig zu verhalten. Sicher ist nur: Je weniger man Schuhe und Füße überhaupt thematisieren muss, je selbstverständ­licher das Ausziehen oder Anlassen vonstattengeht, desto unverkrampfter der weitere Besuch.