Vom Regen in die Taufe

Diese Mädchen wurden gerade Zeugen Jehovas. Nun will auch ihr Kult zur staatlich anerkannten Konfession werden. Dabei leben die Mitglieder nach äußerst fragwürdigen Regeln. Ein Blick hinter eine keineswegs harmlose Fassade.

Kein Tag vergeht, an dem die Mitglieder von »Jehovas Organisation auf Erden« nicht Stellung in den deutschen Innenstädten be-ziehen. Bei jedem Wind und Wetter halten sie ihre Zeitschrift, den Wachtturm, hoch, für die sich kaum je ein Passant interessiert. Jahr um Jahr klingeln sie an Millionen von Türen, die meist gleich wieder zugeschlagen werden. Bleibt doch mal eine offen, predigen sie eine mittelalterlich-christliche Weltsicht und kündigen den nahen »Krieg Jehovas« an, der wie ein Feuersturm über die Erde hinwegfegen werde.

Derzeit drängen die Zeugen Jehovas darauf, bundesweit als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt zu werden. Sie wollen vom Kult zur Kirche werden, rechtlich den großen christlichen Konfessionen gleichgestellt. In Berlin hatte die Glaubensgemeinschaft nach jahrelangen Prozessen Erfolg mit diesem Vorhaben, in den übrigen Bundesländern laufen die Verfahren. Die Öffentlichkeit nimmt davon kaum Notiz. Dabei ist »Jehovas Organisation« durchaus umstritten – und sie zählt in Deutschland trotz geringer Erfolge bei der Missionstätigkeit rund 165000 Mitglieder, mindestens 15 Mal mehr als die viel gescholtene Scientology-Sekte.

Jeder kennt die Prediger, doch wer versteht schon ihre Welt? Wie lebt es sich in einer Glaubensgemeinschaft, die sich mittels eines rigiden Regelwerks von der modernen, als durch und durch sündig empfundenen Welt abzuschotten versucht? In einer Gemeinschaft, die lebensrettende Bluttransfusionen ablehnt, die von höherer Schulbildung abrät, die Eltern zur Züchtigung ihres Nachwuchses auffordert? Hunderte von Kindern werden jedes Jahr in Deutschland in diese Wertordnung geboren. Wie werden sie erwachsen? Und wie verkraften Aussteiger den Abschied von einer Gemeinschaft, die »Abtrünnige« ächtet und ihnen einen Bibelvers aus dem zweiten Brief des Petrus hinterherruft: »Der Hund ist zum eigenen Gespei zurückgekehrt und die gebadete Sau zum Wälzen im Schlamm.«

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»Wahnsinn, das war meine Welt!«, entfährt es Elias Mayreder, als er auf die von 14000 Gläubigen bevölkerte Haupttribüne des Münchner Olympiastadions blickt. Die Menge hebt an zu einem Lobgesang, den der Wind verzerrt herüberträgt. Elias Mayr-eder saugt die Luft des regnerischen Morgens tief in seine Lungen. Er ist ein sportlicher, groß gewachsener Endvierziger, und doch scheint er verletzlich. Sein Blick ist unruhig, man spürt, wie viel Kraft es ihn kostet, hier zu sein: auf dem »Bezirkskongress« der Zeugen Jehovas aus Südbayern. Dreitägige Großveranstaltungen wie diese werden auch in einem halben Dutzend anderer deutscher Städte abgehalten.

Mayreder kennt hier zahlreiche Menschen. Doch seit er aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wurde, hat er sich nie wieder hergewagt: Seine ehemaligen Freunde ekeln sich vor ihm, sogar seine Ex-Frau, irgendeiner dieser Farbpunkte dort drüben, verachtet ihn. Selbst für seinen Vater wäre Elias wohl gestorben, wenn dieser erführe, dass der Sohn mit Reportern spricht. Davor hat Mayreder Angst. Deshalb wurde sein Name geändert, Einzelheiten seiner Geschichte verfremdet.

Die »Brüder« und »Schwestern« auf der Haupttribüne haben Brotzeitpakete und Bibeln auf dem Schoß, außerdem Notiz-bücher, in denen sie festhalten, was gesagt wird. Der Sprecher begrüßt nun Bruder Uwe Gell auf der Bühne und stellt ihn als einen Gemeindevorsteher vor, einen besonders »eifrigen Ältesten einer Versammlung«. »Erzähl uns bitte, wie sieht deine Woche aus, Uwe?«, fragt er, und Uwe erzählt. Wie jeder Gläubige besucht er dreimal pro Woche die Versammlung der Gemeinde, an zwei weiteren Abenden bereitet er sich auf die Zusammenkünfte vor, am Wochenende geht er im »Predigtdienst« von Tür zu Tür.

Wie alle Zeugen Jehovas, so sind auch die Menschen im Olympiastadion überzeugt, in der »Zeit des Endes« zu leben. Noch herrscht Satan über unseren Planeten, doch schon in wenigen Jahren, vielleicht in Monaten, vielleicht auch nur in Tagen, wird »Jehovas Krieg« über unsere Erde hinwegfegen. An jenem Tag, der »Harmagedon« heißt, wird Gott all jene vernichten, die nicht nach seinem Willen leben. Die Erde jedoch wird weiter bestehen, und die Zeugen Jehovas, so hoffen sie zumindest, werden die Katastrophe überstehen und ewig in Frieden, Harmonie und Gerechtigkeit leben. Bis zu diesem Tag aber müssen sie noch durchhalten, Jehovas Willen verkünden, selbst von Sünde rein bleiben – und mit all ihren Kräften »Jehovas Organisation« dienen: der Wachtturmgesellschaft mit Sitz in Brooklyn, USA.

Die Geschichte der Vereinigung beginnt 1881 in Pennsylvania. Der Gründer, Charles Taze Russell, verkündete schon damals, ein Endkampf zwischen Gott und Satan stehe unmittelbar bevor. Zunächst sagte er diesen für 1914 voraus. Nach Russells Tod erwarteten seine Anhänger Harmagedon im Jahr 1975, danach Ende der Neunzigerjahre. Seit auch dieses Datum ohne Katastrophe verstrich, verkünden die Zeitschriften der Gemeinschaft – allen voran der Wachtturm, der mit einer Auflage von 28,5 Millionen Exemplaren in 161 Sprachen erscheint –, Jehovas Krieg stehe »in Kürze« bevor. Weltweit zählt die Glaubensgemeinschaft nach eigenen Angaben knapp sieben Millionen Mitglieder, sogenannte aktive Verkündiger. In Deutschland bleibt die Mitgliederzahl seit Jahren stabil; Zuwächse sind in Osteuropa und in Entwicklungsländern zu verzeichnen.

»Haben wir richtig gehört, Uwe, du stehst jeden Morgen um 4.30 Uhr auf?«, fragt der Sprecher im Stadion. Das Interview ist einstudiert: »Ja, Micha, denn nur dadurch, dass ich meinen Tag so früh beginne, bleibt mir neben meinen zahlreichen Verpflichtungen auch Zeit für meine Familie!« Auf derselben Bühne erzählte vor zehn Jahren Elias Mayreder aus seinem Leben. Auch er stand jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe auf und brachte, zusätzlich zu seinem Beruf, rund zwanzig Stunden pro Woche für »theokratische Vorrechte« auf. Heute ist Mayreder überzeugt, dass viele seiner ehemaligen Glaubensbrüder Zweifel in sich tragen. »Und gerade die, die auf der Bühne im Olympiastadion das Maul besonders weit aufreißen, schließen oft heimlich Bausparverträge ab«, sagt er. Zeugen Jehovas schämen sich für Bausparverträge. Denn wer fest an das baldige Ende glaubt, für den sind Werte wie Lebensversicherungen, höhere Schulbildung und Immobilien ohne Belang. Was zählt, ist das Predigtwerk.

Mit einem Mal brandet Beifall auf im Stadion und reißt nicht mehr ab. Auf der Laufbahn ist ein Wasserbecken aufgebaut, in das sechs Männer in weißen T-Shirts klettern. Nach und nach kommen über hundert »Täuflinge« aus den Kabinen, die meisten davon Kinder und Jugendliche. Die Mädchen frösteln, halten sich an den Händen, die Jungen zittern. In der Regel sind sie von den Eltern seit ihrer Kindheit mit Jehovas Lehre vertraut gemacht worden und haben sich mit intensivem Bibelstudium auf diesen Tag vorbereitet. Der Regen prasselt hernieder, als Täufling um Täufling ins Wasser steigt. Die Männer in Weiß schütteln Hände, tauchen die Täuflinge unter, wünschen: »Viel Jehovas Segen!« Wenn die Jugendlichen prustend wieder auftauchen, sind sie endgültig Teil der Gemeinschaft. Wer von ihnen sich nach diesem Tag noch für ein anderes Leben entscheiden will, wird alles verlieren: die Wahrheit, das ewige Leben, den Lebenssinn, alle Bekannten, meist sogar die Eltern.

»Es war ein wunderschönes Gefühl«, sagt die 16-jährige Rebecca. Kurz nach der Taufe sind ihre Haare noch feucht, fallen um ihr hübsches Gesicht. Als Ohrschmuck trägt sie lange Silberkettchen, an deren Enden Edelsteine blitzen. »Meine Eltern haben mich nie zu etwas gezwungen«, sagt Rebecca. »Sie haben nur die Bibel mit mir studiert und mich die Liebe zu Jehova gelehrt.«

Ob sie niemals Zweifel hatte? Doch, es gebe ja so viele Religionen. Eine Zeit lang habe sie sich gefragt: Woher weiß ich, dass meine die einzig wahre ist? Aber dann sah Rebecca in den Nachrichten, wie andere Religionen Kriege gegeneinander führten. Dabei stehe doch in der Bibel, die Menschen sollten »Schwerter zu Pflugscharen« schmieden. In der Tat sind die Zeugen Jehovas konsequent in ihrer Ablehnung des Militärs. Hunderte ihrer Mitglieder wurden in der Nazi-Zeit wegen Kriegsdienstverweigerung zum Tode verurteilt, Tausende in Konzentrationslagern eingesperrt.

Rebecca geht in die 11. Klasse eines Münchner Gymnasiums und lebt doch in einer anderen Welt als die anderen Mädchen und Jungen dort. Es ist ihr verboten, »heidnische Feste« wie Weihnachten, Ostern, Fasching oder Geburtstag zu feiern. Deshalb lehnt sie Einladungen zu Geburtstagspartys ab, singt im Musikunterricht oft nicht mit. Neben den ausdrücklichen Verboten gibt es eine Vielzahl von Verhaltensmaßregeln, die weniger streng formuliert sind, aber dennoch meist abso-luten Gehorsam zur Folge haben. Rebecca würde ihre Eltern und Jehova »enttäuschen«, wenn sie vor der Ehe einen Jungen mit der Zunge küsste oder Schlimmeres täte, ihr Verhältnis zu Jehova würde »leiden«, wenn sie auf Klassenfahrt fahren, in Discos gehen, Vereinssport treiben würde, überhaupt: wenn sie Zeit mit »weltlichen« Mitschülern verbrächte, statt sie dem Predigtwerk zu opfern.

»Die anderen Mädchen in meiner Klasse haben alle Freunde«, sagt Rebecca. Doch sie wolle das nicht. »Ich sehe auch, welchen Nutzen diese Enthaltsamkeit für mich hat.« Auf diese Weise schütze sie ihr Glaube vor vielen Übeln, wie etwa ungewollter Schwangerschaft oder Aids. Wenn eines der anderen Mädchen sie deshalb verspotte, nehme sie das gern auf sich. »Meine besten Freunde sind ohnehin Zeugen Jehovas«, sagt sie.

Rebeccas Einstellung zum Trotz bereiten Sexualität und körperliche Anziehung jugendlichen Zeugen Jehovas immer wieder erhebliche Probleme. Der 26-jährige Mathematikstudent Leander, der die Gemeinschaft inzwischen verlassen hat, erzählt, wie seine ebenfalls zu der Organisation gehörende Freundin ihm eines Tages in einem über-mütigen Moment ihre Brüste zeigte. Das Mädchen quälte darauf wochenlang das Gewissen, schließlich zeigten sich die beiden selbst bei den Ältesten ihrer Gemeinde an. Ein Rechtskomitee wurde einberufen, um den Regelverstoß zu bestrafen. »Wo genau hast du ihre Brüste berührt?«, fragte einer der Richter. »Gar nicht«, antwortete Leander. Weil er aufrichtig bereute, verzichtete der Rat auf Strafe. Für seine Freundin verlief die Verhandlung unangenehmer. Das Komitee deckte auf, dass sie täglich masturbierte – für die Zeugen Jehovas eine »widerliche Praxis«, die mit detaillierter Ratgeber-Literatur bekämpft wird. »Klar, dass du dauerspitz bist«, habe einer der Ältesten zu dem verängstigten Mädchen gesagt.

Wer mit Aussteigern redet, hört jedoch beileibe nicht nur Geschichten voller Prüderie, sondern vor allem Geschichten von Einsamkeit und Depressionen, zerbrochenen Freundschaften und Ehen, Selbstmordgedanken, Selbstmorden. Elias Mayreder erinnert sich genau an jenen Tag, als er endlich bei einem Psychologen anrief. Man wollte ihm einen Termin in drei Wochen geben. »Geht das nicht früher?«, rief Mayreder verzweifelt in den Hörer. »Ich steh gerade auf dem Balkon und überlege, ob ich springe!«

Zu diesem Zeitpunkt zweifelte Mayreder schon seit Jahren an seinem Glauben – und verzweifelte an den enormen Ansprüchen, die das Regelwerk der Zeugen Jehovas an die Gläubigen stellt. Immer wieder hatte Mayreder Briefe aufgesetzt, in denen er seinen Rücktritt als Ältester bekannt gab. Doch keinen schickte er ab: Er wollte seine Frau, seine Gemeinde, Jehova nicht enttäuschen. Mayreder bekam Migräne, die Krankheit raubte ihm die Kraft für den Dienst. Seine Frau hatte dafür kein Verständnis. Sie fürchtete, dass ihr Gatte Harmagedon nicht überleben werde, dass sie allein werde leben müssen im Paradies auf Erden. »Ständig warf sie mir vor, dass wir zu wenig für Jehova tun«, erinnert Mayreder sich. Um sein Versagen auszugleichen, ging Anna – obwohl selbst vollkommen erschöpft – noch engagierter von Haus zu Haus. Mit jedem Tag wog Mayreders schlechtes Gewissen schwerer. Die Migräne war kaum noch auszuhalten. »Ich war nicht mehr lebensfähig in diesem System«, sagt er.

Der Arzt, dem Mayreder nach seinem Hilferuf gegenübersaß, schrieb ihn für ein Jahr krank. Zwei Monate davon verbrachte er in einer Klinik, verliebte sich dort in eine andere Frau. Als die Gemeinschaft davon erfuhr, befragte ein Rechtskomitee seine Freunde, seine Frau – und verhängte die Strafe des Gemeinschaftsentzugs wegen »Ehebruchs und Hurerei«. Der Gemeinschaftsentzug, die vollkommene Ächtung, ist das Sanktionsmittel, mit dem die Gemeinschaft sicherstellt, dass ihre Mitglieder Jehovas Geboten gehorchen. Wer den »Abtrünnigen« fortan auch nur grüßte, enttäuschte Jehova. Deshalb wechselten in seinem Heimatort plötzlich alle ehemaligen Freunde die Straßenseite, wenn sie Mayreder sahen. Außerhalb seiner neuen Beziehung gänzlich isoliert, glaubte Mayreder noch ein Jahr lang, dass der Richtspruch rechtmäßig sei. Er war überzeugt, Satan zu dienen, und litt unter Depressionen, die nur langsam schwanden. Seine Angstträume blieben.

»Die Folgen eines Austritts sind für Zeugen Jehovas schlimmer als für Mitglieder anderer Kulte«, sagt der Münchner Psychologe Dieter Rohmann, der ausschließlich mit Sektenaussteigern arbeitet. Zwar schürten alle Gemeinschaften bei ihren Mitgliedern »Ausstiegsphobien«. Die Zeugen Jehovas seien jedoch die Einzigen, die »die vollkommene soziale Isolation«, oft sogar die weitgehende Trennung von Eltern und Verwandten, »derart programmatisch« durchsetzten.

»Der Gemeinschaftsentzug wird oft überbewertet«, entgegnet Christoph Wilker, Sprecher der Zeugen Jehovas auf dem Münchner Kongress. Man müsse das umgekehrt sehen: »Nicht wir entziehen die Gemeinschaft, sondern die Betroffenen entziehen sich der Gemeinschaft selbst.« Schließlich gebe es 82 Millionen andere Deutsche. Die Glaubensgemeinschaft wolle nur eine »Verweltlichung« verhindern, erzählt er. »Ich sag’s jetzt mal ganz hart: Das ist für uns etwa so, wie wenn jemand eine ansteckende Krankheit hat.«

»Viele Aussteiger leiden jahrelang unter Panikattacken und Angstträumen, in denen sie Jehovas Rache fürchten«, berichtet Psychologe Rohmann. Die Mehrzahl sei zudem schlecht vorbereitet auf ein Leben »außerhalb der Wahrheit«: Viele müssten einen Bildungsabschluss nachholen, hätten nie gelernt, eigene Entscheidungen zu treffen, Ereignisse außerhalb eines Schwarz-Weiß-Rasters zu bewerten. Wer den Austritt wage, sei völlig verzweifelt. Rohmann sagt: »Aussteiger entscheiden sich, vollkommen allein in eine fremde Welt zu gehen, die sie bisher als teuflisch gesehen haben.«

Wer aus dieser Enge ausbricht, sieht die Welt mit anderen Augen. Vielleicht arbeiten Aussteiger daher oft in der Kreativbranche. So hat Comedy-Star Oliver Pocher Kindheit und Jugend in Jehovas Organisation hinter sich; auch er klingelte im Predigtdienst an Hunderten von Türen. Mit seinem respektlosen Humor erweckt Pocher heute den Eindruck, er habe vor gar nichts Angst. Ein längeres Interview zu seiner Jugend hat er aber bis heute nicht gegeben. Aussteiger beziehen selten öffentlich Position. Zu tief sind ihre Wunden, zu lieb die Verwandten, die »in der Wahrheit« zurückgeblieben sind.

Bevor Mayreder das Olympiastadion verlässt, will er noch einmal durch die Menge laufen, sich beweisen, wie viel Mut, wie viel Unabhängigkeit er sich in den vergangenen Jahren erarbeitet hat. In der Ferne sieht er Bekannte, die unauffällig die Richtung wechseln. Andere grüßen, fragen verlegen, wie es geht, müssen dann dringend weiter. In der Tasche hat er einen achtseitigen Brief mit seiner Lebensgeschichte, den er an das bayerische Kultusministerium schicken will. So will er dazu beitragen, dass die Zeugen Jehovas in Bayern nicht als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt werden. Den Briefkopf mit dem Absender hat er abgerissen. Aus Angst. »Aus wär’s, wenn ich den hier verliere«, sagt er und blickt sich um.

Wie es um den Antrag steht, darüber könne keine Auskunft gegeben werden, heißt es aus dem Münchner Kultusministerium. Bei Erfolg hätte die Glaubensgemeinschaft Anspruch auf staatliche Leistungen, zum Beispiel Steuerermäßigungen und die Freistellung von Kontrollen. Vor allem wäre die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts aber ein enormer Prestigegewinn. »Das schien mir das zentrale Motiv zu sein, um das es den Zeugen Jehovas im Berliner Prozess ging«, sagt der emeritierte Staatsrechtsprofessor Christoph Link, der damals ein Gutachten verfasste. Die Frage, ob die Religionsgemeinschaft als »rechtstreu« im Sinne des Grundgesetzes gelten kann, stand im Zentrum des 15-jährigen Rechtsstreits in Berlin. Die Einwände betrafen zuletzt noch drei Punkte: die Verweigerung von Bluttransfusionen an Kinder als Verletzung des Rechts auf Leben, die Trennung von Familien durch die Praxis des Gemeinschaftsentzugs als Verletzung des Schutzes von Ehe und Familie sowie die Erziehungsvorgaben der Zeugen Jehovas als Verletzung der Erziehungspflicht der Eltern.

Was diese Vorwürfe betreffe, bewege sich die Religionsgemeinschaft jedoch im Rahmen des Grundgesetzes, urteilte das Berliner Gericht. »Typische Verhaltensweisen«, die Grundrechte verletzten, seien nicht zu belegen – wobei Lebensgeschichten von Aussteigern wie Elias Mayreder, die nur schriftlich vorgelegt wurden, kaum Glauben geschenkt wurde. Ohne Gutachten über den »psychosozialen Hintergrund« der Betroffenen, die oft eine »feindliche Retrospektive« entwickelten, seien diese Lebensberichte schwer einzuordnen. In dem Urteil heißt es weiter: Den vom Land Berlin »schriftsätzlich unterbreiteten Beweisangeboten von sich aus nachzugehen, hat der Senat unter den gegebenen Umständen keine Veranlassung gesehen«.