In Deutschland besteht ein großes Bedürfnis nach einer Kriegserklärung. Und zwar im Sinne von: den Krieg erklären, ihn in Worte fassen, ihn als eine öffentliche Aufgabe verstehen. Denn Deutschland führt Krieg in Afghanistan. Deutschland führt Krieg in Afghanistan, weil die USA von Terroristen angegriffen und der Angriff von Afghanistan aus gesteuert wurde. Deutschland führt Krieg in Afghanis-tan, weil die Weltgemeinschaft feststellte, dass aus diesem Land eine der größten Bedrohungen dieser Zeit erwächst, dass Afghanistan ein zerfallener Staat ist, der wieder aufgerichtet werden muss.
Deutschland führt Krieg, aber vom Krieg darf man nicht sprechen. Die Rede ist von einem Stabilisierungseinsatz, einer Mission zur Unterstützung des Staatsaufbaus. Krieg darf es nicht sein, weil Krieg einen völkerrechtlich souveränen Gegner voraussetzt und weil die Versicherungen die Policen nicht auszahlen, wenn ein Soldat in einem Kriegsgebiet stirbt.
Der Streit um die richtige Terminologie ist symptomatisch für einen großen politischen Selbstbetrug, dem Deutschland erliegt. Vieles an diesem Afghanistan-Einsatz ist unausgesprochen, halb gar, unwahr und heuchlerisch. Der Einsatz ist unbequem, wahrscheinlich ist er sogar ungewollt. Vor allem aus bündnispolitischer Räson hat die rot-grüne Bundesregierung 2001 die Entsendung von Soldaten beschlossen, und die Große Koalition hat die Entscheidung immer wieder bestätigt.
Im achten Jahr des Einsatzes jedoch halten Politik und Öffentlichkeit in Deutschland nicht mehr Schritt mit der Dynamik in Afghanistan. Was einmal wirklich als stabilisierender Einsatz zum Schutz einer Zentralregierung begonnen hat, entwickelt sich zu einem veritablen Überlebenskampf für das neue Afghanistan. Unter dem Ansturm der wiedererstarkten Taliban erkennt die Weltgemeinschaft, dass ihre Glaubwürdigkeit auf dem Spiel steht, wenn sie das Land nun fluchtartig verließe und erneut einem Zyklus von Krieg und Gewalt auslieferte. Deutschland verschließt sich dieser Dramatik. Wie in einem Schweigekartell haben sich Bundesregierung, Abgeordnete des Bundestags und die militärische Führung der Bundeswehr zusammengetan, um die unangenehmen Probleme des Einsatzes zunächst nicht anzurühren. Ehrlichkeit ist schwierig, weil eine fürchterliche Drohung über dem Einsatz hängt: Afghanistan könnte missbraucht werden im Wahlkampf. Im Jahr 2002 hatte Kanzler Schröder bewiesen: Mit dem Thema Krieg und Frieden lassen sich Wahlen gewinnen.
Ehrlich wäre es, wenn man zugeben würde, dass der relativ stabile Norden des Landes nicht 4100 deutsche Soldaten braucht. Und falls die Militärplanung ihre Stationierung dort dennoch für nötig hielte, so müsste sie wenigstens eingestehen, dass ein stabiler Norden allein nichts nützt, wenn der Süden an die Taliban fällt. Ehrlich wäre es zuzugeben, dass der defensive Auftrag für die Bundeswehr die Soldaten sogar eher gefährdet, statt sie zu schützen. Dass die mit großem politischem Theater nach Afghanistan verlegten Tornados operativ nutzlos sind und lediglich als Beruhigungsgabe für nicht erbrachte Leistungen an anderer Stelle im Bündnis dienen. Und dass der zivile Aufbau einer beängstigenden Routine verfallen ist und dem eigentlichen Bedarf nicht gerecht wird – vor allem nicht im Süden des Landes.
Im Frühjahr 2009 geriet die Bundeswehr unter bisher ungewohnten Druck im Norden Afghanistans. Die Taliban hatten sich neu formiert, Konvois wurden beschossen, Soldaten ließen ihr Leben. Plötzlich mussten sich die Soldaten Gefechte liefern, wie man sie sonst nur aus dem Süden kannte. Ein Strategiewechsel? Oder nur ein kurzfristiger Behauptungstrieb? Wie zuvor blieben die Bundesregierung und die Führung der Bundeswehr eine Erklärung schuldig.
Deutschland stand einst Pate für den politischen Wiederaufbau Afghanistans. Jahrzehntelang pflegte es beste Beziehungen zu den Herrschern in Kabul. Die Deutschen genießen dort heute noch hohes Ansehen. Die Wertschätzung aber wird nicht erwidert. Afghanistan ist fern, und der Krieg kümmert nicht wirklich. Die Soldaten der Bundeswehr spüren dieses Desinteresse. Und sie sehen den Widerspruch zwischen ihrem Einsatz und dem, was das ferne Land ihnen abverlangt. Die Soldaten sind die eigentlichen Opfer eines großen Selbstbetrugs.
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