Obwohl ich einen guten Orientierungssinn habe, fand ich das Gelände des Bundesnachrichtendienstes bei meinem Dienstantritt am 1. November 1973 extrem verwirrend: das weitläufige Areal, die hohen Bäume, die vielen kleinen Gebäude, die zum Teil noch aus der Zeit stammen, als NS-Reichsleiter Martin Bormann hier residierte. Ich war als Analystin für den Bereich Sowjetunion angestellt worden, am Einfahrtstor bekam ich dann meinen Ausweis mit der Bemerkung: »Ab sofort heißen Sie Dr. Gabriele Leinfelder!« Ich erinnere mich auch noch gut an die anschließende Sicherheitsbelehrung im Waldhaus: Über drei Tage hinweg wurde uns Neulingen eingebläut, dass hinter jedem Baum ein Feind lauern könnte. Das hat mich tatsächlich ziemlich eingeschüchtert.
Erst allmählich durchschaute ich, was der BND zuvorderst war: eine Behörde. Wir hatten anfangs eine 42-Stunden-Woche, später mussten wir nur noch 38,5 Stunden arbeiten. Es gab Stempeluhren und manche Mitarbeiter baten die Kollegen regelmäßig, für sie frühmorgens mitzustempeln, damit sie selbst später zum Dienst erscheinen konnten. Andere kamen zwar pünktlich, packten dann aber erst einmal ihr Frühstück aus. Was uns von anderen Behörden unterschied: ein Schwimmbad, Tennisplätze und eine Müllverbrennungsanlage, in der alles zuvor geschredderte Papier vernichtet wurde. Ein TÜV und eine Tankstelle, wo das Benzin bis in die achtziger Jahre ein paar Pfennige billiger war als draußen. Dafür hatte ich bis zu meinem Ausscheiden aus dem BND im Jahr 1990 nicht einmal einen Computer.
Natürlich zeichnet sich der BND vor allem durch seinen Geheimschutz aus, der zu meinen Zeiten manchmal absurde Züge annahm: Nicht nur die Mitarbeiter bekamen Decknamen, auch die Autos mussten »Deckkennzeichen« benutzen, wenn sie auf das Gelände des BND fuhren. Einige Kollegen wechselten die Schilder in einer ruhigen Seitenstraße beim Camp Pullach aus. Die Anwohner hielten sie natürlich für Autodiebe und alarmierten die Polizei.
Außerdem durften die BND-Mitarbeiter nicht verraten, für wen sie arbeiteten. Wenn uns jemand fragte, sollten wir antworten, wir seien bei der Bundesvermögensverwaltung angestellt. Dabei war es in München längst ein offenes Geheimnis, wer sich hinter dieser Behörde wirklich verbarg. Die Geheimdienste aus Großbritannien, den USA und Holland, mit denen ich regelmäßig kooperierte, haben sich ohnehin totgelacht über unsere Geheimniskrämerei.
Andererseits wusste ich natürlich nur zu gut, wie berechtigt die Sorge der Sicherheitsabteilung war, die Sowjets und die DDR könnten den BND und sein Personal ausspähen. Während meiner Arbeit als Kundschafterin für den Geheimdienst der DDR, die Hauptverwaltung Aufklärung, stellte ich immer wieder fest, dass man in der DDR mehr über das Personal und die internen Abläufe des BND wusste als die meisten BND-Mitarbeiter. Umgekehrt war der Informationsfluss eher dürftig.
Die Angst vor dem Feind hielt die Sicherheitsbeamten allerdings nicht davon ab, nur so viel zu arbeiten wie unbedingt nötig. Ein gutes Beispiel waren die vollkommen durchsichtigen und laschen Zugangskontrollen: In der Nähe des Haupttors stand ein Bunker, von dem aus man den Eingang sehr gut beobachten konnte. Nach kurzer Zeit wusste ich, dass dort fast ausschließlich zwischen 15 und 17 Uhr intensiv kontrolliert wurde. Absurderweise untersuchten die Sicherheitsleute bei männlichen BND-Angehörigen immer nur die Aktentasche und den Kofferraum des Autos, bei weiblichen immer nur die Handtasche und den Kofferraum. Das machte es mir ziemlich leicht, denn ich musste ja oft geheime Unterlagen nach Hause schmuggeln, um sie dort zu fotografieren. Die Negative übergab ich anschließend meinem Kontaktmann bei der Hauptabteilung Aufklärung. Insgesamt wurde ich zwischen 1980 und 1990 nur fünfmal kontrolliert. In meine Aktentasche, die ein Geheimfach für meine geschmuggelten Unterlagen enthielt, hat dabei niemand je auch nur einen Blick geworfen.
Der BND versteht sich als weltweiter Nachrichtendienst. Da er aber weder das Personal noch das Geld für ein weltweites Agentennetz hat, ist er auf die Zusammenarbeit mit anderen Geheimdiensten angewiesen. Dabei können die BND-Mitarbeiter nur darauf vertrauen, dass die weitergegebenen Informationen auch stimmen. Während des Kalten Krieges gab es noch einige andere Einschränkungen, die unsere Arbeit extrem erschwerten. So durften wir niemals in die Länder fahren, mit denen wir uns beschäftigten, in meinem Fall also die Sowjetunion. Aus Sorge, wir könnten enttarnt werden, was wiederum zu diplomatischen Verwicklungen geführt hätte. Die Kollegen vom CIA dagegen begleiteten regelmäßig amerikanische Politiker auf ihren Reisen im Ostblock.
Dennoch war der BND nie zu unterschätzen. Das wurde mir spätestens 1981 bei einer internen Ausstellung anlässlich seines 25-jährigen Bestehens bewusst. In der Sammlung von Ausrüstungsgegenständen, die man bei enttarnten DDR-Agenten sichergestellt hatte, fanden sich auch die Deospray-Dosen, die HVA-Agenten benutzten, um Mikrofilme zu schmuggeln. Die gleichen Dosen hatte ich damals zu Hause im Schrank stehen.
Alles in allem habe ich aber die Zeit auf dem idyllischen BND-Gelände genossen. Besonders im Frühling, wenn die Bäume und Sträucher grün wurden, und im Herbst, wenn sich das Laub färbte. Manchmal habe ich mir lieber die Eichhörnchen vor meinem Fenster angeschaut als Akten gewälzt. Aber im Grunde mochte ich meine Arbeit und wollte gute Ergebnisse erzielen. So seltsam es klingen mag angesichts mei-ner Aktivitäten für die Gegenseite: Ich fühlte mich in erster Linie als Mitarbeiterin des BND.
Protokoll: Rainer Stadler
Gabriele Gast, geboren 1943 in Remscheid, studierte Politik und wurde 1968 während einer Reise nach Karl-Marx-Stadt vom DDR-Geheimdienst angeworben. 1973 trat sie in den BND ein, wo sie als Sowjetunion-Expertin Berichte aus offiziellen und geheimen Quellen auswertete. 1990 wurde die Doppelagentin enttarnt und in einem spektakulären Prozess zu 6 Jahren und 9 Monaten Gefängnis verurteilt. Sie lebt heute in München und arbeitet in einem Ingenieurbüro.