Der FC Bayern München liegt fast immer hinter Borussia Dortmund, und das seit Jahren. Danach folgen abgeschlagen Bayer Leverkusen, Eintracht Frankfurt, Werder Bremen. Gelegentlich reißt es mal ein einzelner Spieler raus, aber die Schwarz-Gelben sind insgesamt einfach beliebter. Allerdings gibt es auch weniger von ihnen, das macht sie automatisch gefragter.
Immerhin auf dem internationalen Vintage-Markt sieht die Rangfolge also so aus, wie BVB-Fans sie gerne hätten. Ein Original-Trikot aus der Saison 1996/1997 beispielsweise, als Riedle, Möller und Chapuisat mit 3:1 gegen Juventus Turin die Champions League gewannen, kostet bis zu 400 Euro. Das minimalistische rote Bayern-Leibchen mit dem Commodore-Logo und der Rückennummer 4 aus den Jahren 1984 bis 1989 wird für höchstens 300 Euro gehandelt. Angesichts solcher Preise werden sich Anhänger beider Lager jetzt wahrscheinlich ärgern, dass sie ihre Trikots von damals nicht aufgehoben haben.
Alte Fußballtrikots waren früher nur etwas für Hardcore-Fans, vielleicht noch fürs Vereinsmuseum. Wer als Teenager darin eine ganze Saison oder ein besonderes Spiel seiner Mannschaft verfolgt hatte, trennte sich erst mal nicht von seinem Andenken. Aber getragen wurden sie kaum wieder. Das Neue, egal wie gelungen im Design, bestimmte den Zeitgeist. Die Trikots aus vergangenen Saisons lagen jahrelang in Schubladen herum oder landeten schließlich in der Altkleidersammlung. Schätze, von denen jetzt eine ganze Branche lebt.
Classic Football Shirts, Stunner, Vintage Football Shirts, Cult Kits, Classic Soccer Jerseys, Kitlaunch – mittlerweile gibt es mehr als ein Dutzend Anbieter für alte Fußballtrikots. Sie sitzen in London, Manchester, Wales, Brüssel oder Barcelona, liefern über ihre Online-Shops aber weltweit und versammeln eine wachsende Fangemeinde. Fußballbegeisterte und Sammler, die ein bestimmtes Design von früher suchen, aber auch immer mehr Modeinteressierte, die einfach die Optik mögen.
Vintage-Kleidung erlebt schon lange eine Blüte. Gebrauchtes ist nicht mehr einfach von gestern, sondern wirkt in dem Überangebot von neuen Kollektionen auf einmal individueller, nicht zuletzt nachhaltiger. Das Mischen von Altem mit Neuem ist vor allem bei jüngeren Generationen längst zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Die gleiche Entwicklung lässt sich nun bei Trikots beobachten, die nicht mehr nur im Stadion, sondern wie normale T-Shirts im Alltag getragen werden. Kinder möchten immer noch am liebsten das aktuelle Saisonshirt ihrer Mannschaft besitzen. Aber schon ältere Jugendliche und junge Erwachsene suchen immer häufiger nach Vintage-Trikots. Weil sie plötzlich cool sind, und weil sie im besten Fall noch ein ikonisches Design und eine gute Geschichte aus glorreichen Tagen auf sich vereinen. Neymar jr. mag seine Karriere zuletzt spektakulär vergeigt haben, aber die Trikots aus seiner Anfangszeit beim brasilianischen Club Santos sind immer noch heiß begehrt. Oder dieses Arsenal-Auswärtstrikot von 1991 bis 1993 mit gelbgrünen Zacken, das von den Fans damals die »lädierte Banane« genannt wurde. Arsenal gewann damit keinen Blumentopf, aber das Design ist so berühmt, dass Sammler dafür schon mal 500 Euro hinlegen.

Schwäbische Geschichte: Auch die Vintage-Hemden deutscher Vereine sind gefragte Sammlerstücke.
Foto: Louis Bever
»Der heilige Gral ist natürlich das blassorangefarbene Holland-Shirt, mit dem sie 1988 die Euro gewannen. Dafür kannst du bis zu 1000 Euro verlangen«, sagt Greg Lee von Vintage Football Shirts in Wrexham, einem der ersten Online-Shops für alte Trikots, der 2010 eröffnete. »Oder Deutschland 1990 – aber das Auswärtstrikot in Grün!« Er und sein Partner seien selbst leidenschaftliche Sammler gewesen und hätten sich immer gewundert, dass es keine Läden dafür gab. »Manchmal hattest du auf dem Flohmarkt Glück oder bei Freunden von Freunden, dann gab es immerhin Ebay«, erzählt der Waliser. Ihr Geschäft wachse noch immer von Jahr zu Jahr, ein Abflachen sei nicht in Sicht. »Aber es wird zunehmend schwieriger und teurer, an gute Shirts zu kommen, weil die Konkurrenz viel größer ist und die privaten Verkäufer mittlerweile leider auch wissen, was sie aufrufen können«, sagt Lee. Der größte Anbieter Classic Football Shirts mit Läden in London und Manchester beschäftigt mittlerweile rund 190 Mitarbeiter und zieht Pop-up-Stores von New York bis Berlin hoch. In München verkaufte der temporäre V-Store neben anderer Secondhand-Kleidung bis vor Kurzem eine größere Auswahl an Vintage-Sportkleidung.
»Anfang des Jahres waren bei uns vor allem alte Liverpool-Trikots wieder gefragt, weil sie eine beeindruckend gute Saison spielten«, erklärt Lee. »Alles, was davon reinkam, war sofort ausverkauft.« Manchester United mit David Beckham aus den Neunzigern sei eher Mainstream, aber natürlich eine »solide Wahl«. »Mittlerweile gilt ja alles, was vier Jahre alt ist, schon als Vintage, aber in Zukunft werden vor allem Sonderkollektionen gefragt sein, weil von denen im Vergleich zu den anderen Trikots nur wenige Exemplare produziert wurden«, glaubt Lee. Etwa die von Spotify gesponserten Barcelona-Trikots mit Bands wie Coldplay oder den Rolling Stones, oder das Trikot zum 100. Geburtstag der kolumbianischen Fußballnationalmannschaft, das Adidas voriges Jahr herausbrachte.
Als auf TikTok ein Trend namens »Blokecore« viral ging, begannen selbst Frauen, die sich sonst wenig für Fußball interessierten, Vintage-Trikots zu tragen. »Bloke« bezeichnet im Englischen einen eher schlichten, männlichen, etwas prolligen Typen. Fußballfan, Bier in der Hand, Jeans, Turnschuhe, am Wochenende Trikot am Leib, ungefähr die Liga der Gallagher-Brüder von Oasis, die in den Neunzigerjahren häufig in Manchester-City-Trikots auftraten. Jene Epoche feiert ohnehin ein modisches Dauerrevival, nicht zuletzt die weiten Schnitte von damals sind wieder aktuell, und so trug im Januar 2023 Kim Kardashian, die vorher nie in der Nähe einer Stadiontribüne gesichtet worden war, ein Trikot der AS Rom aus der Saison 1997/98. Danach googelten mehr als zwei Millionen Menschen den Club. Dua Lipa trug anlässlich der Europameisterschaft 2024 ihr eigenes, auf Vintage getrimmtes »Merch-Shirt«, Balenciaga brachte ein Designer-Trikot heraus, Balmain kooperierte mit Real Madrid – Trikots sind zum Fashion-Accessoire geworden.
Die allgemeine Retro-Welle ist auch bei den neuen Designs angekommen. Bereits das Deutschland-Trikot von 2018 war eine Hommage an 1990, das puristische weiße Trikot der letzten Europameisterschaft sollte an die Ästhetik von 2006 erinnern, das aktuelle Trikot zum 125. Jubiläum des DFB beruht auf dem Retro-Design von 1974. Von der spanischen Nationalmannschaft brachte Adidas sogar eine ganze Kollektion im Stil von 1996 heraus, inklusive extra weit geschnittener Trainingsjacke. Zitat des Herstellers: »Mit diesem nicen Retrolook feierst du ein Stück Erfolgsgeschichte der spanischen Nationalelf.« Der Vintage-Voodoo funktionierte am Ende sogar, Spanien wurde Europameister, auch die Verkäufe stimmten. Entsprechend entwirft der FC Barcelona seit ein paar Jahren eigene Retro-Trikots sowie Blousons und weit geschnittene Trainingshosen, die eher nicht auf Stadion-, sondern Hipsterpublikum abzielen.

Der Fan mit dem Ohrring: Von Dennis Bergkamp gibt es nicht nur Retro-Trikots, sondern auch eine Bronzestatue vor dem Stadion des FC Arsenal.
Foto: Louis Bever
Echte Fans treibt das nur noch mehr in die Nostalgie. »Früher gab es über mehrere Saisons hinweg das gleiche Trikot, jetzt gibt es teilweise vier oder fünf verschiedene pro Saison«, sagt der Verkäufer bei Kitlaunch in Barcelona. Der Markt werde derart geflutet, dass viele Anhänger lieber etwas Besonderes suchen, aus der Zeit, bevor Trikots zum Massenprodukt wurden. Natürlich stecke da auch eine Sehnsucht an die »guten alten Zeiten des Fußballs« drin, als noch nicht so viel Geld im Spiel war und echte Typen auf dem Platz standen. So wie Eric Cantona oder Franz Beckenbauer, Trikots mit deren Namen würden immer gesucht. Aber auch das Design sei früher vielfältiger gewesen, weil Nike und Adidas noch nicht alles beherrschten und Reebok, Umbro, Lotto oder Kappa ebenfalls zu den Ausrüstern gehörten. »Vor allem waren die Materialien hochwertiger«, findet der Katalane. Er streicht über die Rückennummer 8 von Steven Gerrard auf einem Liverpool-Trikot aus dem Jahr 2009. »Das ist kein Plastik, das ist Filz!«
Er sehe den Laden, der vergangenes Jahr eröffnete, fast wie ein Museum, sagt der Verkäufer. Jeden Tag trifft er hier Menschen, die mit Tränen in den Augen ein Trikot berühren und sich damit an einen bestimmten Spielzug eines Fußballers erinnern. »Allein die Trikotwerbung erzählt schon ein Stück Kulturgeschichte«, schwärmt er. Boca Juniors hatten früher Pepsi als Sponsor, die Bayern Commodore, Neapel spielte mit Mars auf der Brust. Heute können sich die gigantischen Summen nur noch katarische Fluglinien oder Streamingdienste wie Spotify leisten.
Trikots kosten bei Kitlaunch, je nach Zustand, Jahrgang und Gloria, um 89 Euro, seltene Exemplare auch mal bis zu 250 Euro. Ein paar Ecken weiter verkaufen Coolligan oder Hand of God ihre Shirts dagegen bereits für 49 bis 79 Euro – weil es Replika, also nachproduzierte Fakes oder Pseudo-Vintage-Designs sind, keine Originale. Auch das Netz ist mittlerweile voll von frisch produzierten Beckham-, Zidane- oder Matthäus-Leibchen. Man muss sich schon gut auskennen, um zu wissen, welche Trikots wirklich Originale sind.
Einer der bekanntesten Vintage-Trikotläden, Stunner in Manchester, musste vor einigen Monaten schließen. Nicht etwa weil die Geschäfte schlecht liefen – eher im Gegenteil. Die Ukrainer Polina Vynohradova und Serge Shcherbyna sind so etwas wie das Influencer-Paar der Szene. Medien weltweit berichteten über sie, weil ihr Laden zunächst in Kiew war und sie nur durch Zufall dem Krieg entkamen. »Einen Tag vor den Angriffen waren wir zu einem anderen Trikothändler nach Brüssel geflogen«, erzählt Shcherbyna. Über Umwege landeten sie später in Manchester und machten dort mit einem neuen Laden weiter, mit großem Erfolg. Denn Polina Vynohradova kennt sich zwar weniger mit Fußball, aber sehr gut mit Styling aus. Sie wusste schon lange, wie sich all die alten Trikots aus Serge Shcherbynas Sammlung am besten kombinieren und inszenieren ließen. Jedes Modell bekam praktisch seine eigenen Modeaufnahmen. »Aber Ende des Jahres lief der Mietvertrag aus«, erzählt Shcherbyna. Online geht der Verkauf weiter, aber bis zum nächsten Laden wollen sie erst einmal sehen, was sich aus der Retro-Begeisterung im Fußball sonst noch machen lässt. »Je professioneller und digitaler der Sport wird, desto größer ist die Sehnsucht nach dem schönen Spiel von früher«, glaubt Polina Vynohradova.
Ihre Trikots fotografierten sie schon immer analog, weil das besser zur Ästhetik passte. Neulich fingen sie an, die Kamera mit ins Fußballstadion zu nehmen und dort Fotos für den Stunner-Instagramaccount zu machen. Nun werden sie von Clubs und Marken eingeladen, um das Gleiche für deren Kanäle zu produzieren. Dabei sind Vynohradova und Shcherbyna gerade mal 28 beziehungsweise 30 Jahre alt. Aber wie ihnen geht es gerade vielen aus der jungen Generation: Sie empfinden Nostalgie für eine Zeit, die sie selbst gar nicht miterlebt haben, die aber fest im kollektiven Gedächtnis verankert ist. Vintage-Trikots waren nur der Anfang, glauben die beiden – der Fußball von gestern werde noch viel bedeutender.