SZ-Magazin: Frau Melzer, Sie arbeiten als Sexualtherapeutin in München und behaupten in einem Buch, sexuelle Verhaltensstörungen hätten in Zeiten des Internets zugenommen. Woher wollen Sie das wissen?
Heike Melzer: Die Probleme, mit denen die Leute, auch Paare gemeinsam, seit 15 Jahren zu mir kommen, haben sich verändert. Als ein Mann vor zehn, zwölf Jahren bei mir auftauchte, dessen Gattin ihn pornosüchtig nannte, habe ich das noch als übertrieben abgetan. Aber Pornosucht ist tatsächlich ein neues Krankheitsbild. Genau wie junge Männer mit Potenzstörungen oder Orgasmusverzögerungen.
Wer sind die Leute mit Sexualstörungen? Kommen Ihre Patienten aus allen Schichten?
Ja, das betrifft alle Gesellschaftsschichten. Ich sehe hier einige Parallelen zu Ernährungsstörungen, zum Beispiel dem erworbenen Diabetes. Laut WHO-Katalog sind davon besonders die reichen Leute in den armen Ländern betroffen, die Armen in den reichen Ländern. In den Schwellenländern erkranken die meisten Menschen in absoluten Zahlen. Diabetes Mellitus ist eine Stoffwechselstörung des Insulinhaushaltes, jetzt erleben wir eine Stoffwechselstörung des Dopaminhaushalts, des körpereigenen Belohnungssystems im Gehirn. Auch beim Sexualverhalten droht ein relativer Mangelzustand und eine mangelnde Ansprechbarkeit des Gehirns direkt in die Sexsucht umzukippen. Über das Internet können Sie sich den spezifischen Sex passend zu Ihrem individuellen Triebmodus dazubuchen, und das mit viel stärkeren Reizen als sie ein Partner auslösen kann. Das ist neu, und damit muss man erst lernen umzugehen, so wie mit Zucker.
Auf Zucker kann man im Zweifel ganz verzichten. Raten Sie den Menschen, gar keinen Sex zu haben?
Es lebt sich weder besonders gut ohne Zucker als auch ohne Sex. Ich möchte die Veränderungen ja gar nicht werten, sondern nur beschreiben. Ich glaube, dass die neu gewonnene Freiheit im Sexverhalten eine gewisse Selbstkontrolle nötig macht. So wie beim Essen, wo man auch die Gummibärchen mal auslassen oder auf die Geschmacksverstärker beim Chinesen verzichten muss und stattdessen wieder mal Apfel und Banane nimmt. So sollte es sich auch in der Sexualität verhalten. Nicht jeder ist suchtanfällig für Pornos, aber das Internet bietet starke Reize und der Anteil derjenigen, die soziale, wirtschaftliche oder gesundheitliche Probleme bekommen, nimmt merklich zu.
Welche Störungen häufen sich?
Bekannte sexuelle Funktionsstörungen kommen in neuem Gewand daher: Orgasmusverzögerung kommt häufiger vor, weil die natürlichen Reize nicht mehr ausreichen. Orgasmus- und Potenzstörungen gab es ja schon immer, aber früher waren da Männer ab 50 aufwärts betroffen, heute ab 18. Und denen rät man zu Viagra, obwohl die Testosteron bis unter die Decke haben. Das kann doch nicht die Lösung sein. Die allgemeine Lustlosigkeit nimmt zu, und das liegt auch am Coolidge-Effekt.
Wie bitte? Coolidge-Effekt?
Forscher haben in Experimenten herausgefunden, dass bei Tieren, die immer nur mit dem gleichen Partner verkehren, die Zeit bis zur Ejakulation zu- und die Kopulationsbereitschaft abnimmt. Mit einem unterschiedlichen Partner geht alles wieder ohne Probleme. Der Effekt trifft auch auf den Menschen zu, nur hat heute durch das Internet die Gelegenheit, neue Partner virtuell oder real zu finden, zugenommen: In den fünf, sechs großen Casual-Dating-Portalen treiben sich zehn Millionen Bundesdeutsche herum, von denen ja viele in verbindlichen Beziehungen sind. Gleichzeitig geht die Schere zu den Unberührten immer weiter auseinander. Die schauen zwar Pornos, gehen auch zur Tantramassage und befriedigen sich selbst, aber denen fehlt etwas auf der emotionalen Ebene, denn sie haben keine realen Beziehungserfahrungen.
Es gibt Ihrer Erfahrung nach immer mehr Vierzigjährige, die noch nie Sex hatten?
Klar. Die kommen dann in ein Alter, besonders wenn sie einen Kinderwunsch verspüren, in dem sie denken, sollte doch mal sein, aber sie wissen nicht, wie das gehen könnte. Die kennen sich dann in ausgefeilten Masturbationstechniken aus, wissen unter Umständen, wie man per Remote Control einen Vibrator bei einer Frau in der Ukraine betätigt, aber haben nie gelernt, wie sie mit einem realen Partner in Interaktion treten könnten. Die haben ihre Triebe abgespalten. Da können dann auch noch Funktionsstörungen hinzukommen. Sogar Frauen sagen sich heute oft: Ich fang jetzt nicht mit Penis, Zunge oder Hand an, wenn ich mich ohne mit Sex-Toys in der virtuellen Welt gut versorgen kann. Von Sexsucht können Unberührte, die nur an Sex denken und dreimal täglich masturbieren, natürlich genau so betroffen sein wie Leute , die ihr ganzes Geld zu Prostituierten tragen. Sexsucht ist weit verbreitet.
Wie heilen Sie Sexsucht?
Ich habe ein komplexes Hypnoseverfahren entwickelt, Sie müssen ins Unterbewusstsein der Leute rein, ist ja keine kognitive Sache. Der Wille wird vom Frontalhirn aus gesteuert, das Belohnungszentrum liegt im Stammhirnbereich, dort werden Emotionen und Triebe reguliert. Um an die Triebe zu kommen, muss man mit Bildern und Metaphern arbeiten. Das Unterbewusstsein versteht keine Zehn- Punkteliste zum Abarbeiten. Dabei arbeite ich mit den schon vorhandenen Bildern der Klienten, immer lösungsorientiert an Anstrebungsziele gekoppelt.
Ist Hypnose das einzige, was hilft? Egal bei welcher Störung?
Nein, aber das Bewusstsein und der Wille sind nur die Hälfte der Reise. Ich arbeite ja vor allem verhaltenstherapeutisch und systemisch mit meinen Paaren. Ich selbst bin sehr kognitiv strukturiert, habe aber einmal durch eine bestimmte Hypnose eine Nahrungsmittelallergie gegen Steinobst überwunden. Schon nach zweieinhalb Sitzungen konnte ich wieder frischgepressten Möhren- und Apfelsaft trinken, ohne gleich einen belegten Hals zu bekommen. Ich habe diese Form dann für Suchtpatienten modifiziert, bei denen man über das Bewusstsein kaum Einfluss auf ihr Suchtverhalte nehmen kann. Sie müssen das Unterbewusstsein mitnehmen, und da arbeiten Sie mit Gefühlen in der Metaphorik und Bildern. Es reicht nicht, immer zu wiederholen: Pornos sind dir unwichtig und du bist auf einer grünen Wiese. Ich spreche die ganze Zeit über mit denen, meine Patienten legen sich auch nicht hin. Bis zu drei Stunden dauert das, bis man ein anderes Gefühl bekommt. Nicht für jeden passt alles.
Wie viele Leute verlassen Ihre Praxis geheilt?
Ich habe eine Privatarztpraxis und bin an keiner Uni unterwegs, in der ich aufwendige Forschung betreiben kann. Ich kann also nur über aktuelle Klienten sprechen und diejenigen, die ich von Zeit zu Zeit wiedersehe oder Rückmeldung bekomme. Die merken in der Regel schnell, dass sich was an ihrer inneren Struktur ändert, aber manchmal bleiben sie dennoch Monate in Behandlung. Leider kann ich nicht sagen, jeder zweite werde geheilt. Sucht ist eine chronische Erkrankung, Rückfälle gehören auch bei der Sexsucht einfach dazu. Ich behalte die Leute nur solange, bis sie wieder allein zurechtkommen können, ich geb ihnen Mechanismen mit und schicke sie möglichst bald wieder auf die Straße, Therapie nur im Mindestmaß. Vieles können die Klienten selber machen: sich informieren, in Foren mit Betroffenen austauschen, in Selbsthilfegruppen gehen.
Was ist denn eine erstrebenswerte, normale Sexualität?
Bei dem Wort normal muss ich schmunzeln. Beim Sex gibt es das eher nicht. Man darf ganz viele Sachen machen, wobei man natürlich an Gesetze gebunden ist und an einen Vertrag mit dem Partner, wonach niemand geschädigt wird. Ich kannte einen Siebzigjährigen, der sich in Folie einwickeln ließ und der Partner ging zum Einkaufen und er liebte die Hilflosigkeit und Ruhe, die er dann empfand, die konnte er in sexuelle Energie umwandeln. Wenn sich allerdings ein Fetisch zu einer zwanghaften Fixierung entwickelt, kann sich das zu einem Riesenproblem in einer Beziehung auswachsen.
Hat auch die Zahl der Fetischisten zugenommen oder trauen sich die Leute einfach eher, darüber zu sprechen?
Sie hat sicherlich zugenommen. Allein dadurch, dass sich die Leute austauschen können, kommen sie erst auf die Idee, bestimmte Dinge auszuprobieren. Reize werden über Nervenbahnen geleitet, die immer wieder traktiert werden. Rot - Gefahr, rot - Gefahr, so soll es bei Kindern auf der Straße funktionieren, und so funktioniert das auch in der Sexualität. Pornoinduzierte Fetische sind heute an der Tagesordnung und wenn sie der Partner nicht teilt, haben Sie ein Problem.
Gibt es auch eine Konditionierung für Treue?
Es gibt nur unterschiedliche Konzepte. Treue ist gut, wenn Sie Kinder haben, sie gibt Sicherheit. Sie müssen sich auch nicht jedes Mal neu überlegen, mit wem Sie in den Urlaub fahren. Außerdem lebt man mit festem Partner länger und besitzt eine bessere Immunabwehr.
Allerdings spielen die Hormone eine große Rolle in punkto Untreue und es gibt sicherlich auch anfälligere Typen. Wer sich Jahre lang durch Dutzende Betten getindert hat, kommt vielleicht schon beim kleinsten Problem in einer festen Partnerschaft auf die Idee, fremdzugehen. Wessen Eltern untreu waren, unterliegt einer größeren Wahrscheinlichkeit, selbst untreu zu werden. Genau so wie beim Alkoholmissbrauch oder anderen Süchten. Kinder, die geschlagen wurden, neigen auch eher dazu, Partner zu suchen, die sie wieder schlagen oder auch dazu, selbst zu schlagen. Obwohl sie das als traumatisch erfahren haben, bedeutet Gewalt für sie eine Lösung. So wie sich Scheidungskinder häufiger scheiden lassen, weil sie das als Lösungsmöglichkeit erfahren haben. Die Statistik sagt allerdings überhaupt nichts über den Einzelfall aus.
Machen Pornos nun süchtig oder nicht?
Ja. Und nein. Das ist so ähnlich zu beantworten wie die Frage, ob Süßigkeiten fett machen: Sie können, müssen nicht. Kommt auf die Dosis an. Ich nutze Pornos etwa bei Unberührten oder Leuten, die überhaupt keinen Kontakt zum Körper haben. Oder bei Menschen, die gar nicht wissen, ob sie auf Männlein oder Weiblein stehen. Partner können dadurch auch Abwechselung ins eingeschlafene Sexualleben holen. Wer Pornos schaut, weil er schlechte Gefühle umgehen will, Frust mit dem Partner hat, sich vor der Prüfung ablenken will, die Dosierung immer steigert, länger guckt oder stärkere Reize sucht, wer das verheimlicht, und für wen das Konsequenzen bei der Arbeit, in der Beziehung oder Gesundheit hat, der sollte sich Sorgen machen. So wie bei Alkohol- oder Fresssucht.
Wirkt sich ein verändertes Sexualverhalten auch auf das Verständnis von Liebe aus?
Wenn sich die Triebe autonom versorgen, hat das Einfluss auf die Liebe. Treue und Exklusivität werden neu definiert. Sie können in Timbuktu sitzen und mit jemandem am Nordpol Sex haben. Der Liebe wird ein Stück weit ihre Kernkompetenz der sexuellen Exklusivität abgegraben. Wir befinden uns auf einer Reise und sind längst nicht am Ende. Es wird Verlierer und Gewinner dieser Entwicklung geben. Die Gewinner erfreuen sich am reichhaltigen Sortiment. Partnerschaften werden immer variabler. Wer eine Vorliebe für Analsex hat, die der Partner nicht teilt, findet ohne Probleme jemanden im Internet. Solche »casual dating partner« waren früher schwerer zu finden. Heute ist die Verführung sehr viel größer, denn Affären lassen sich aus der heimischen Komfortzone anbahnen. Die Leute sagen sich: Mit dem schlafe ich zwar, aber ich will nicht mit ihm zusammensein. Natürlich muss man da gut kommunizieren, die Verletzungen durchs Fremdgehen können immens sein. Wenn Sie einmal den Whatsappverlauf ihres Partners mit einer fremden Person finden, kriegen Sie den nicht mehr aus dem Kopf. Geht ja noch schlimmer, wenn der Gatte bei Kaufmich einen Goldstatus hat, und die Prostituierten ihm reizende Kommentare geschrieben haben wie: Der behandelt mich immer gut usw. Oder die Frau, die beim Mann, den sie heiraten wollte, im Browserverlauf die Pornosammlung sah und da war nichts Normales dabei, sondern nur Filme mit Umschnalldildo und Werkzeuge für eine Elektrostimulation der Harnröhre.
Muss man den Treuebegriff nun weiter oder enger fassen?
Nee, er ist mehr Verhandlungssache geworden. Wenn Sie 100 Leute nach Treue und Liebe befragen, bekommen Sie 100 unterschiedliche Antworten, das war früher nicht so. Heute ist es diffiziler, die Paare dürfen darüber nicht schweigen, sondern müssen sich damit auseinandersetzen, was für sie jeweils Treue bedeutet. Das kann eine harte Auseinandersetzung bedeuten, aber Wegschauen hilft ja nicht.
Die Paare wissen oft nichts mehr voneinander, gehen sprach- und lustlos ins Bett, der Mann schaut vielleicht noch nach, ob bei seinem Joyclub-Portal schon irgendjemand angebissen hat, während die Frau ihren Womanizer, den High-Tech-Vibrator, aus dem Nachttisch holt oder ein bisschen »Shades of Grey« liest. So sieht die Realität vielerorts in Deutschland aus. An Lust fehlt's nicht, aber an Lust aufeinander. Diese Themen sind gesellschaftlich brisant. Das Internet beseitigt Hemmungen, ich nenne das eine Autonomisierung der Triebe. Dieses gesellschaftliche Phänomen wächst sich zu einer neuen sexuellen Revolution aus.
Das Buch »Scharfstellung - Die neue sexuelle Revolution« von Heike Melzer erscheint am 30. August bei Tropen/Klett-Cotta.