Stehvermögen

Je mehr im Internet eingekauft wird, desto überflüssiger werden Schaufensterpuppen? Stimmt nicht: Sie werden immer wichtiger.

Ralph hat wieder Yasmin bestellt. Schmaler Kopf, klassische Gesichtszüge, perfekte Brüste. Erst Mitte zwanzig, aber schon ihr ganzes Leben lang im Geschäft. Mal soll sie nur dastehen, mal die Hände in die Hüfte stemmen. Meistens hat sie lange Haare, manchmal trägt sie große Ohrringe, immer ist sie leicht gebräunt, Nuance »Macoccino«.

Ralph ordert sie so oft, dass er sie mittlerweile exklusiv hat. Aber für den nächsten Job wollte er zur Abwechslung auch noch ein anderes, ein blasses Mädchen haben. Also steht Kevin Arpino Ende Juli in seinem Atelier im Westen von London und prüft, ob »Caroline« die richtige Nuance aufgesprüht wurde. Arm für Arm, Bein für Bein. Um genau zu sein, sind es vierzig Beine und vierzig Arme, die hier in den vergangenen Tagen eingesprüht worden sind. Ralph ist der amerikanische Designer Ralph Lauren, und wenn er Anfang September eine neue Boutique in New York eröffnet, hat dort eine ganze Armada von Carolines und Yasmins zu stehen. Aufwendige Haare, natürliche Augen, volles Make-up – sie sehen wirklich fast aus wie echte Models.

»Sie sind nur ein bisschen weniger zickig«, sagt Kevin Arpino mit einem Grinsen. Arpino, Anfang sechzig, ist der Kreativdirektor von Adel Rootstein, einer der bekanntesten Manufakturen für Schaufensterpuppen. Arpino hat Hunderte von ihnen entworfen. Modelliert werden sie nach dem Vorbild echter Models, nach Twiggy aus den Sechzigern oder Pat Cleveland aus den Siebzigern – oder, wie »Yasmin«, nach Yasmin Le Bon, dem britischen Topmodel der Achtziger, das mit Simon Le Bon verheiratet ist, dem Sänger von Duran Duran. Anschließend werden die Kopien aus Fiberglas in die Welt verschickt. Wo sie dann sieben Tage pro Woche in den Schaufenstern stehen, rund um die Uhr, ohne mit der Wimper zu zucken. Und wenn sie mal irgendwo einen Kratzer abbekommen, wird neu lackiert, schon sind sie wieder einsatzbereit. In der harten Modebranche sind sie die härtesten Mädchen.

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Dafür kostet eine Rootstein rund 1000 Euro pro Stück. 15 000 dieser Puppen verlassen pro Jahr die Lagerhalle in West Kensington. Rootstein beliefert viele wichtige Kunden, Louis Vuitton, Tom Ford, Ralph Lauren, Luxuskaufhäuser wie Bergdorf Goodman, Ketten wie Topshop und Zara. Was gilt denn in der Branche derzeit als schön, was für Puppen sind gefragt? »Mehr Make-up, mehr Haare, mehr Pose«, sagt Kevin Arpino, der sich damit selbst nicht besser beschreiben könnte. Er trägt das ganze Jahr gut gebräunten Teint, Undercut-Frisur, schwarze enge Jeans. Mit seiner durchgerauchten Stimme sagt er: »Die guten Mädchen müssen sich wieder abheben von all den gesichtslosen Puppen da draußen.«

Denn bis vor Kurzem waren vor allem die »Abstrakten« gefragt, wie sie in der Branche heißen: Schaufensterpuppen ohne Gesichtszüge, ohne Ohren, ohne Haare. Sie sollten nicht ablenken von der Kleidung, sich jedem Stil anpassen. Nicht durch Hautfarbe und Körperform zu sehr einen Typ Kunden ansprechen – und andere abschrecken. Außerdem sparte man sich die ewigen Streitfragen: Zähne oder keine Zähne? Stilisierte oder echte Haare? Brustwarzen sichtbar: ja/nein? Ist die Beule in der Boxershorts nicht doch zu mächtig? Billiger waren viele der simplen Puppen natürlich auch, oft kamen sie aus China, wo sie statt aus teurem Fiberglas nur aus Plastik gemacht werden.

Ironischerweise wird die Schaufensterpuppe nun durch genau jene Entwicklung reanimiert, die eigentlich ihr Ende hätte besiegeln müssen: die wachsende Konkurrenz der Onlineshops. Die Leute brauchen ja nicht mehr in die Läden zu gehen, um einzukaufen, der Bildschirm ersetzt das Schaufenster. Irgendwann merkten das auch die Boutiquenbesitzer. Sie mussten sich etwas einfallen lassen. Ihre Erkenntnis war: In den Fenstern muss mehr passieren. Die Puppen müssen wieder mehr hermachen.

Jetzt sind die Puppen mal tätowiert, mal halb transparent und leuchtend, oder sie werden, wie unlängst bei Prada, passend zum Kleid komplett mit Camouflage bemalt. Kenzo ließ vor ein paar Saisons die eigene Werbekampagne eins zu eins in die Schaufenster übersetzen, mit Puppen, die den Models aus den Anzeigen haargenau nachempfunden waren. Auch Louis Vuitton wollte im vergangenen Herbst die Schaufenster im Look der spektakulären Modenschau des damaligen Designers Marc Jacobs präsentieren: die exakt gleiche Hotelzimmerszenerie, von der Tapete bis zum Teppich, und natürlich mit Kopien eines der Showmodels. Also fertigte Kevin Arpino in wochenlanger Arbeit 150 Schaufensterpuppen, zehn pro Laden, mit den gleichen schwarzen Perücken, den gleichen Gesichtern, in der gleichen Pose. Wie die Models der Show schienen sie mit extralangen Schritten durch eine Hotelsuite zu stapfen.

Man hätte sie sich dann ewig durch die Scheibe anschauen können, doch diese Puppen werden voraussichtlich schneller arbeitslos als viele ihrer Kolleginnen. Bei Rootstein stehen jene Modelle, die gerade nicht im Einsatz sind, in wild zusammengewürfelten Gruppen zusammen, nackt, ins Leere schauend, eine Hand am Kinn, die Beine seltsam x-förmig. Fiberglaspuppen sind aus einem Guss gefertigt, jedes Model verharrt auf ewig in seiner Pose. Der Designer oder Dekorateur muss daher zu Beginn der Saison entscheiden, was er präsentieren will: Liegende Puppen sind gut für Unterwäsche und Abendroben. Sitzende am besten für lange Röcke und um Schuhe zu zeigen. Das erklärt auch, warum sie so oft die Hände in die Hüften stemmen. Damit lassen sich am besten Mäntel oder zwei Lagen übereinander präsentieren. Mädchen mit so einer häufig verwendeten Pose kommen meistens nur kurz zu Rootstein in die Werkstatt, ein paar Kratzer weglackieren, Make-up ändern, und werden dann zurück zu Tom oder Ralph verfrachtet. Aber wohin mit 150 marschierenden Models?

Ein großes Haus wie das KaDeWe in Berlin muss sich einen riesigen Pool von Schaufensterpuppen in allen Lebenslagen halten. Vor ein paar Jahren investierte das KaDeWe in 1000 neue »Schläppis« der italienischen Manufaktur Bonaveri, mit je knapp 1900 Euro das teuerste Modell der Branche. Die »Schläppi« ist mehr giacomettihafte Skulptur als Puppe, ohne Gesichtszüge, aber mit extralangen Gliedern. Sehr elegant, sehr zeitlos. Sie steht auch in den Fenstern von Dolce & Gabbana, Bottega Veneta oder Ermenegildo Zegna.

Doch selbst diese Puppen bekommen jetzt häufiger Perücken oder lackierte Fingernägel verpasst. Trägt die Kundin momentan ständig neue Nagellackfarben, muss das Schaufenster diesen Trend spiegeln. Dior verwendet in seinen Boutiquen deshalb Modelle mit magnetischen Lippen, Augen und Nägeln: damit die Farben leichter gewechselt werden können. Schließlich verkauft das Haus nicht nur Kleidung, sondern auch Kosmetik.

»Es geht nicht um Kunst, sondern um Kleiderständer«, sagt Arpino. »Aber du brauchst einen verdammt guten Kleiderständer, um deine Sachen zu verkaufen.« Er streicht einer der Puppen, die in einem staubigen Regal neben ihm sitzen, über den Fußrücken. »Früher haben wir die Fersen ungefähr acht Zentimeter hoch geformt. Jetzt müssen es bis zu zwölf Zentimeter sein, weil die Absätze immer höher werden.« In den Achtzigern waren die Hälse plötzlich nicht lang genug, die enormen Schulterpolster stießen fast an die Ohren. Die Modelle haben im Laufe der Zeit einiges mitgemacht. »Die Kunden müssen sich mit ihnen identifizieren können«, sagt Arpino. Denn je höher die Identifikation, desto wahrscheinlicher, dass man tragen möchte, was die Puppe trägt.

2010 präsentierte Arpino eine Kollektion mit Männerpuppen, die eine 27er-Taille und deutlich sichtbare Rippenbögen hatten. So, wie viele echte Männermodels heute nun mal gebaut seien, sagt Arpino. Aber der Aufschrei war so groß, dass die Puppen aus dem Fenster genommen werden mussten. Umgekehrt bekam Rootstein einmal von der spanischen Kette Zara den Auftrag, passende Figuren für die Kleidergröße 38 des Hauses anzufertigen. Bei der Übergabe waren die Spanier entsetzt: Die Frauen seien ja dick! Zu viel Wirklichkeit ist dann doch nicht gefragt.

Immer wieder wird auch versucht, die Schaufensterpuppen nicht nur realistischer, sondern auch intelligenter zu machen. In den Neunzigern konnten Puppen plötzlich ihren Blick durch den Raum wandern lassen wie echte Menschen. Daraufhin verließen allerdings viele Kunden fluchtartig die Läden, weil sie sich unangenehm beobachtet fühlten. Vor zwei Jahren kamen Modelle mit versteckten Kameras auf den Markt, die per Gesichtserkennung Daten wie Alter des Kunden, Herkunft und Verweildauer im Laden liefern sollen. H & M testete kürzlich in der New Yorker Filiale am Times Square bestimmte Puppen mit kleinen Bildschirmen an der Stirn, die Preise und andere Produktinformationen anzeigen.

Sie sollen kommunikativer werden, so viel ist jedenfalls klar. Im August brachte die Londoner Firma Iconeme Puppen mit eingebauter Shoppingsoftware auf den Markt. Über eine App können die Kunden so sämtliche Informationen über die Kleidung an der Puppe abrufen: Marken, Preise, der Ort, an dem in dem riesigen Laden die ausgestellten Teile zu finden sind. Oder man kauft den Look gleich mit dem Handy im angeschlossenen Onlinestore. So würden »offline« und »online« endlich zusammenwachsen, sagt Jonathan Berlin, einer der Gründer von Iconeme. Vor allem sei das Schaufenster dann wirklich rund um die Uhr aktiv. Abschalten können die Mädchen dann gar nicht mehr.

Fotos: Daniel Stier