Unter die Haut

Auch wenn längst keine Narben mehr zu sehen sind: Röntgenaufnahmen verraten ein Leben lang, was Folter anrichten kann. Seit 30 Jahren sammelt ein deutscher Arzt die Dokumente des Grauens.

Dokumente des Grauens: Röntgenaufnahmen von Folteropfern

SZ-Magazin:
Sie sind Professor für Radiologie. Nebenbei sammeln Sie seit Langem Röntgenbilder von Folteropfern aus der ganzen Welt. Warum?
Hermann Vogel:
Fotos von Folteropfern sind oft so brutal und direkt, dass der Betrachter reflexartig wegschaut. Anonyme Röntgenbilder sind besser auszuhalten. Zunächst erkennt der Betrachter nur, dass ein Finger fehlt oder ein Knochen zerbrochen ist. Das weckt sein Interesse und er will erfahren, was dem Menschen passiert ist. Die Bilder führen also dazu, dass sich die Menschen mit dem Thema Folter beschäftigen – auf erträgliche Weise. Und genau das ist mein Ziel.

Warum gerade Röntgenbilder?

Sie entlarven von außen nicht erkennbare Verletzungen, somit auch Spuren von Folter. Eine gerichtsmedizinische Untersuchung macht Frakturen, eingeführte Fremdkörper, Nadeln sichtbar. Die Aufnahmen ermöglichen eine Plausibilitätsprüfung. Stimmen die Schilderungen des Opfers mit dem Verletzungsmuster überein? Stimmt das Alter der Verletzung überein mit dem Zeitraum, den die Person für die erfahrene Folter angibt? Entspricht die Foltermethode dem, was für die angegebene Region und die verantwortliche Organisation, Militär oder Miliz, bekannt ist?

Sind die Röntgenaufnahmen vor Gericht als Beweismittel zugelassen?

Ja, ebenso bei Asylverfahren. Für die Opfer ist es ein weiteres Argument, wenn ein Radiologe ihre Aussagen bestätigt. Behörden haben ja den Hang, nicht nachweisbare Vorgänge als »unwahr« abzuschließen. Die Röntgendiagnostik ist jedoch kein massentaugliches Element. Meist reichen einfache Mittel, um ein Folteropfer zu erkennen: Viele erbrechen zum Beispiel vor Angst, wenn ein Mensch in Uniform den Raum betritt.

Wie kommt ein deutscher Arzt dazu, sich mit dem Thema Folter zu beschäftigen?

Ich wollte vor knapp dreißig Jahren in einem Buch mittels Röntgendiagnostik die Folgen von Krieg dokumentieren. Beim Materialsammeln kam ich immer wieder in Gebiete, in denen Kriege tobten. Ich sammelte Bilder, die typisch für Verletzungen durch verschiedene Waffen waren. Als ich diese auswertete, stellte ich fest, dass die Zwillingsschwester des Krieges mitbehandelt werden müsste – die Folter.

Woher bekamen Sie die Röntgenbilder?
Aus internationalen Röntgenarchiven, aus Reha-Zentren für Folteropfer oder von ausländischen Kollegen, die wussten, dass ich mich mit dem Thema beschäftige. Manchmal habe ich die Dias heimlich in Hotelzimmern gegen das Licht abfotografiert. Offiziell habe ich nie nach den Bildern gesucht, sonst hätte ich in viele Länder gar nicht einreisen dürfen. Ändern sich die Foltermethoden über die Jahre?
Sadisten werden nie müde, sich neue Gräueltaten auszudenken. Nehmen wir die Wasserfolter: Menschen werden nicht mehr nur mit heißem oder kaltem Wasser gequält – man pumpt ihnen über einen Schlauch Wasser in den Körper und lässt sie mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen aus großer Höhe auf den Bauch fallen. Die Organe im Körper platzen, die Menschen sterben an inneren Verletzungen.

Welche Geschichte hat Sie im Zuge Ihrer Recherchen besonders berührt?
Es gibt unzählige Geschichten. Spontan erinnere ich mich an eine Mutter, die sehen und hören musste, wie ihr Kind misshandelt wurde.

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Experten nennen diese Methode Psycho-Folter.
Ja. Dazu gehören auch Qualen wie monatelange Isolationshaft und tagelanger Schlafentzug. Die Seele leidet generell bei jeder Form der Folter mit. So ist auch zu erklären, dass Folteropfer lebenslang Schlafstörungen, Angstzustände oder Nervenschäden quälen. Die reine Psycho-Folter ist international sehr beliebt, weil sie keine körperlichen Spuren hinterlässt. Darauf achten die Peiniger sehr genau.

Weil sie nichts zu fürchten haben, solange man ihnen nichts nachweisen kann.
Genau. Deshalb läuft jemand, der durch Folter oder Misshandlung entstellt wurde, Gefahr, dass er getötet wird. Ich erinnere mich an den ersten Irakkrieg, als die Amerikaner und Iraker über den Austausch von Gefangenen verhandelten. Die Soldaten versuchten ihre Verletzungen zu verbergen, indem sie trotz großer Schmerzen nicht humpelten, ihre Haare über Wunden kämmten.

Aus Angst, getötet statt ausgetauscht zu werden.
Das Militärregime in Chile etwa entledigte sich den Beweisen seiner Gräueltaten, indem es zu Tode gequälte Folteropfer an Eisenbahnschienen band und im Meer versenkte, in ein paar hundert Meter Tiefe. Die Opfer wurden von Fischen zerfressen, lösten sich auf. Bekannt wurde das, weil sich einmal ein Körper von einer Schiene löste und angeschwemmt wurde. Daraufhin suchten Taucher die Küstenregion ab. Sie fanden keinen einzigen Knochen, nur unzählige Schienen – und einen Knopf.

Fotos: Archiv Prof. Hermann Vogel