SZ-Magazin: Ist die Allgemeinheit in Deutschland wirklich so schlecht angezogen, wie es uns die anderen Länder oft vorwerfen?
Gabriele Strehle: Es ist bei uns nicht anders, als in den übrigen Ländern der Welt: Gut angezogenen oder aufregend gestylten Menschen begegnet man meist in den Metropolen. Und in der Provinz?
Ich habe in Rosenheim mehr Frauen und Männer mit Stil gesehen, als in einer entsprechenden Stadt im mittleren Westen der USA. Was mir im Ausland peinlich ist: die Deutschen vergessen jede Art von Manieren und Stil, wenn sie in den Urlaub fahren. Bequem muss es sein, sonst nichts.
Die Socken in den Sandalen, die zu langen Anzughosen – was sind für Sie typisch deutsche Stil-Faux-Pas?
Mangelnde Haltung. Modisch, menschlich, körperlich. Und mangelndes Gefühl für das, was passt. Zur Figur, zur Situation, zum Wesen. Guter Stil ist der Sinn für das Angemessene, das Gespür für die Auswahl und die Freude an Qualität.
Wie hat sich das deutsche Modebewusstsein in den letzten Jahren verändert?
Es hat sich unübersehbar zum Guten verändert. Modebewusstsein verlangt, sich seiner selbst bewusst zu sein, also seine Schwächen und Stärken zu kennen und herauszufinden, was der eigenen Persönlichkeit entspricht. Die Deutschen denken darüber heute ganz offensichtlich mehr nach als früher. Heute sind die Italiener Vorbilder in Fragen des Lebensstils: Espresso, Pinot Grigio, Tartufo bianco, Gigli, Alessi, Armani.
In Italien und Frankreich wird Mode als Teil der Kultur betrachtet. Das ist in Deutschland noch nicht so, hier ist sie vor allem ein Konsumgut, mit dem man viel Geld verdienen kann. Woran liegt das?
Es gibt in Frankreich und Italien eine Art textile Erziehung. Da gehen die Jungen mit dem Vater den ersten Anzug kaufen, lernen, wie sich ein guter Stoff anfühlt, was ein guter Schnitt ist und sind stolz darauf, einen Anzug tragen zu dürfen. Die Mädchen gehen mit der Mutter in ein gutes Dessousgeschäft und verstehen, dass gut gekleidet zu sein bei der Wäsche beginnt. Etwas zum Reinwachsen zu kaufen ist eine Unsitte, die dort keiner kennt. Außerdem schreiben in Frankreich und Italien seit Jahrhunderten Edelfedern über die Philosophie der Mode wie des Essens und Trinkens, das adelt diese Disziplinen.
Was folgt daraus für den Stil der Deutschen im Vergleich zu dem der Italiener oder der Franzosen?
In Frankreich und Italien gehört es für die meisten zum Stil, angezogen zu sein, nicht nur nicht notdürftig bekleidet. Das gewährt eine Art Basis-Eleganz, unabhängig von Geld, Figur und Alter. Ich habe beobachtet, wie sich in Ligurien abends an der Mole die alten Herrschaften trafen, die Herren im Anzug, die Frauen im Kleid oder Kostüm. Wenn Sie in Venedig mit einem gepflegten Outfit und feinen Schuhen auftreten, auch an einem heißen Tag, und nicht halbnackt durch die Straßen schlurfen, werden Sie sofort für eine Einheimische gehalten.
Mit dem Satz „Mode ist mir egal“ beweist man in Deutschland eben gerne, dass man Tiefgang und Äußerlichkeiten unwichtig findet. Ihre Antwort?
Es gibt sehr viele Menschen, die halten die Beschäftigung mit Mode für Geld- und Zeitverschwendung. Sie bekleiden sich so wie sich Fastfoodliebhaber ernähren. In beiden Fällen ist die Wirkung der Verlust von guten Formen, Formen in jedem Sinn. Und das kommt schlecht an, beruflich wie privat. Wem seine Kleidung völlig gleichgültig ist, dem gilt auch sonst alles gleich viel – also gleich wenig. Ist das liebenswert?
Warum haben wir hier scheinbar besonders viel Angst davor, oberflächlich zu wirken?
Bei uns gibt es intellektuelle und feministische Vorbehalte gegen Mode. Mode, heißt es da, behindere die Freiheit der Gedanken und die Freiheit der Frau. Das lässt viele das Wichtigste verkennen: Wie jede Kunst spiegelt das Design, ob Produktdesign oder Modedesign, deutlicher als alle anderen Künste die Gesellschaft wieder. Diese Spiegel hängen nicht in Museen oder stehen in Regalen, wir sehen sie überall im alltäglichen Leben. Mode ist eine sinnliche und rasche Reaktion auf das Jetzt. Sich mit Mode befassen heißt, Ja zum Leben sagen. Oberflächen zu lieben, zu studieren und zu kultivieren ist eine sehr tiefgründige Angelegenheit.
Deutschland hat einige große Modedesigner hervorgebracht. Sie sind eine davon. Werden Modedesigner hier genug gefördert?
Gefördert werden müsste vor allem, dass Mode ganz selbstverständlich als Teil der Kultur anerkannt und behandelt wird. Paul Gallico wurde um Frankreich der Sechzigerjahre berühmt mit dem Roman Ein Kleid von Dior. So weit müssten wir mal kommen. In einen Spielfilm über Coco Chanel rennen die Franzosen wie die Deutschen. Wo bleibt ein Spielfilm über Karl Lagerfeld?
Was erwarten Sie in diesem Zusammenhang von der Fashion Week in Berlin?
Viel, denn Berlin ist eine Stadt von einzigartiger Suggestionskraft. Hier wirkt die Kunstszene auf die Mode ein und die Mode auf die Kunstszene. Hier greifen internationales Leben und internationaler Stil so eng ineinander wie in den Sechzigern in Paris, in den Siebzigern in London, in den Achtzigern und Neunzigern in New York. Dass 2009 zum ersten Mal Suzy Menkes die Fashion Week besucht hat, sagt mehr als viele Worte. Berlin war in den 20er Jahren eine Modemetropole und wird es wieder sein. Mode ist Zeitgefühl – hier kann das jeder erleben.
Christine Zerwes' Gedanken zur deutschen Modemisere lesen Sie hier.