Das mit dem Band-Durchschneiden hatten sie völlig vergessen. Den ganzen Morgen haben sie Luftballons aufgepustet, den Laden geschmückt, Stehtische dekoriert, gewischt und gewienert. Alles. Aber dass zu einer ordentlichen Eröffnung auch ein Band gehört, das mit der Schere geteilt wird, daran hatte keine gedacht. Aber wofür hat man denn eine eigene Drogerie? Schnell wurde noch grünes Geschenkband in die Tür gehängt, im Rahmen befestigt mit Tesafilm. Da stehen sie nun, die drei Schlecker-Frauen, von denen es hieß, es werde nicht einfach, für sie eine »Anschlussverwendung« zu finden, und eröffnen ihren eigenen Laden. »Da sind wir wieder«, sagt Birgit Schubert zu den Kunden. Aber eigentlich stimmt das nicht. Die drei, die hier am 13. Juli 2013 in Bietigheim-Bissingen das grüne Band durchschneiden, sind nicht mehr die SchleckerFrauen von früher. Sie haben sich verändert im vergangenen Jahr.
Angefangen hat es im August 2012 – mit einem Handzeichen. Etwa dreißig Frauen sind zusammengekommen, alle sind sie ehemalige Schlecker-Mitarbeiterinnen. Seit der Insolvenz ihres Arbeitgebers, die sie arbeitslos gemacht hat, kommen sie jede Woche hierher in die Büroräume der Gewerkschaft Verdi in Stuttgart. Hier können sie Fragen stellen: »Kriege ich meine Überstunden noch ausgezahlt?« – »Welche Jobs muss ich annehmen, um nicht mein ALG zu riskieren?« Und: »Wo erfahre ich, wie hoch meine Rente sein wird?« Die Beraterin von Verdi antwortet. Im August aber stellt sie plötzlich eine Gegenfrage: »Wer von euch traut sich zu, einen eigenen Laden zu führen?« Dreißig Frauen schauen zu Boden, drei heben die Hand. Eine davon ist Marina Juhrich. Sie ist gerade 59 Jahre alt geworden. Ein Alter, in dem andere die Jahre bis zur Rente runterzählen. Juhrich nicht. Sie ist zäh, nur 1,60 Meter groß, aber forsch. Sie wird die Chefin. Die anderen beiden Frauen sind Rosina Fuhrmann, 51, und Birgit Schubert, 58. Rosina Fuhrmann ist die Aufgedrehte, hibbelig, offenherzig, immer am Kichern. Wenn sie redet, nimmt sie dafür beide Hände zu Hilfe. Birgit Schubert ist das genaue Gegenteil, vorsichtig und ruhig, die Hände hält sie immer nah am Körper. Bloß keinem in die Quere kommen. Sie sind unterschiedlich. Aber es passt. Oder: Es muss passen. Die Alternative heißt Arbeitslosigkeit. Zusammen haben sie über 180 Bewerbungen verschickt – und über 180 Absagen bekommen.
Ein Gründungsmythos klingt anders. Aber die drei Frauen stört das nicht. Je klarer, je pragmatischer, je bodenständiger alles ist, desto besser. Geheimniskrämer wollen die drei nicht sein. Das war ihr Ex-Chef schon, Anton Schlecker. Der Mann, der in Ehingen hinter zwei Meter hohen Mauern lebt, der in der schwäbischen Provinz einen riesigen Glaspalast als Firmenzentrale bauen lässt – Postadresse: Im Schleckerland –, der die drei Kilometer zu eben diesem Glaspalast mit einem Sportwagen zurücklegt, der in der Firmenzentrale nur seinen eigenen Aufzug benutzt, um bloß keine Angestellten zu treffen. Der Mann, der kein Korrektiv duldet. Der ein Milliarden-Unternehmen als Privatmann führte, keine Kredite aufnahm und keine Berater einstellte, damit er niemandem Rechenschaft ablegen muss. Der Mann, der mit seiner Besessenheit die größte Drogeriekette Deutschlands aufgebaut und wieder zugrunde gerichtet hat. Am 23. Januar 2012 meldet Anton Schlecker in Ulm Insolvenz an. Im Laufe des Jahres werden alle 7500 Filialen geschlossen, rund 27 000 Menschen verlieren ihre Arbeit.
Erzählt wurde danach vor allem die Geschichte eines gescheiterten Patriarchen und weniger die seiner Belegschaft. Fast alle, die infolge der Insolvenz ihre Arbeit verloren haben, waren Frauen. Frauen um die fünfzig, viele ungelernt, die meisten alleinerziehend, wirtschaftlich nicht besonders interessant, weil nicht gerade kaufkräftig. Eine Frauengeneration ohne Lobby. Schlecker-Mitarbeiterinnen schnörkellos in die Arbeitslosigkeit zu schicken schien einfach. Wurde um die drohende Opel-Insolvenz drei Jahre zuvor noch ein ganzer Wahlkampf geführt, tat sich bei der Hilfe für die Schlecker-Frauen kein Politiker hervor. Karl-Theodor zu Guttenberg war wegen Opel sogar in die USA gereist, hatte Gespräche mit Verantwortlichen von General Motors geführt und sich danach auf dem Times Square als Weltgestalter inszeniert. Engagement für die Schlecker-Frauen? Nix. Ursula von der Leyen dachte laut darüber nach, ob man für die Frauen nicht eine Weiterbildungsoffensive starten könne. Alle umschulen und ab in die Kleinkindbetreuung. Aber Wirtschaftsminister Philipp Rösler fand, die sollten sich selber eine »Anschlussverwendung« suchen. Am Ende statuierten er und die FDP an den Drogistinnen ein wirtschaftsliberales Exempel: keine Transfergesellschaft. Und die Frauen? Bei denen bleibt das Gefühl zurück: Mit uns kann man’s ja machen.
Dazu noch die Fotos von Anton Schlecker, wie er immer noch mit seinem Porsche Cayenne durch Ehingen heizt. Die Aufzählung all seiner Sportwagen in der Bild-Zeitung: Aston Martin, McLaren Mercedes, Porsche 997, alle auf ihn gemeldet. Zeitgleich wirbt der Insolvenzverwalter Arndt Geiwitz in der Bunten für mehr Mitgefühl für den Mann, bei dem er qua Berufsbezeichnung eigentlich möglichst viel Geld rausholen soll, um die Gläubiger auszuzahlen – und den Frauen ihre Überstunden von 2011. Die Schlecker-Frauen fühlen sich verarscht. Wie geohrfeigt, immer wieder.
Alles, was in den Schlecker-Märkten in den Regalen lag, war noch nicht bezahlt.
So ist die Unternehmensgründung auch eine Emanzipation. Eine Emanzipation vom Opfersein, ein Wechsel der Seiten. Nur drei Monate nach dem Handzeichen, im November 2012, stehen die drei ehemaligen Schlecker-Frauen vor ihrem Ladenlokal in Bietigheim-Bissingen in Baden-Württemberg. Sie kichern, sind nervös. Marina Juhrich, die Chefin, reicht den Schlüssel gespielt feierlich an Birgit Schubert weiter. Die wird nun – fünf Monate nachdem sie hier abgesperrt hat – wieder aufsperren. Es ist ein und dieselbe Tür, ein und derselbe Laden, in dem sie 17 Jahre als Schlecker-Frau gearbeitet hat. Auf dem Schlüssel klebt sogar noch der Aufkleber mit ihrer eigenen Handschrift darauf: »Kostenstelle 18503, Buchstraße 16, Vordertür«. Auch innen drin ist alles, wie sie es verlassen hat. Leere Regale, Kartons mit Restware, die Werbeschilder, es riecht sogar wie damals: nach Essig, und trotzdem muffig. Nur sie ist eine andere als die,
die ging. Sie ist nicht mehr die geschasste Unmündige, sondern die selbstermächtigte Unternehmerin. Die anderen beiden klatschen. Sie fühlen genauso. Der erste Schritt.
In den kommenden Wochen werden sie alles Schlecker-Blaue wegschaffen. In den Keller räumen oder gleich zum Wertstoffhof bringen. Die Logos, die Einkaufswagen, die Ordner, die Tüten, alles, was noch rumlag aus alten Schlecker-Tagen. Über Ebay kaufen die drei gebrauchte Regale, holen sie mit einem Lkw in Siegen ab, bauen sie auf und wischen den ganzen Laden dreimal durch – bis nichts mehr an früher erinnert. Marina Juhrich, Birgit Schubert und Rosina Fuhrmann planen ihre Eröffnung für kurz vor Weihnachten, dann für Anfang Januar, dann für Mitte Januar, dann für Ende Januar. Aber nichts davon können sie einhalten. So wird es noch ein paar Mal kommen.
Dabei ist die Idee eigentlich genial: Ehemalige Schlecker-Frauen machen ihre alten Läden wieder auf, unter dem neuen Namen »Drehpunkt« und gründen so zusammen eine Drogeriekette. Denn Anton Schlecker scheiterte ja nicht daran, dass keiner bei ihm einkaufte, sondern dass er wahllos Läden eröffnete, viel zu viele, und irgendwann die gutgehenden alle anderen nicht mehr durchbringen konnten. Der Laden in Bietigheim-Bissingen lief immer gut: eine halbe Millionen Umsatz pro Jahr. Bis zuletzt. Und die Leute brauchen ihn im Ortskern, vor allem die älteren. Beinahe täglich kommen Anwohner vorbei und schauen durch die Scheibe. Sind die Regale endlich voll? Ist da endlich das Licht an?
25. Januar 2013, draußen liegt Schnee: Umständlich nähern sie sich, lehnen ihre Gehhilfe ans Glas und formen beide Hände zu einem Sichtschutz, um besser hineinschauen zu können. Die Frauen winken dann, und lachen freundlich. Am liebsten würden sie allen ganz genau erklären, was los ist. Dass ihr Antrag bei der Bürgschaftsbank noch nicht durch ist, und dass sie ohne ein Okay von dort keinen Kreditrahmen bei der Sparkasse kriegen und ohne Geld nicht bestellen können beim Großhändler. Denn kleine Läden bekommen dort die schlechtesten Konditionen. Sie müssen die bestellten Waren vorab bezahlen und 20 000 Euro Kaution hinterlegen, um überhaupt beliefert zu werden.
Für Anton Schlecker galten diese Auflagen nicht. Wieder so eine Ohrfeige für die Frauen. Ihm gewährten die Lieferanten die längsten Zahlungsfristen der Branche: 90 Tage. Alles, was in den Schlecker-Märkten in den Regalen lag, hatte er zwar bestellt und liefern lassen, aber noch nicht bezahlt. So waren die Lieferanten auch seine Bank. Und ihre großzügigen Fristen seine zinslosen Kredite. Diese Regelung erlaubte ihm, weiter Läden zu eröffnen, obwohl er eigentlich kein Geld mehr hatte. Alles lief auf Pump.
Wer weiß, wie Anton Schlecker wirtschaftete, der versteht auch die Kontrollfahrten, die er jeden Donnerstag und Freitag unternahm. »Überraschungsbesuche« hießen die im Schlecker-Sprech, aber überraschend kamen sie nie. Schon Tage vorher meldete sich die Bezirksleitung, kündigte den Chef an und diktierte die Maßnahmen. Alles extra putzen, alles extra wischen und unbedingt Ware verstecken. Volle Lager waren in seinem System ein Problem. Was er nicht verkauft hatte, konnte er nicht bezahlen. Und das vor Augen zu haben, machte ihn wütend.
Für die Schlecker-Frauen bedeutete sein Besuch immer vor allem eins: Stress. Die Tür zum Lager wurde mit Klopapierpackungen zugebaut. Denn, so pflegte die Bezirksleiterin immer zu warnen, er öffnet alle Türen, die er finden kann. Aber die hinter der Klopapierwand fand er nie. Kleinere Sachen haben sie in ihren Privatautos versteckt oder unter den Regalen, im Hohlraum hinter den Blenden. »Die konnte man recht unkompliziert abmontieren«, sagt Birgit Schubert. Da muss sie selber lachen. Aber es bleibt ein zögerliches Lachen. Bis vor einem Jahr war Schlecker mit all seinen Absurditäten noch ihr Alltag. Und das ganze 17 Jahre lang. Jetzt lacht sie oft, wenn sie aus der Zeit erzählt. Aber vorsichtig, man merkt, dass sie sich noch ungewohnt anfühlt, diese Distanz zum Wahnsinn.
Angefangen hat Birgit Schuberts Emanzipation von der treuen Schlecker-Frau erst spät. Die Insolvenz war längst verkündet, ihre eigene Kündigung lag schon zu Hause auf dem Couchtisch. Ein Journalist der Ludwigsburger Kreiszeitung kam zu ihr in die Filiale und bat sie um ein Interview: Wie sind denn so die letzten Tage? Furchtbar. Macht Sie das traurig? Ja. Und macht es Sie wütend? Ja, das auch. Nachdem das Interview erschienen war, bekam Birgit Schubert einen Anruf aus der Schlecker-Firmenzentrale in Ehingen. Das Interview hatte denen dort gar nicht gefallen. Ihre Illoyalität werde Konsequenzen haben, hieß es am Telefon. Kurzer Schreck. Dann hat Birgit Schubert, die Vorsichtige, einfach gelacht. »Ja, okay«, hat sie nur noch gesagt, »wollen Sie mir noch eine Kündigung schicken oder soll ich mir meine kopieren?« Ein Erweckungsmoment. Gutes Gefühl. Scheiß Schlecker.
Bei den Schlecker-Frauen heißt Christina Frank nur »der Engel«.
Es ist der Lebenslauf von Birgit Schubert, aber es könnte auch der vieler anderer Schlecker-Frauen sein: Geboren 1955, nach der Schule lernt sie Industriekauffrau, ist ehrgeizig und gut in ihrem Beruf. Dann verliebt sie sich, heiratet, mit 20 bekommt sie den ersten von drei Söhnen. Als sie wieder arbeiten geht, ist sie 40, einmal geschieden, einmal verwitwet und ihr Jüngster ist gerade fünf geworden. Sie fängt bei Anton Schlecker an, weil der Frauen Jobs am Wohnort bieten kann. Alles andere ließe sich mit ihren Aufgaben als Mutter nicht vereinbaren. Ihr Sohn kann nach der Schule bei ihr im Laden vorbeikommen, hinten im Mitarbeiterinnenzimmer Hausaufgaben machen. Nur so geht’s. Früher war der Job ihre Rettung, heute vermutet sie, Anton Schlecker hat bewusst Frauen wie sie eingestellt: mit kleinen Kindern, alleinerziehend, ohne Alternative. Frauen, die wenig Ärger machen.
Inzwischen ist es März geworden und sechs weitere geplante Eröffnungstermine sind vorbeigezogen. Die Bürgschaftsbank bearbeitet den Antrag nicht, und ohne den kriegen die Frauen kein Geld von der Kreissparkasse. Dieses Treffen heute im Wirtschaftsministerium von Baden-Württemberg soll das ändern. Marina Juhrich, die Chefin, ist auch da. Termine mit Großhändlern, Bankangestellten und auf Ämtern nimmt immer sie wahr, weil sie schnell denkt und schlagfertig antwortet. Eigentlich. Heute allerdings hat sie ganz glasige Augen, hustet und schnieft. Am Tag zuvor lag sie noch krank im Bett, aber hierfür hat sie sich aufgerafft: Die Tische stehen wie in einem Klassenraum, in der Form eines Hufeisens. Trotz Doppelverglasung hört man die Autos unten auf der Ausfallstraße, eine Frau schiebt auf einem Rollwagen Kaffeekännchen hinein. Der Wirtschaftsminister sitzt am Kopf der Runde. »Zukunft der Schlecker-Frauen« steht auf dem Papier, das er verteilen lässt. Zunächst referiert die Sprecherin der Arbeitsagentur. Die Bilanzen sind düster, ein Großteil der ehemaligen Schlecker-Frauen ist noch immer arbeitslos. Etwa 40 Prozent konnten »eingemündet« werden, so sagt sie. Was sie nicht sagt: Eingemündet wurde nicht nur in Arbeitsverträge, sondern auch in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Was sie betont: Baden-Württemberg steht, was arbeitslose Schlecker-Frauen betrifft, noch am besten da. Der Grund dafür sitzt neben ihr und heißt Christina Frank. Aber auch das sagt sie nicht.
Christina Frank ist der Kopf hinter dem »Drehpunkt«-Konzept, den Namen hat sie aus einem Lied von Herbert Grönemeyer entlehnt: Zeit, dass sich was dreht. Ausgedacht hat sie es sich, weil sonst keiner was unternommen hat. Irgendwann dann hat sie den Schlecker-Frauen, die zu ihr zum Klagen kamen, die Frage gestellt: »Wer von euch traut sich das zu?« Dann kamen die drei Handzeichen. Zu dem Zeitpunkt hatte Frank schon alles angeleiert: Hatte eine Mini-GmbH gegründet, angefangen die Läden herauszusuchen, die guten Umsatz gemacht haben, und Spenden gesammelt, Startkapital für die »Drehpunkt«-Läden. Wenn die Finanzierung steht, müssen die Frauen es zurückzahlen und es fließt in die Gründung einer neuen Drogerie. Sechs Läden hat sie in Baden-Württemberg mit dem Prinzip schon eröffnet, drei sind kurz davor, aufzumachen, und weitere 20 werden gerade bearbeitet, inzwischen im ganzen Bundesgebiet. An diesem Tag im Ministerium wirbt sie für ihr Konzept.
Bei den Schlecker-Frauen heißt Christina Frank nur »der Engel«, obwohl sie mit ihren drei Kulis in der Blusentasche, dem Leoprint auf den breiten Brillenbügeln und den kurzen, stacheligen Haaren, die in den Spitzen grellblond werden, nun wirklich nichts Sanftes an sich hat. Aber sie ist ein Engel. Weil sie hilft, obwohl sie es nicht müsste. In ihrer Jobbeschreibung bei Verdi steht nämlich nichts von Unternehmensberatung. Sie ist Sekretärin. Alles, was sie für die Schlecker-Frauen tut, tut sie in ihrer Freizeit. Der E-Mail-Verkehr zwischen Christina Frank und Chefin Marina Juhrich kommt deswegen auch immer erst nachts ab ein Uhr in Gang. Für Marina Juhrich kein Problem. Sie ist eh wach. Nachdem sie arbeitslos geworden war, spielte sie nachts ewig lang Computerspiele – Römerstädte aufbauen, Römerstädte abreißen –, nur um den Tag zu verschlafen. Ihr Mann ist Lkw-Fahrer und oft unterwegs, die Söhne längst ausgezogen. Was sollte sie den ganzen Tag über machen, so ganz allein zu Hause, nur mit dem Kater? Jetzt, mit der Neugründung, holt sie sich ihr Leben zurück – und zwar aktiv. Auch heute im Wirtschaftsministerium geht sie schnörkellos vor. Beim Rausgehen spricht die den Mann von der Bürgschaftsbank einfach an: »Hallo, Juhrich mein Name, ich will in Bietigheim-Bissingen eröffnen, dafür brauche ich Sie.« Passend dazu drückt sie ihm feste die Hand. Der Banker nickt nur verlegen. Es funktioniert: Einen Tag später unterschreibt er den Bürgschaftsantrag.
Es ist der 25. Mai 2013: Die drei Frauen sind im Laden und sortieren Ware, aber viel ist noch nicht da. Zwei Sorten »Dusch Das« stehen im Regal, Haartönungen in Rot, Blond und Dunkel, keine Nuancen und nur eine Größe Kondome und nicht acht Variationen von »large«. Neben der Kasse liegt ein kleiner Ringblock, hier tragen die drei Frauen die Bestellungen ein: »Frau Orth, Kukident Super Haftcreme Kamille« steht dann da. Am Abend fährt eine von ihnen ins Kaufland und besorgt die Paste. Den älteren Kunden reicht das. »Früher mussten wir oft wochenlang auf etwas warten«, sagen sie dann. Die drei Gründerinnen haben keine Geduld mehr. Sie warten schon monatelang. Und immer im Hinterkopf der Verdacht: Man traut es ihnen nicht zu, weil sie Frauen sind, ältere Frauen, Schlecker-Frauen. Nur deshalb geht es so schwerfällig.
Zuletzt war es die Kreissparkasse, die plötzlich querschoss. Die Damen bräuchten eine Risikolebensversicherung, vorher könne man den Disporahmen nicht freigeben, hieß es. Das sei nur zu ihrer Sicherheit. Wieder eine Ohrfeige. Als sie noch für Schlecker gearbeitet haben, hat sich auch keiner um ihre Sicherheit gekümmert. Und da war das Risiko wahrlich größer als heute. Anton Schlecker nämlich hatte angeordnet, dass in den Filialen kein Telefon stehen solle. Er befürchtete, die Frauen würden sonst zu viele Privatgespräche führen. Bei Ladendieben sprach sich das schnell rum. Die Zahl der Überfälle stieg dramatisch. 1993 verblutete in Köln eine Verkäuferin, weil sie nach einem Raub, bei dem sie verletzt worden war, keinen Krankenwagen rufen konnte.
Am 13. Juli ist endlich Eröffnung, und der Laden ist voll. Plötzlich hat die Kreissparkasse den Dispo freigeschaltet. Ein Computerfehler, vermutet die Chefin Marina Juhrich. Aber sie hat beschlossen, dass sie da jetzt nicht groß nachfragen, sondern einfach schnell bestellen und offiziell eröffnen. Der warme Wind weht die Luftballons durch die Ladenstadt, es riecht nach Sekt und O-Saft, die drei Frauen sind beschwipst. Sie freuen sich auf Montag, wenn die ganz normale Arbeit beginnt. Das war eigentlich das Einzige gewesen, was sie vom Leben wollten: endlich wieder was zu tun haben, gebraucht werden, wieder Teil der Gesellschaft sein. Was ihnen das Leben noch obendrauf gepackt hat: Selbstvertrauen. Die Sicherheit, sich auf sich selbst verlassen zu können.
Selbst mit dem Geheimniskrämer, ihrem Ex-Chef, haben sie heute ihren Frieden gemacht – einfach so, ganz beiläufig. »Eigentlich müssen wir Anton Schlecker sogar dankbar sein«, hatte Marina Juhrich einmal gesagt. Aber die anderen beiden hatten abgewunken; das sei vielleicht ein bisschen zuviel des Guten.
Nachtrag: Im Dezember 2016 mussten Marina Juhrich, Birgit Schubert und Rosina Fuhrmann ihren Drehpunkt in Bietigheim-Bissingen schließen. Der Umsatz war seit Ende 2015 dramatisch zurückgegangen.
Fotos: Tanja Kernweiss