Gefallener Bengel

Im Alter von 16 Jahren war Kim Frank Sänger von Echt und Teenie-Idol. Jetzt, mit 24, will er noch einmal Popstar werden.

Wenn Teenager von zu Hause ausziehen, bleibt im Kinderzimmer fast immer eine Fotocollage zurück: Bilder vom 18. Geburtstag, vom ersten Urlaub ohne die Eltern, von der ersten Liebe. Die Menschen lachen auf diesen Bildern, meistens hat einer eine Bierflasche in der Hand, fast immer scheint die Sonne, und wenn nicht, brennt ein Lagerfeuer. Es sind Erinnerungen an eine Zeit, von der man immer gedacht hat, dass sie nie aufhören würde. An Freunde, ohne die das Leben keinen Sinn zu haben schien. Meistens verstauben diese Collagen hinter einem Glasrahmen von Obi.

Für Kim Frank war diese Zeit noch viel heftiger, viel größer ausgefallen als für die meisten anderen in seinem Alter. Sie muss sich unglaublich gut angefühlt haben, als Popstar, damals Ende der Neunziger. So gut, dass er beschlossen hat, seine Jugend wieder aufleben zu lassen, mit allem, was sie ihm damals geschenkt hat. Deswegen begegnet er seit einem Jahr wieder jeden Tag seinem alten Leben, wenn er in den »home studios« in Hamburg-Eimsbüttel Richtung Aufnahmeraum Nummer 1 geht: in den Fotos einer Collage, die hinter einer verstaubten Glasfläche hängt. Mädchen mit Stupsnasen in Jeansjacken sind darauf zu sehen und ein paar Jungs mit Instrumenten. Dazwischen immer wieder grellweiße Flecken mit zwei roten Punkten in der Mitte: das Gesicht von Kim Frank, überbelichtet fotografiert, auf einem dünnen, langen Hals, eingerahmt von langem, hellbraunem Haar. Ein 16-jähriger Junge, der aussieht wie der Engel eines Krippenspiels im Kindergottesdienst. In diesem Aufnahmestudio hat er mit seiner Band Echt zwischen 1998 bis 2002 sämtliche Hits eingespielt, Junimond, Weinst Du?, Du Trägst Keine Liebe In Dir, hier feilt der Sänger von damals seit Monaten an seinem Comeback, ohne die anderen, als Solokünstler, und als er einem dann gegenübersteht, nach all den Jahren, ertappt man sich dabei, dass man ganz plötzlich traurig wird: Er sieht gut aus, keine Frage. Ein bisschen wie ein französischer Austauschstudent: unfrisierte Haare, knielanger Mantel, aufgenähte Ellbogenschoner am Sakko. Ein hübscher junger Mann. Aber wo ist das mädchenhaft schöne Antlitz geblieben? Wo die weichen Züge? Er muss sie sich aus dem Gesicht gelebt haben. Die Wangen sind voller, die Stimme tiefer geworden.

Und dann klingt er auch noch wie der Vorstand eines Wirtschaftsunternehmens: »Natürlich glaube ich, dass 80 Millionen Menschen diese Musik hören wollen. Natürlich glaube ich, dass meine Musik die beste in Deutschland ist.« Da könnte man das Wort »Musik« auch durch »Auto« ersetzen. Oder durch »Kühlschrank«. Schade irgendwie – Kim Frank ist wohl erwachsen geworden. Jetzt will er zurückkommen. Nach vier Jahren in der Versenkung, in denen er eine Rolle im Kinofilm NVA spielte, ansonsten aber »luxuriös gelitten« habe. Zurück in die Charts, ins Musikfernsehen, in die Konzertsäle, in die Herzen der Menschen. Kim Frank hat eine Vision: Er will noch mal Popstar werden. Zum zweiten Mal in seinem Leben. Mit 24. Dieser Idee ordnet er seit einem Jahr sein komplettes Leben unter. Manchmal, sagt er, komme er sich vor wie der Held eines Sturm- und-Drang-Dramas oder der Werther, weil er so stark an seiner Selbstverwirklichung arbeite, dass alles auf der Strecke bleibe, vor allem er selbst. Und wieder ertappt man sich bei etwas: diesmal beim Aufatmen. Diese Freude am Leiden. Diese Identifika-tion mit tragischen Helden. Fast wie früher. Also doch noch nicht ganz erwachsen, der Junge, nur älter geworden. Gott sei Dank.

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Auf jeden Fall erscheint Anfang März sein erstes Soloalbum, Hellblau heißt es und »soll verdammt noch mal durch die Decke gehen«. Das wird es auch müssen. Denn: Der Sänger hat kein Geld mehr. Das kleine Vermögen, das er mit 1,5 Millionen verkauften Platten verdient hat, ist weg. Verlebt, verzockt. Jahrelang hat er nach der Trennung von Echt wie ein Großgrundbesitzer im Ruhestand gelebt, auf einem Hof an der Ostsee, mit seiner Freundin, einer großen Kastanie und ein paar Schafen.

Sein Tagesablauf in diesen Jahren: lange ausschlafen, am Strand spazieren gehen, Drachen steigen lassen, Songs schreiben, Freunde einladen, kochen, essen, Filme anschauen, auf einer Leinwand im Kinozimmer. Das geht eine Weile gut. Bis er erst keine Freundin, dann kein Geld mehr hat, dafür aber so viele Songideen und Texte im Kopf, dass er wieder nach Hamburg ziehen und ins Studio gehen kann. Dort lebt er zurzeit, mehr oder weniger. Von seinem Traum ist ihm nur ein Schaf geblieben, als Display-Schoner auf seinem Handy.

Seit einem Jahr arbeitet Kim Frank jetzt schon wie ein Besessener an zwölf neuen Liedern, andere Bands bleiben zwei Monate im Studio. Angst? »Ich hab keine Angst«, sagt er, »ich verspüre Druck, aber das ist normal. Schließlich werde ich so was nicht mehr machen können, wenn das Album nicht läuft.« Noch einmal gibt seine Plattenfirma nicht so viel Geld für ihn aus. Aber anders will er, anders kann er nicht arbeiten. Er tüftle ja nur deswegen so lange daran herum, weil er es »groß« haben möchte, »fett« sagt er auch manchmal und meint: Musik, die opulent klingt, mit Streichern, Chören, Pauken, mit einem Klang, der sich international hören lassen kann. »Nicht so dörflich wie die meisten anderen Bands aus Deutschland.« Eigentlich habe er das schon mit Echt so machen wollen. Nach den 6000er-Hallen im ersten Jahr die 8000er im zweiten füllen. Das Problem war nur: Die anderen wollten zurück in die 800er. »Die wollten politisch korrekt bleiben, glaubwürdig bleiben, und ich hatte mich schon auf Bühnentänzerinnen und Projektionsflächen gefreut.«

Als Echt im Jahr 1998 – Kim Frank ist gerade 16 geworden – ihr Debüt veröffentlichen und ein Jahr später mit ihrem zweiten Album Freischwimmer an die Spitze der Charts klettern, wird in Deutschland gerade über Verdummung und Spaßgesellschaft debattiert. Ein sonderbarer Mann mit wenigen langen Haaren namens Guildo Horn trällert Guildo hat euch lieb, Stefan Raab verarscht mit seinem Lied Maschendrahtzaun wochenlang eine dickliche Frau aus dem Osten.

Echt stoßen mit großer Wucht in diese Zeit. Mit Liedern, die es bis dahin praktisch nicht gegeben hat: voller Gefühl, auf Deutsch und trotzdem nicht peinlich, vorgetragen von einem blassen Jungen mit langen Haaren, dessen Blick so tief und dessen Stimme so besonders ist, dass eine ganze Nation nicht anders kann als hinzuschauen, als zuzuhören. Musik für normale Teenager, mit normalen Klamotten, die keine Drogen-, sondern Alltagsprobleme haben: Liebeskummer, Beziehungsstress, Ärger mit dem Lehrer. Menschen, die schöne Popsongs hören wollen, ohne Bestandteil einer Jugendkultur zu sein. Die ihren Freunden Janosch-Karten zum Geburtstag schenken und Chagall-Kunstdrucke ins erste WG-Zimmer hängen. Sie sind es, die Kim Frank aus Flensburg, Schüler der Kurt-Tucholsky-Gesamtschule, der als Kind immer Aldi-Jeans tragen musste, weil seine Mutter kein Geld hatte, zum jüngsten Popstar machen, den es in Deutschland bis dahin gegeben hat. Zum Bill Kaulitz des ausgehenden 20. Jahrhunderts.

Jahrelang schauen die Deutschen Kim Frank beim Erwachsenwerden zu. Lesen in den Illustrierten, dass er trinkt, feiert, kifft und mit Hunderten von schönen Frauen schläft. Als er für einen Videodreh nackt über die Reeperbahn läuft, landet er auf Seite eins der Bild-Zeitung. Als er sich bei Harald Schmidt mit der Aussage blamiert, dass er nicht wisse, wo Taliban liege, diskutiert ganz Deutschland die Frage: Wie dumm darf ein Popstar sein? Ihm ist es egal. Freischwimmer bekommt Gold, die Band einen Bambi, er selbst eine prominente Freundin, die acht Jahre ältere TV-Moderatorin Enie van de Meiklokjes. Er wohnt in Luxussuiten, wenn er unterwegs, und in Hamburg-Blankenese, wenn er zu Hause ist. Bei GAP in Berlin darf er sich Klamotten mitnehmen, einfach so, ohne zu zahlen. Im Jahr 2000 dann der Höhepunkt: Echt covern den Rio-Reiser-Klassiker Junimond, eine Wahnsinnsnummer, die als Soundtrack des Kinofilms Crazy von einer ganzen Generation Teenager mitgesummt wird.

Der Sänger Kim Frank, der Schriftsteller Benjamin Lebert und der Schauspieler Robert Stadlober, alle um die 18, hübsch, zart und irgendwie frühreif, werden zu Symbolfiguren eines Lebensgefühls, bei dem es darauf ankommt, den Verlust der Jugend zu betrauern, obwohl man noch mittendrin steckt.

Und dann begehen Echt einen Fehler: Sie wollen der Welt beweisen, dass sie eine erwachsene, eine autarke Band sein können, schreiben ihr drittes Album Recorder zum ersten Mal komplett ohne fremde Hilfe und – fallen auf die Schnauze: Die Platte läuft nicht mehr so gut. Die Nachholtour muss abgesagt werden. Die Veranstalter bleiben auf den Karten sitzen. Kim Frank bekommt Magenschmerzen, unglaubliche Magenschmerzen. Die Band droht auseinanderzu- brechen. Kim Frank geht erst zu Ärzten, dann zu einer Psychologin. Er weint sich aus und weiß noch genau, was die Dame am Ende der Stunde zu ihm gesagt hat: »Für mich sieht es so aus, Herr Frank, als würden sie sich selbstständig machen.« Einen Tag später sitzt die Band im Probenraum und er im Flugzeug nach Tokio. Er lässt die Jungs im Stich. Er hat immer alles gegeben, aber jetzt kann er nicht mehr. Er muss raus. Besucht einen Freund, bleibt zwei Wochen. Als er zurückkommt, trifft sich die Band ein letztes Mal. Danach gibt es sie nicht mehr.

Man könnte ja meinen: So einer, der alles schon einmal gesehen hat, den Aufstieg und den freien Fall, die flehenden Mädchengesichter, die dicken Bankauszüge, die teuren Hotelsuiten, müsste überheblich sein. Oder zynisch. Vielleicht auch kleinlaut. Oder panisch, weil es diesmal unbedingt klappen muss – Kim Frank ist nichts von alledem. Er ist vielschichtiger, zerrissener: idealistisch und professionell zugleich, naiv und berechnend, sehr jung und irgendwie auch sehr alt. Im Geschäft ein erfahrener Profi, im Leben ein Jungspund. Das Lustige: Er doziert. Sitzt in einem Sessel, tunkt Teebeutel in eine Kanne und hält eine Vorlesung über das Leben. Wenn man ihn dazu bringt, über Freundschaft zu reden, über Liebe oder über Bücher, merkt man erst, wie jung dieser Typ eigentlich immer noch ist. Ein bisschen wie der altkluge Held eines Hermann-Hesse-Romans. Dann erzählt er, welche Autoren sein Leben verändert haben (Bret Easton Ellis, Vladimir Nabokov). Dass er gern viel Wein trinkt und oft nächtelang mit einem guten Freund über das Leben »philosophiert«. Allein diese Vokabel – »philosophieren«. Herrlich.

Das Comeback, es müsste funktionieren. Die Menschen erinnern sich noch an ihn. Erst gestern in der Kneipe wurde er dreimal angesprochen. »Geile Stimme, geile Musik«, hat ihm ein Mädchen nachgerufen. Findet er auch. Als er neulich im Radio erst seine neue Single Lara und dann Pink gehört hat, konnte er keinen Unterschied feststellen. »Ehrlich gesagt: Ich fand meine Nummer sogar besser. Vom Sound her.«

Und dann, endlich, gibt es noch ein paar mehr neue Lieder zu hören. Das Erste, was auffällt: seine Stimme. Eine unverwechselbare Stimme. Melancholisch, wehmütig. Es gibt nicht viele in Deutschland, die so singen können. Xavier Naidoo und Herbert Grönemeyer auf jeden Fall nicht. Sofort hat man die alten Echt-Songs im Ohr. Interessanterweise ist es das letzte Lied auf dem Album, Abspann heißt es, das sofort hängen bleibt. Eine verträumte Ballade mit einem großartigen Streicher-Arrangement. Es ist der Refrain, der irgendwie passt: »Wer hat hier Regie geführt? /Wer hat dieses Drehbuch geschrieben?/Der Film hat mich so sehr berührt/bin den ganzen Abspann sitzen geblieben.«

Und es sind die letzten 30 Sekunden. Denn am Schluss, nach fünf Minuten voller Pathos, verklingen die Beats, verstummt das Schlagzeug. Zurück bleibt eine zauberhafte Melodie, nur von Violinen gespielt. Eine Melodie wie aus einem Märchen, die leiser wird, immer zarter, und schließlich verstummt, und dann, genau als man denkt, dass es nun zu Ende ist, noch einmal neu anschwillt, zu voller Wucht, zu voller Größe. Und das passt, wenn alles gut gehen sollte, doch irgendwie auch zu diesem Leben des 24-jährigen Kim Frank.