Schön voll hier!

Einsame Strände sind für viele Leute der Inbegriff eines schönen Urlaubs. Unserer Autorin aber kann es nicht belebt genug sein.

Neues Musterbeispiel für Psychologen: Ist dieser Strand halb leer oder halb voll?

Illustration: Sally West

Ganz schlimm sind die Touristen, die andere Touris­ten »Touris« nennen und sich jeden Morgen nach dem Frühstücksbuffet über sie aufregen: »Die sind so blöd, die gehen nur an den Strand direkt vor dem Hotel und drängeln sich wie die Sardinen. Dabei müssten sie bloß zehn Minuten über ein paar Felsen klettern, schon hätten sie eine Bucht quasi für sich allein!« Dann dackeln sie los mit ihrer Sonnenmilch, ihrer Wasserflasche, ihrem Handtuch und ihrem Buch, klettern über ein paar Felsen und fühlen sich jeden Tag aufs Neue erhaben über all die anderen – ihr schönstes Ferienerlebnis.

Ich kenne leere Strände. Sie sind leer, weil das Wetter gerade schlecht ist oder weil die Felsen dort so spitz sind, dass man sich nirgends hinlegen beziehungsweise nur auf einer Arschbacke sitzen kann. Andere leere Strände sind gar keine, sondern bei Sonne sofort voll, da Reiseführer sie als »unentdeckt« gepriesen haben. Trifft das alles ausnahms­weise nicht zu, möchte ich nur flehen: Lasst doch um Gottes willen die paar Buchten in Ruhe, die noch nicht von der Tourismusmaschine aufgefressen sind! Für einen Touri wie mich sind nur leere Naturstrände noch schlimmer als leere Strände. Naturstrand: Das heißt, dass nichts von dem Dreck, den das Meer anschwemmt, weggeräumt wird, dass die, die sich für die besseren Touristen halten, zum Gaffen kommen, wenn die geschützten Meeresschildkröten zwischen Mai und September ihre Eier im Sand ablegen, oder dass verros­tete Schienen über den Strand führen, auf denen keine Züge mehr fahren.


Wem schaue ich zu, wem höre ich zu? Über wessen Kindererziehung rege ich mich auf? An einem leeren Strand ist ja kein Mensch in der Nähe

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An leeren Stränden bratzelt mir die Sonne Stunde um Stunde auf den Schädel, kein Schatten, kein Sonnenschirm weit und breit. Lesen kann ich nicht, weil bei jedem Umblättern Sand zwischen die Seiten fällt, abklopfen geht auch nicht, weil der Wind ihn ständig über mich, mein Handtuch und das Buch weht, und Liegen, die genau dieses Problem lösen könnten, gibt’s an leeren Stränden ja normalerweise keine. Wehe, ich gehe ins Wasser! Den Sand, der an meinen nassen Füßen klebt und das Handtuch unbenutzbar macht, finde ich noch Tage nach meiner Rückkehr in den Haaren wieder. Eine Dusche, wie an vollen Stränden üblich, das wär’s.

Wem schaue ich zu, wem höre ich zu? Über wessen Kindererziehung rege ich mich auf? Ist ja kein Mensch in der Nähe. Wo kaufe ich mir einen Kaffee, wo das Eis? An einem vollen Strand dagegen sind so viele Leute, die man beobachten kann, aus dem Grad ihrer Bräune oder Rötung lassen sich Rückschlüsse auf Herkunft (knallrot = Engländer, klar) und Dauer seit Ankunft ziehen. Wieso reagieren die Eltern da hinten nicht, als ihr nackter Junge in den Sand pinkelt? Warum telefoniert der Mann ständig, statt mit seinen Kindern Bäche für das Wasser in den Sand zu graben? Muss die Frau neben mir oben ohne tragen? Kann das Pärchen nicht ins Hotelzimmer gehen, um richtig Sex zu haben? Sind dieses Jahr besonders viele Russen da? Oder sind es Polen oder Slowaken, deren Sprache ich nicht unterscheiden kann? Die Leute hinter mir sind wohl Belgier oder Niederländer, jedenfalls lesen sie Bücher, deren Titel das nahelegen. Oder doch Schweden? Alles wahnsinnig interessant, nicht? Finde ich auch.

Und während ich mir das alles zusammenreime und die Vorurteile nur so sprießen, vergeht die Zeit angenehm urlaubsmäßig – nicht schnell, nicht langsam. Zwischendurch schaue ich auch in mein sandfreies Buch, es liest sich sehr angenehm, wenn man die Rückenlehne der Liege hochklappen kann und der Sonnenschirm Schatten spendet. Für die zehn Euro am Tag, die das kostet, verschönere ich gern den Urlaub jener, die sich an den leeren Stränden für die besseren Touristen halten, obwohl sie natürlich das Last-Minute-Angebot inklusive Transfer im selben Hotel wie ich gebucht haben.

Die Erinnerungen an heiße Sommertage als Kind haben immer mit vollen Freibädern und Stränden an Seen zu tun, bei denen man erst nach langem Umherschauen einen angenehmen Platz gefunden hat, an dem man seine Handtücher und Luftmatratzen, die Kühlbox und den Wasserball ablegen und abstellen kann. Das Eis, für das man zwanzig Minuten am Kiosk anstehen musste, bildete den Höhepunkt des Tages.

Heute jedoch gibt es Fomo und Jomo, englische Abkürzungen, die die Tourismusforschung kreiert hat. Ich bin ein Fomo, ganz klar. Fomo steht für: Fear of missing out, also die Furcht, am Strand und im Urlaub etwas zu ver­säumen – der wesentliche Grund, warum es Urlauber an volle Strände zieht. Der neue Trend jedoch, noch klein, heißt Jomo, sagt der Tourismus- und Zukunftsforscher Ulrich Reinhardt, Professor an der Fachhochschule Westküste in Heide. Jomo steht für: Joy of missing out. Also die Freude, im Urlaub Momente der Stille zu finden, an einen einsamen Strand zu gehen und es zu schaffen, dieses Erlebnis nicht auf Instagram zu stellen. Ein wichtiger Trend, meint Ulrich Reinhardt, denn immer häufiger sei der Urlaub eine Fortsetzung des Alltags: Statt zu entspannen, telefonierten wir ständig mit Freunden und checkten unsere Mails auf dem Smartphone. Und sei davon mal Pause, umgäben uns Hunderte, die ihrerseits telefonierten.

Bezieht man den Umweltaspekt mit ein in die Überlegung, ob ich einen vollen oder leeren Strand aufsuche, ist Reinhardts Meinung radikal: Jedes künstliche und überdachte Ferienparadies, das in Deutschland eröffnet, sei besser als ein Strand in der Südsee oder Karibik – man fühle sich sehr ähnlich wie zur Hochsaison auf Malle, habe aber CO2 gespart.

Jetzt hat er mich gekriegt. Ich war noch nie in einem überdachten deutschen Ferienparadies, und ich will da auch nie hin. Da reise ich lieber nach Mallorca und rege mich an einem vollen Strand über die auf, die sich über mich aufregen.