Genosse der Sprosse

Sigmar Gabriel war Deutschlands jüngster Ministerpräsident – an dieser Aufgabe scheiterte er kläglich. Vor zwei Jahren machte ihn Franz Müntefering zum Umweltminister. Dank der Klimadebatte hat Gabriel nun beste Aussichten, einmal Kanzlerkandidat der SPD zu werden.

Sigmar Gabriel ist ein Fuchs. Er wittert selbst dort Gefahren, wo gar keine sind. Zwischen Reichstag, Kanzleramt und Abgeordnetenhaus steht der Bundesumweltminister und soll fotografiert werden. Er guckt sich um. Motiv-Check. »Aha«, sagt er zum Fotografen, »war ja wieder mal klar, was ihr vorhabt.« Der Fotograf guckt irritiert. Er hat gar nichts vor. Er will ein Foto machen. Aber Gabriel misstraut der Arglosigkeit. Politik besteht nur aus Hintergedanken.

Natürlich, denkt Gabriel, soll im Hintergrund des Fotos die mächtige Silhouette des Kanzleramts zu erahnen sein. Und bestimmt wird das Bild hämisch betextet. Die Kanzlerin und ihr Knut, der von unten neidisch auf den Felsen guckt. »Man lernt, nicht nur in Schlagzeilen, sondern auch in Bildunterschriften zu denken«, sagt Gabriel. Er stellt sich dennoch zwischen Fotografen und Machtzentrale, er hat sich offenbar entschieden, dass es besser sei, hämisch betextet, aber immerhin mit Kanzleramt abgebildet zu werden. Nur unwillig lässt er sich stattdessen ins Grüne dirigieren, mit dem Reichstag im Hintergrund. Politik bedeutet nicht nur Misstrauen, sondern auch Widerspruchs- und Frustrationsmanagement.
Hier, im deutschen demokratischen Dreieck, wo sich nach dem Ideal der Architekten Volk und Vertreter treffen, flaniert eine Schulklasse achtlos an ihrem stattlichen Umweltminister vorbei. Der macht den Eindruck, als würde er gern erkannt werden. Soll er die jungen Leute ansprechen? 2013 dürfen die bestimmt wählen. Aber was ist, wenn sie ihn wirklich nicht erkennen, obwohl er das Klima rettet und mit dem kleinen Eisbären auf Du ist? Unbekannt zu sein wäre peinlich. Politiker müssen auch die Größe haben, nicht jede Chance zu ergreifen. Gabriel ist einer der Begabtesten im Management von Hintergedanken, Widersprüchen, Frustrationen und Chancen. Kaum ein Politiker ist mit 47 Jahren so viel Achterbahn gefahren – mit Loopings, Aufstiegen und Abstürzen. Wäre Gabriel ein Fußballer, dann eine Mischung aus Sebastian Deisler, Stefan Effenberg und Gennaro Gattuso. Er galt als Supertalent und hatte eine große Klappe. Dann fiel er tief. Vertraute sorgten sich um seine Seele und die Gesundheit. Er überlegte, der Politik den Rücken zu kehren. Doch Sucht siegte über Vernunft.

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Das Leben des Sigmar Gabriel ist Politik. Er kann und will nichts anderes. Nun ist er wieder da und übt sich im Mannschaftsspiel. Und erzeugt damit Widersprüche, wie sie nur die Politik schafft. Denn alle Welt weiß, dass die SPD ein Personalproblem in der U50 hat. Gabriel ist daher einer der ganz wenigen, die wie auf Schienen einer Kanzlerkandidatur entgegenrollen, wann auch immer. Die Partei hat aber noch ein Problem: Starkult ist ihr fremd, Freude über einen fähigen Genossen erst recht. Wer den Kopf über Herdenhöhe hebt, wird rasiert. Deswegen muss Gabriel so tun, als gäbe es allein den Öko-Siggi. Er kandidiert nicht für Parteiämter und redet nur über CO2. Er ist der öffentlichste Geheimkandidat, den Deutschland je hatte.

Gabriel hat keine Lust mehr, sich fotografieren und vom Volk ignorieren zu lassen. Eigentlich wollte er ein paar Schritte laufen. Aber es ist warm. Und er hatte einen schweren Tag. Sechs Interviews. Immer Klima. Er kommt vom SPD-Fraktionsvorsitzenden »Peter« (Struck) und ist noch mit Außenminister »Frank« (Walter Steinmeier) verabredet. Gabriel genießt die Rückkehr ins Rudel der großen Hunde.

Er strebt in den kühlen Garten der Parlamentarischen Gesellschaft, eines Klubs am Reichstag mit feinem Rasen, hohen Mauern und keinerlei Verbindung zur Realität. Kontrastierend zur Leibesfülle bestellt Gabriel roten Tee und Wasser.
Kaum ein Minister ist dankbarer für seinen Posten. »Er musste Scheiße fressen«, sagt einer, der ihm nahesteht. Gabriel war so gut wie erledigt. Auf ihm lastete der Fluch des Wunderkindes damals in Niedersachsen. Er konnte besser reden, war schneller im Kopf, ließ sich von Schröder nicht anbrüllen wie die anderen, die Feiglinge, sondern brüllte zurück. Und knallte auch noch die Tür. Das fand Schröder prima. Ende 1999 war Gabriel mit vierzig Jahren jüngster Ministerpräsident aller Zeiten, vor allem aber Kronprinz. Die allerdings haben das strategische Problem, dass sich ihre Gegner langfristig aufstellen können.

Gut zwei Jahre später war Gabriel gar nichts mehr. Er hatte gut 14 Prozentpunkte verloren, gegen Christian Wulff, den er immer verlacht hatte. Der Wunderknabe war zum Windbeutel geworden. Die erste echte Hürde, eine Landtagswahl, hatte ihn hingehauen. Der Wahltag war der härteste Tag im Leben eines Menschen, der nur schlecht loslassen kann. »Ich war objektiv zu unerfahren für den Job des Ministerpräsidenten«, sagt Gabriel heute. Während einer wie Gerhard Schröder mit brachialer Klarheit alle abstreifte, die ihm auf dem Weg nach oben nicht mehr nützten, ist Gabriel eher dem Emotionalen verhaftet. Er muss festhalten, will Zutrauen, Sicherheit. Er verfügt nicht über Schröders Panzermentalität.

Beide wuchsen bei alleinerziehenden Müttern auf, aber mit einem Unterschied: Schröder war vom Willen zum Aufstieg beseelt, der ihm Stabilität gab. Gabriel wurde in der Instabilität groß. Als er drei war, trennten sich die Eltern. Sigmar und seine Schwester wurden zu Waffen im Rosenkrieg, sieben Jahre lang. Die Mutter erzwang sich das Besuchsrecht mit Sitzstreiks, ihr Sohn wurde aus der Schule geholt und musste im Prozess aussagen. Gutachter umschwirrten ihn. Kurz bevor er auf eine Sonderschule geschickt werden sollte, bekam die Mutter das Sorgerecht. Als Krankenschwester hat sie viel gerackert und wenig verdient. Jetzt lebt sie in einem Heim in Goslar. Er besucht sie fast jede Woche. Früher wollte sie immer ganz genau wissen, was er treibt. Heute hat sie vor allem Mitleid.

»Was machst du da eigentlich in Berlin?«, fragt sie ihn bei jedem Besuch.
»Ich bin in der Bundesregierung«, erklärt er geduldig.»Ach, wie schrecklich«, entgegnet sie, »jede Woche musst du nach Berlin fahren.« Er lacht dann: »Es gibt Schlimmeres.« Gabriel drückt sich behaglich in den Gartenstuhl, grüßt nach hier, flachst nach da. Bundestagskollegin Kerstin Griese naht, fällt ihm um den Hals und bittet: »Sigmar, du musst in meinen Wahlkreis kommen.« Klar, Siggi kommt. Stressiger, als gefragt zu sein, ist es, wenn man nicht mehr gefragt ist. Kondoliert haben ihm nach seiner Niederlage damals Koch, von Beust, Teufel, Stoiber, Bernhard Vogel und Heide Simonis: fünf schwarze Herren und eine rote Frau. Kein SPD-Mann. »Die wollten mich fallen sehen«, ahnt Gabriel.

Die Monate danach waren die Hölle von Hannover. Zwar wurde er Fraktionschef, aber er hatte sein Kapital verloren: den Respekt der Macht. Trotzig maulte er gegen den Kanzler und die Agenda 2010, was ihm Talkshow-Auftritte brachte, aber auch »noch mehr Zunder«. Er schwingt den Arm durch, als peitsche er einen störrischen Esel. Seine Unsicherheit wuchs. Als Aufsichtsrat bei VW hatte Gabriel mitbekommen, dass sich die Führung des Konzerns coachen lässt. Er besorgte sich einen Prospekt. Darauf war ein Schienenstrang abgebildet, der sich gabelte. An dieser Weiche sah er sich. Er ließ sich auch coachen. Er hat sich mit Headhuntern getroffen. Aber was macht man mit einer Erwerbsbiografie, die aus zwei Stationen besteht: gescheiterter Ministerpräsident und Lehrer für Politik und Deutsch?

Sein Job als Pop-Beauftragter war für die Dixieland-Partei SPD das Symbol des Gescheitertseins. »Siggi Pop«, höhnten sie. Er führte eine Beratungsfirma, die für Lobbydienste 100.000 Euro vom VW-Personal-vorstand Peter Hartz bekam. Auf solche Nebenjobs lässt sich nur ein, wer mit der Politik abgeschlossen hat. »Ach, der Siggi...«, sagten seine Freunde. Schröder fällte im kleinen Kreis das abschließende Urteil: »Der kann es nicht.«Es waren nur wenige, die zu ihm hielten. Der Niedersachse Steinmeier, Justizministerin Brigitte Zypries, die auch aus dem Schröder-Clan stammt und über Streetworker-Qualitäten verfügt, sowie Hubertus Heil, der inzwischen General-sekretär der SPD ist und so massig und dunkelhaarig, dass er mit Gabriel öfter verwechselt wird. Der einzige Therapeut, der half, hieß Müntefering. Gabriel deutet nach oben, auf ein Eckbüro im Abgeordnetenhaus. »Wie oft ich da saß beim Franz und wir geredet haben, weil wieder irgendein Mist über mich erzählt worden war.« Gabriel durfte sich zumindest in einem sicher sein: »Ich stand im Sepp-Herberger-Büchlein von Franz.« Münteferings Fürsorge galt allerdings weniger Gabriel als der SPD. Der Vorlaute aus Goslar erschien ihm als einer der wenigen, die die Partei in Zukunft würden führen können. Zur Rekonvaleszenz verordnete er dem Patienten Programmarbeit. So was macht höchstens Rudolf Scharping freiwillig.

Im Mai 2005, als Schröder in Neuwahlen floh, drängte Müntefering Gabriel zur Kandidatur für den Bundestag. Während der Koalitionsverhandlungen rief er an, um drei Fragen zu stellen: Hast du Interesse? Traust du dir das zu? Kommt da noch was bei VW? Gabriel wollte umgehend alle Aktenordner in den Kofferraum werfen, zu Müntefering fahren und ihm die Harmlosigkeit der ganzen Geschichte erklären. Der Alte winkte ab. »Dein Wort reicht mir.« Gabriel erzählt gerührt von diesem Gespräch. Es hätte andere Kandidaten gegeben. Aber ihm wurde Vertrauen geschenkt. Das war die Wende, die Rückkehr in die erste Liga. Zwei Tische weiter lassen sich die Mitglieder des Rechnungsprüfungsausschusses nieder. Sie gehören zum Haushaltsausschuss, prüfen jeden Beleg, den ein Bundesminister produziert, und entscheiden über seinen Etat. In Wirklichkeit regieren Haushälter dieses Land.

Georg Schirmbeck ist dabei, von der CDU zwar, aber immerhin aus Niedersachsen. »Schorsch und die geballte Macht«, ruft Gabriel, »was wollt ihr trinken? Ich kenne die Gepflogenheiten.« Das ist zuerst mal ein Spruch, aber zweitens auch ein Testballon. Schorsch und die Prüfer scheinen einem Schluck nicht abgeneigt. Gabriel winkt dem Kellner: »Schreiben Sie die erste Runde auf meine Rechnung.« Die Haushälter bestellen Schaumwein. »War ja klar«, raunt Gabriel. Er hebt das Wasserglas und prostet hinüber. Die Macht muss immer demütig daherkommen, das hat Gabriel in der Krise kapiert. Deswegen demonstriert er Demut nun auch im Amt. Mustergültig hat er sich im Ministerium eingearbeitet, kaum Leute ausgetauscht, zugehört, Notizen gemacht. In den Zeitungen stand umgehend, was er wünschte: Da nimmt einer seinen Job ernst. Dabei hat ihn die Umwelt früher nie sonderlich interessiert. »Man entwickelt erst Interesse für ein Thema, wenn man Verantwortung dafür hat«, erklärt er. Der Satz erklärt ihn perfekt. Denn umgekehrt lautet er: Ein Thema ohne Machtrelevanz ist wurscht.

Nur selten bricht der Populist derzeit durch, wenn sich der frühere Problembär etwa in eindeutiger Absicht zum Schmusebären Knut ins Gehege drängelt. War das nicht etwas viel Anbiederung? »I wo«, sagt Gabriel, die Kanzlerin sei sogar neidisch gewesen, weil ihr dieser Coup nicht eingefallen ist. Außerdem ist Knut nun Wappentier für die Artenschutzkonferenz und bekommt als Gage ein Jahr Futter vom Minister. Das sichert langfristig Schlagzeilen auf dem Boulevard. Politik ist ganz einfach: »Du musst die Nordkurve kriegen.«Natürlich hat er auch gewaltiges Glück gehabt. Das Klimaproblem ist für einen Politiker ein Himmelsgeschenk, ähnlich wie Krippendebatten. Wer gegen Klima oder Kinder ist, ist ein Schwein, der Politiker dagegen endlich mal der Gute. Jede Forderung produziert eine schöne Schlagzeile, die auf knapp 100 Prozent Zustimmung beim Wähler stößt. Geliefert wird, wenn überhaupt, frühestens ein, zwei Legislaturperioden später. Und bezahlen müssen andere.

Neulich beim Essen mit Schröder (»Wir haben uns wieder vertragen«) bestätigte ihm sogar der Altkanzler, dass die Zukunft grün ist. Die SPD kann sich nicht nur um Soziales kümmern, sondern braucht ein globales Mobilisierungsthema von der Wucht Brandt’scher Entspannungspolitik. »Bei der CDU reicht der Wille zur Macht«, weiß Gabriel, seine SPD dagegen »braucht immer erst eine Begründung, um für die Macht zu kämpfen«. Mit der Umwelt lässt sich eine solche neue Angst-und-Hoffnung-Vision aufbauen, wie sie der Sozialdemokrat liebt. Hier lauert die größte Panik, aber auch die größte ökonomische Fantasie. Öko steht für Jobs und Umsatz, für Lebensqualität und Modernität, für Dritte Welt und Zukunft. Die Grünen waren die Verhinderer, Super-Siggi will als Integrator die Ökodividende ernten. Hier sieht er die Zukunft der SPD – und natürlich seine. Er darf das nur nicht sagen.

Es gehört zu den Widersprüchen des politischen Geschäfts, dass man sich manchmal kleiner machen muss, als man sich fühlt. Aber Gabriel ist nur ein Scheinzwerg, denn es läuft ja sowieso alles auf ihn zu: Beck ist sechzig bei der nächsten Bundestagswahl, Münte fast siebzig. Gewinnt Merkel, ist die SPD mal wieder im Umbruch. Mit einem fertigen Konzept von ökologisch-sozialer Marktwirtschaft hätte er dann gute Karten für Fraktions- und Parteivorsitz. Wer diese beiden Jobs vereint, ist fast automatisch Kanzlerkandidat. Es gibt eigentlich nur einen, der ihm dabei im Wege steht, Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit. »Der Klaus und ich«, sagt der Minister grinsend, »wir werden uns noch öfter sehen.« Im Frühjahr war der Berliner in Gifhorn zu Gast als Starredner bei Gabriels Bezirksparteitag. »Ich wollte wissen, wie Wowi funktioniert.« Das Ergebnis war beeindruckend: Die Halle war voll, das Publikum begeistert. Wie will er künftig umgehen mit dem Menschenfischer aus der Hauptstadt? Da habe er keine Pläne, sagt Gabriel, »ich glaube sowieso nicht an die Planbarkeit politischer Karrieren«.