Der See ist gefroren, lass uns auf den See gehen. In der Hand hält er die weißen Schlittschuhe, die unser Vater ihm auf dem Trödelmarkt in Dülken für fünf Deutsche Mark gekauft hat. Sie sind ein wenig zu groß, sagt er, aber wenn ich drei Socken übereinanderziehe, wird es schon passen. Der Aufregung in seinem Gesicht kann ich nicht widerstehen. Komm, sage ich, wir gehen auf den See. Ich nehme die Plastiktüte, in der meine schwarzen Schlittschuhe sind, zusammen laufen wir zum Wasser. Wie ein Ameisenhaufen bewegen sich die Menschen, es gibt kaum noch Platz auf der Eisschicht. Und warum hast du deine Handschuhe vergessen, schimpfe ich mit ihm. Sei doch nicht böse mit mir, wieder setzt er seinen unsicheren Wellensittichblick auf. Okay, pass aber bitte auf. In letzter Zeit hatte ich immer wieder denselben Traum, beim Schlittschuhlaufen fliege ich auf die Schnauze, bevor ich wieder auf die Beine komme, fährt ein anderer über meine Finger. Im Krankenhaus löst die Krankenschwester den Verband, Mutter weint hinter mir, sie lehnt die Stirn an die Wand und singt ihr Weinen. Ich verbringe den Rest meines Lebens wie Motu Leech aus der He-Man-Serie, statt Fingern besitze ich nun zwei dicke Saugnäpfe, kann sogar an hohen Gebäuden hochklettern. Doch auch wenn es nur ein Traum ist, ich muss ihn wieder heil nach Hause bringen, sonst habe ich als älterer Bruder ein Problem.
Die Welt, so schwer wie der Morgenmantel
Wenn irgendwo kein Regen mehr fällt, zerreißt es Familien und Generationen, der Schriftsteller Dinçer Güçyeter hat das selbst erfahren. Seine Kurzgeschichte handelt vom Wirrwarr der Gefühle im Angesicht der Katastrophen.