Tag eins, abends in Wladiwostok, 9260 Kilometer bis Moskau
Zug 7, Waggon 5, Liege 12. Das Betreten des Zuges ist ein entscheidender Moment zu Beginn einer siebentägigen Zugfahrt: Mit wem teile ich das Abteil? Säuft jemand bis Moskau durch? Schnarcht noch einer so laut wie ich? Alle werden übel riechen bei vorausgesagten 35 Grad Hitze, ohne Dusche, ohne Klima-anlage, mit Oberfenstern im Waggon, die sich nur einen Spalt kippen lassen. Vielleicht habe ich aber auch Glück und irgendwer spielt eine Woche lang Schach mit mir.
9289 Kilometer zeigt die Tafel am Ende des Bahnsteigs in Wladiwostok an, stimmt längst nicht mehr, die Strecke wurde inzwischen um 29 Kilometer gekürzt. Die längste Zugstrecke der Welt, sagt man, mit 143 Stunden reiner Fahrtzeit. Einmal die Woche kommt ein Waggon aus dem nordkoreanischen Pjönjang und wird in Wladiwostok an die 13 russischen Waggons der Transsibirischen Eisenbahn angehängt. Ein verbotener Waggon, Touristen und Russen können ihn nicht buchen, niemand soll die nordkoreanischen Funktionäre auf Shoppingtour stören. Wladiwostok war für Ausländer bis 1992 eine verbotene Stadt. Sie liegt auf einer Halbinsel, ist so hügelig wie San Francisco, und das Wetter wechselt ähnlich schnell. Die Sonne schien tagsüber, aber innerhalb von zehn Minuten hat der Pazifik die Stadt in dichten Nebel gehüllt. Eine Brigade Bauarbeiter schaufelt vor dem Bahnhof, uniformierte Soldaten aus Nordkorea, die offensichtlich ein paar Devisen für ihren bankrotten Staat verdienen. Der schmale Grenzstreifen zwischen Russland und Nordkorea liegt vielleicht 280 Kilometer von Wladiwostok entfernt. »Pjönjang« hieß auch das Restaurant, in dem ich noch am frühen Abend ein letztes Mal gegessen habe: Bibimbap, ein koreanisches Reis-gericht, dazu russisches Bier, während drei nordkoreanische Kellnerinnen zu Karaoke-Begleitung fröhlich klingende Volkslieder aus ihrer traurigen Heimat sangen.
Melancholische Abendstimmung am Bahnsteig. Familien nehmen sich in den Arm, Liebespaare haben Tränen in den Augen, Männer rauchen eine letzte Zigarette, obwohl Rauchen in russischen Zügen ge-duldet wird, im Durchgang zwischen den Waggons. Eine E-Lok zieht den Zug, aber es riecht nach Kohle, in jedem Waggon wird ein Samowar beheizt.
Der Zug ist fast ausgebucht. Sicher 400 Passagiere. Allein zehn Waggons für die zweite Klasse. In der ersten Klasse liegt man zu zweit, in der zweiten zu viert und in der dritten liegen 56 Leute ohne irgendeine Trennwand im ganzen Waggon – drei Liegen übereinander und eng nebeneinander. Jeder Wagen, jedes Liegebett ist durchnummeriert. In der zweiten Klasse liegen vier Leute auf zwei mal zwei Metern im Abteil, zwei Pritschen oben, zwei unten, unter dem Fenster ein ausklappbarer Tisch. Früher sollen in den Ab-teilen Mikros versteckt gewesen sein. Verdammt, ich liege oben, noch mal fünf Zen-timeter kürzer wegen der Haltebügel an der Wand, ich werde mich sechs Nächte kaum ausstrecken können. Leise Hoffnung: Vielleicht bleiben die anderen Liegen unbelegt und ich verbringe die erste Nacht allein im Abteil? Schnelle Ernüchterung, ein Ehepaar auf dem Weg an den Baikalsee liegt unten: Tamara und Sergej. Kurz darauf legt sich ein tätowierter russischer Bär oben mir gegen-über auf die Liege. Walodja reicht mir die Hand und stellt sich vor, Zugetikette. Die beiden Männer gehen gleich gemeinsam zum Rauchen. Ich drücke mich im Gang herum, während die Frau sich in einen Jogging-anzug zwängt. Sie packt eingelegtes Gemüse und Knoblauch aus, Servietten, Zucker, Salz und Nescafé. Sie hat sogar eine Tüte für ihre Hausschuhe und Schmutzwäsche dabei. Vollprofi.
Kurz vor Mitternacht und immer noch schwül. Ich kann nicht schlafen, aber der Speisewagen hat längst geschlossen. Mein Reiseproviant: eine Tüte voll Radieschen, drei Packungen Teebeutel, drei Büchsen Sardinen, zwei große Flaschen Wasser, eine Flasche Rotwein, drei Zigarren – die Abteilnachbarn lehnen alles dankend ab. Meine russischen Sprachkenntnisse: genau 17 Wörter – dobre, gut; schachmati, Schach –, gemeinsam mit Tamaras 20 Wörtern Englisch – work, home – reicht das zum gegenseitigen Vorstellen. Meine Ausrüstung: Sagrotan-Tücher, zwei Rollen Toilettenpapier – der Reiseveranstalter hat sogar Abführtabletten und welche gegen Durchfall empfohlen. Ferner: fünf Bücher und mein kleines Reiseschachbrett, einklappbar, mit Holzfiguren, die von unserer Katze angekaut wurden. Es ist das Schachbrett, vor dem ich als Kind erzählt bekam, dass alle Russen in der Transsibirischen Eisenbahn ständig Schach spielen.
Der Zug ruckelt stark, wir erreichen die Wälder Sibiriens. Noch stinkt niemand. Niemand schnarcht. Ich bekomme kein Auge zu. Niemand trinkt im Land der Alkoholiker, außer mir. Gegen die Aufregung, gegen den Jetlag, in Deutschland ist es jetzt erst vier Uhr nachmitttags, in der Zeitzone von Wladiwos-tok schon ein Uhr nachts, aber im Zug gilt eigentlich Moskauer Zeit: sechs Uhr abends.
Tag zwei, später Vormittag in Chabarowsk, noch 8493 Kilometer nach Moskau
Kein Reiseschriftsteller, kein Reisejournalist, der nicht davon träumt, die Strecke einmal in seinem Leben zu fahren. Bücher und Artikel über die Transsib sind Legion. Dass größere Passagiere sich schlecht ausstrecken können, erwähnt niemand. Dabei bin ich kein Riese, 1,88, aber Paul Theroux zum Beispiel, der amerikanische Reiseschriftsteller, ist kleiner als ich. Er fuhr ohnehin mit dem besser ausgestatteten Zug Nummer 1, der noch in der DDR gebaut wurde. Reisejournalisten fahren meist mit dem »Zarengold«, einem luxuriösen Sonderzug für Touristen mit Dusche an Bord und Plüsch in den Abteilen. Aber ich wollte ja Schach spielen mit Russen, deswegen nahm ich den einfachen, günstigeren Zug Nummer 7, für den bekommt man ein Ticket dritter Klasse für die gesamte Strecke schon für etwas mehr als 200 Euro. Der besonders langsame Postzug ist noch günstiger, doch der soll sich nur für Depressive und Masochisten eignen. Sergej und Tamara haben 200 Euro für die halbe Strecke in der zweiten Klasse bis zum Baikalsee gezahlt. In Zug Nummer 7 fährt kein anderer Tourist mit. Vor den regulären Zügen wird oft gewarnt – von Reiseschriftstellern, die im Luxuszug fuhren. Kein Schreiber ist die Strecke je dritter Klasse gefahren, und ich werde ganz bestimmt nicht der erste sein. Theroux beklagte sich in The Great Railway Bazaar über die Eintönigkeit der Landschaft und darüber, dass sein Abteilkollege ihm die Zigarren klaute. Reiseveranstalter empfehlen, Wertgegenstände im Rucksack bei sich zu tragen, sobald man das Abteil verlässt. Ich beschließe schon nach kurzer Zeit, meinen Mitreisenden einfach zu vertrauen.
Morgens fahren wir immer noch Richtung Norden entlang der chinesischen
Grenze. Am späten Vormittag halten wir eine Viertelstunde in Chaborowsk, der Apa-Guide-Reiseführer schwärmt vom »coolsten Nachtleben in ganz Sibirien«. Die Passagiere stürmen auf den Bahnsteig, um sich die Füße zu vertreten. Man kann nicht gehen, sich bewegen in einer voll besetzten Transsib. Der Transsib-Style: Der Herr trägt im Sommer bevorzugt Badehose und Adiletten, mit nacktem Oberkörper oder im Fußballtrikot seiner Wahl, die Dame eher Trainingsanzug und Hausschuhe.
Das Transsib-Trinkverhalten: gern ein Viertel Wodka zum Mittagessen. Aber das Klischee »Tassen hoch« stimmt nicht. Auch nicht das vom lauten, unhöflichen Russen, das mag für die Mittelmeerstrände zutreffen. Im Zug gehen die Menschen sehr höflich miteinander um. Keiner drängelt in den engen Gängen, man wartet geduldig, bis der Vordermann eine Möglichkeit findet, aus dem Weg zu gehen. Erstaunlich, dass so wenig Aggressionen entstehen. Man steht sich ja ständig auf den Füßen. Aber niemand streitet. Jeder weiß um die Unmenschlichkeit der Verhältnisse im Zug 7 und verhält sich daher so menschlich wie möglich.
Ich esse immer noch Radieschen. Walodja, der Bär in meinem Abteil, lehnt dankend ab, aber besteht darauf, dass ich von seinem Brathuhn esse.
Wir passieren die größte Brücke der Strecke über den Fluss Amur, sie ist fast drei Kilometer lang; das ist der erste Augenblick der Reise, den ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Es ist heiß draußen und drinnen. In einem Nebenarm des Amur baden Leute. Im Zug fängt es langsam an zu stinken. Aber die Toilette ist immer noch sauber. Eine Edelstahlkabine, die Spülung geht direkt auf die Gleise, beim Halt in größeren Bahnhöfen wird die Toilette verschlossen.
Ich packe mein Schachbrett aus. Sergej und Walodja ist es peinlich, dass sie nicht spielen können. Sobald mich beim Gang durch die Waggons jemand ansieht, halte ich das Brett in die Höhe und frage: schachmati? Alle Reiseschriftsteller erwähnten die vielen Schachspieler in der Transsib. Bis in die Achtzigerjahre konnte man sich laut einer Reisereportage des Schauspielers Hardy Krüger Bretter beim Waggonbegleiter ausleihen. In Zug Nummer 7 schauen die Passagiere lieber amerikanische Filme auf ihrem Laptop. Niemand säuft, niemand stiehlt, niemand spielt Schach. Was ist bloß los mit Mütterchen Russ-land? Die Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn wird zur echten Bildungsreise, die meinen Glauben an Klischees erschüttert. Nicht mal die Toiletten sind verstopft oder dreckig, wie die Reiseführer warnen.
Endlos lange Güterzüge kommen uns entgegen. Zwischen Birkenwäldern passieren wir einen Friedhof für Militärfahrzeuge und fröhlich bemalte Holzhäuser: Hellrot, Dunkelblau und viel Hellgrün, hoppla, eines ist rosa.
Sergej und Tamara sind drei Tage unterwegs zu ihren Verwandten. Sie wollen vier Wochen Urlaub machen, Sergej freut sich auf das Fischen von riesigen Stören. Tamara zeigt Fotos aus Disneyworld, als sie ihren Sohn im vergangenen Jahr besucht haben. Der ist nach dem Studium nach Amerika ausgewandert und hat in Miami geheiratet, eine Einwanderin aus der Ukraine. Walodja hat in Wladiwostok sein Enkelkind besucht. Er arbeitet im Wald, schlägt Holz. Seine Tattoos auf der Brust sind verwachsen. Er nimmt mich auf den Arm, sagt, er sei ein Killer. Alle lachen. Auch Sergej, der Polizist ist im Erstberuf und Schreiner im zweiten. Nein, er war jung und dumm, klärt Walodja auf. Erstaunlich, wie passabel man sich auch ohne viele Worte verständigen kann, mit Händen und Füßen. Walodja bittet Sergej, ihm den Fahrplan vorzulesen, der im Gang aushängt. Walodja kann offenbar kaum lesen. Dafür kennt er einen deutschen Satz: »Eins, zwei, drei, Polizei.« Den bekomme ich öfter zu hören.
Meine erste Partie kommt unverhofft: Pascha aus Sachalin, mit Tochter und Schwiegersohn unterwegs. Er hatte im Speisewagen schon drei Bier getrunken, bevor er mich mitnahm in das Familienabteil. Meine Standarderöffnung mit Weiß heißt Königsgambit, das kennt er nicht. Schnell verliert er erst eine Figur und dann die Partie. Die zweite: Pascha spielt Damengambit. Ich opfere einen Läufer, er wehrt sich noch ein bisschen – Schach kann so langweilig sein, wenn die Gegner nicht etwa gleich stark sind. Dabei bin ich selbst – im Vergleich mit einem schwachen Vereinsspieler – schon ein erbärmlicher Stümper.
Plan B: Lesen. Ryszard Kapuscinski, der polnische Reiseschriftsteller, schreibt von der Unendlichkeit Sibiriens, die man nur im Zug erfahren kann. Paulo Coelho, der brasilianische Eso-Schriftsteller, fährt in einem eigenen Luxuswaggon mit Dusche und Salon durch Sibirien. Zwischen zwei Waggons hat er eine Zeitschleuse gefunden, die ihn zurückbeamt in sein früheres Leben als Pfaffe im Zeitalter der Inquisition. Paul Theroux, der amerikanische Reiseschriftsteller, flucht schlecht gelaunt über sein Essen.
Draußen ist es wieder dunkel. Man schläft nachts nicht oder nur schlecht und hält stattdessen Nickerchen zwischendurch. Im Liegen, im Sitzen am Tisch im Speisewagen. Manche Passagiere sieht man am Fenster stehend kurz wegnicken. Das halb wache Vorsichhindösen kurz nach oder vor einem Nickerchen ist der gängigste Bewusstseinszustand in der Transsib. In den weißen Nächten im Juni ist es wohl noch schlimmer. Jurij Schiwago, Boris Pasternaks Held, brachte zwei Tage und Nächte nur im Halbschlaf zu. Nickerchen verursachen wilde Tagträume: Als Putin von Coelhos Zugfahrt durch Sibirien hörte, lud er ihn am Ende tatsächlich in den Kreml ein. Deswegen träume ich jetzt von Putins weißer Limousine, die mich in Moskau am Jaroslavskij-Bahnhof erwartet und in den Schachclub bringt.
Wer wach ist, rechnet unweigerlich, wie lange die Fahrt noch dauern wird. Keine Schachgegner, keine rechte Lust zum Lesen, und die Flasche Rotwein ist lange leer. Die Erfahrung der Unendlichkeit, von der Reiseschriftsteller schwärmen, nervt. Auch vom viel beschriebenen Zauber der Transsib spüre ich gerade nichts. Unglaublich, wie viel Zeit man sich mit dem Flieger ersparen kann.
Der dichte Wald der Taiga und das flache Land der Tundra wechseln sich ab. An der Grenze zu China passieren wir jene tausend Kilometer Sibirien, die am wenigsten dicht besiedelt sind. Der Zug hält in Dörfern mit 200, 300 Holzhäusern im Wald. Im Winter wird es hier bis zu sechzig Grad kalt, der Boden ist auch im Sommer gefroren, aber im Zug ist es trotzdem über dreißig Grad warm. Sergej und Walodja erwähnen verschiedene Gulags, die Stalin in dieser Gegend errichtete.
Schon zwei Tage im Zug, aber erst mein zweiter Gegner: ein weiterer Sergej, aus Tschita, er arbeitet im Schienenwerk, Schachspielen hat er vom Großvater gelernt. Ich gewinne schnell zwei Partien, werde übermütig, opfere meine Dame und gewinne dennoch. Sergej denkt nach und lässt sich Zeit. Er trinkt Fanta. Sein Großvater wäre sicher stolz auf ihn. Nach zwei weiteren verlorenen Partien und zwei Stunden lässt er es gut sein und verabschiedet sich in sein Abteil. Sein Freund Micha übernimmt seinen Platz. Micha verliert mit einer Zugkombination, die man Schäfermatt nennt, in vier Zügen, schneller geht es nicht.
Im Duell Reichardt gegen Russland steht es mittlerweile 12:0, für mich dennoch kaum Anlass zur Freude
Tag drei, mittags in Tschernyschwesk, noch 6555 Kilometer
Walodja steigt aus. Doswidanje, sagen wir und lachen los, denn wir wissen beide, dass wir uns nie wiedersehen werden. Ein Asiate nimmt Walodjas Platz am nächsten Bahnhof ein. Sorry, aber er stinkt entsetzlich nach Knoblauch. Das stört ihn nicht, er legt sich hin und ist schon eingeschlafen, ohne sich vorgestellt zu haben.
Wildpferde laufen frei an der Bahnstrecke herum.
Im Duell Reichardt gegen Russland steht es mittlerweile 12:0, für mich dennoch kaum Anlass zur Freude.
Tag vier, mittags in Ulan-Ude, noch 5609 Kilometer
Tamara und Sergej steigen aus. Wie schade. Meine neuen Abteilnachbarn: Ana und On samt Baby. Ana stammt aus Ulan-Ude am Baikalsee, On ist Chinese, aber arbeitet in Krasnojarsk in der Holzindustrie. Sie sind frisch verheiratet, richtig dick und doch so verliebt, dass sie Arm in Arm auf der schmalen Pritsche einschlafen.
Den Nachmittag verbringe ich im Speisewagen vor meinem Brett in der Hoffnung, dass mich jemand anspricht. Warten auf den Godot des Schachs. Endlich der Baikal, tiefster Süßwassersee der Welt. Vier Stunden lang fahren wir an seinem südöstlichen Ufer entlang. Die Berggipfel im Westen sind noch schneebedeckt. Der schönste Abschnitt der Strecke. Laut Coelho steigt hier die Euphorie mit jedem Kilometer. Auch meine Laune bessert sich. Wie toll, nichts zu tun zu haben, als Schach zu spielen, zu lesen, zu dösen, während man aus dem Fenster schaut und ein Viertel des Erdumfangs an sich vorbeirauschen sieht. Nur noch 5279 Kilometer. Ich kann mir plötzlich keinen schöneren Ort auf Erden vorstellen als Zug Nummer 7, Schach hin oder her. Aber was für ein Wahnsinn, am Baikalsee nicht auszusteigen. Darf man nicht. Unterbrechungen muss man beim Ticketkauf angeben. Frauen steigen zu, verkaufen selbst gestrickte Socken, Sonnenblumenkerne und Omul, einen forellenähnlichen Fisch, den es nur im Baikalsee gibt. Ich kaufe gleich drei davon. Am Abend regnet es und wird kühler, wie angenehm. Trotzdem kommen die ersten Mücken auf der Reise.
Tag fünf, vormittags in Krasnojarsk, noch 4065 Kilometer
Zum ersten Mal wieder acht Stunden Schlaf bekommen. Ich habe gelernt, mit eingezogenen Zehen zu schlafen. Das Baby unter mir hat nicht geschrien. Ich habe
inzwischen eine Routine für die tägliche Katzenwäsche entwickelt, das Rasieren habe ich schon am zweiten Tag eingestellt, so wie alle anderen Männer. Ana und On bieten mir chinesische Teigtaschen zum Frühstück an, ich nehme eine in die Hand, beiße rein und schon läuft mir der heiße Bratensaft aus der Teigtasche über Hose und Laken. Schmeckt großartig, aber die Hose ist versaut. Langsam reicht es mir. Zugkoller. Der Typ im Abteil neben uns läuft schon den vierten Tag im gleichen T-Shirt rum. Kann die Waggonbegleiterin eigentlich auch lachen? Aber warum denn? Sie putzt morgens die Toilette und wischt mittags den Gang. Ihr männlicher Kollege putzt nie irgendetwas während seiner Schicht. Ich beschließe, mir spielfrei zu nehmen und meinen ersten Wodka auf der Reise zu genehmigen.
Die Bedienung im Speisewagen trägt mehrere Goldzähne und zeigt ein strahlendes Lächeln, als ich etwas später als gewohnt doch noch komme, um wie jeden Tag Borscht, Salat und ein Bier zu bestellen. Als ich hinterher einen Wodka verlange, heißt es: njet. Der Wodka ist aus. Was für ein Tag.
Ana und Ono stürzen in Krasnojarsk aus dem Abteil, ich helfe beim Tragen ihrer vielen Koffer. Wie schön der Bahnhof ist. Sibirische Bahnhöfe stammen aus der Zarenzeit, die Gebäudeseite zu den Gleisen hin ist meist prächtiger als der Eingang zum Hauptplatz – es bleiben ja mehr Menschen im Zug sitzen als aussteigen. Noch 4065 Kilometer. Mein Abteil ist zum ersten Mal leer. Die Waggonbegleiterin schimpft mich, ich habe vergessen, ihr mein Laken mit den Soßenflecken zu geben. Manchmal ist es auch ganz günstig, nichts zu verstehen.
Abgebrannte Äcker. Die Taiga wird ab hier bearbeitet. Immer noch sind keine gepflas-terten oder geteerten Straßen zu sehen. Haltestelle Atschinsk: ein trostloses Kaff. Kein Haus steht hier gerade, keines ist frisch gestrichen. Unser Ausgang dauert maximal dreißig Minuten. Jeder läuft schnell hin und her. Wie im Gefängnis. Für die Strecke zwischen Krasnojarsk und Jekaterinburg empfiehlt der Lonely Planet allen Ernstes, sich über Russland Gedanken zu machen. Zu langweilig sei die Landschaft in diesem Streckenabschnitt.
Der Zug Richtung Moskau wird immer leerer, die Menschen in den Holzhäusern an der Strecke immer reicher: Nach fast 5500 Kilometern ist die erste Bahnschranke auf der Strecke zu sehen. Kleingartensiedlungen mit Gemüsegärten und zwischendrin Tulpenbeete. Russen lieben Tulpen.
Mein sechster Gegner auf der Strecke heißt Evgeni. 22 Jahre alt, geschieden, ehemaliger Biathlonläufer, vier Jahre war er Lehrer in Wladiwostok und fährt das erste Mal wieder nach Hause. Er verliert, aber wir unterhalten uns nett. Er spricht gebrochen Englisch, ein Übersetzungsprogramm im Internet hilft uns. 35 Grad zeigt ein Thermometer in einem Ort an, die Grenze nach Kasachstan ist nicht weit.
Ich komme spät in den Speisewagen. Goldzahn zeigt auf ihre Armbanduhr und lacht. Sie freut sich, dass ich mich von ihr verabschiede. Ich steige an der nächsten Station aus.
Im Speisewagen ist der Wodka ebenfalls ausgegangen
Tag sechs, nachts in Nowosibirsk, noch 3303 Kilometer.
Im »Chicago Sibiriens« lege ich einen Ruhetag ein. Kein Schach, kein Zugfahren, nur duschen, gehen, essen. Es heißt, hier lebten die schönsten Frauen Sibiriens. Sie leben in einer reichen, aber sehr hässlichen Stadt mit vielen Plattenbauten und ein paar Hochhäusern in der Mitte. Ob die Prostituierten in der Hotellobby Schach spielen könnten? Nur noch elf Stationen bis Moskau. Spätabends steige ich in den Zug Nummer 1, mit dem auch Paul Theroux gefahren ist, mit den besser ausgestatteten Waggons, die noch in der DDR gebaut wurden. Theroux ist die ganze Strecke erster Klasse gefahren, die gönne ich mir jetzt auch: Nur zwei Liegen im Abteil, mein Gegenüber heißt Maxima, ich schätze sie auf Ende sechzig, sie spricht kein Wort Englisch und stickt die ganze Zeit einen großen Adler auf ein Halstuch, während auf ihrem DVD-Player Liebesfilme laufen. Sie würdigt mich kaum eines Blickes. Natürlich spielt sie kein Schach.
In Zug Nummer 1 sitzen viele Soldaten, die in den Heimaturlaub fahren, es ist Freitag. Im Speisewagen ist der Wodka ebenfalls ausgegangen. Borscht und Salat auch. Nur noch Schnitzel gibt es. Die Bäume an der Strecke werden immer riesiger, einige sicher vierzig Meter hoch. Die Landschaft wird lieblicher, Flüsschen, keine Flüsse mehr. Die Straßen haben plötzlich einen Mittelstreifen. Omsk: Hier war Dostojewskij 1850 im Exil. Noch 2676 Kilometer.
Tag sieben, nachmittags in Jekaterinburg, noch 1778 Kilometer
Mein nächster Gegner heißt schon wieder Sergej, er ist Mathematikprofessor aus
Jekaterinburg, Mitte sechzig. Er war auf einer Tagung in Nowosibirsk, hat etwas Wodka getrunken, spricht hervorragend Englisch, kennt Brecht und versucht, mit Maxima zu flirten, deswegen sitzt er auf meiner Liege in unserem Abteil. Sie zeigt ihm die kalte Schulter, weswegen er gern mit mir spielt, um in ihrer Nähe zu bleiben. Sergej holt sein eigenes Schachbrett und auch eine Uhr aus seinem Koffer. Sergej spielt eine mir eher unangenehme Eröffnung, sie heißt Nimzoindisch, und obwohl er betrunken ist und sein eigentliches Interesse Maxima gilt, schlägt er mich zweimal und verliert viermal nur knapp. Was für ein großartiges Spiel Schach sein kann und wie schnell die Tage doch vergangen wären in Gesellschaft von Sergej. Aber uns blieben nur drei Stunden, bis er aussteigen musste.
Niemand hat gemerkt, als wir am Ural die Grenze zu Europa passiert haben und nach 7482 Kilometern in Jekaterinburg eingefahren sind: Die Stadt, in der Zar
Nikolaus II. und seine Familie erschossen wurden. Die Stadt der blutigen Mafiakriege der Neunzigerjahre. Auf der nackten Brust eines Mannes, der den Zug verlässt, prangt das riesige Tattoo einer orthodoxen Kirche. Er will es nicht fotografieren lassen. Am Gleis gegenüber steht der Zug Richtung Peking. Ich weiß nicht recht, ob ich dessen Passagiere beneiden oder bedauern soll. Ich habe mir in jedem Fall vorgenommen, an den Baikalsee mit mehr Zeit, aber ohne Schachbrett zurückzukehren. Unbedingt wieder mit der Transsib. Auch Perm, die nächste Station hinter Jekaterinburg, und seine Museen für moderne Kunst will ich noch einmal sehen. Selbst der Gulag von Perm ist inzwischen ein Museum, ehemalige Häftlinge führen die Besucher. Man hatte früher alle Bäume im Umkreis des Lagers gefällt, damit die Insassen nicht herausfinden konnten, in welchen Teil Sibiriens man sie gebracht hatte. Ein Vogelkundler hat es dennoch über das Zwitschern der Vögel herausgefunden. Perm war das Vorbild für die Stadt, in die Pasternak seinen Doktor Schiwago ins Exil schickte.
Tag acht, nachts in Perm, noch 1397 Kilometer
Maxima packt am Morgen. Sie mag mich inzwischen, weil ich den aufdringlichen Matheprofessor im Schach geschlagen habe. Die Waggonbegleiterin bringt ihr vier große Büchsen roten Kaviar, die sie für Maxima im Kühlschrank aufbewahrt hatte. Warum ich denn keine mitgebracht hätte vom Pazifik? Ja, warum eigentlich nicht?
Wieder im Speisewagen. Ich lerne Mathias kennen. Eisenbahnangestellter aus der Schweiz. Er fährt die Strecke gleich hin und zurück, denn er möchte nichts versäumen. Er weiß, dass die Transsib nicht der längste Zug ist, der fährt in Mauretanien und ist zwei Kilometer lang. Er meint, dass die Transsib nicht die schönste Zugstrecke der Welt ist, die sei in Graubünden. Er weiß auch, dass die Strecke Wladiwostok–Kiew über Kasachstan noch ein paar Kilometer länger ist als die 9260 Kilometer nach Moskau.
Auch das noch. Die Russen spielen nicht mehr Schach und die Transibirische Eisenbahn ist gar nicht die längste Zugverbindung der Welt.
In Moskau scheint die Sonne, als Zug Nummer 1 am frühen Abend meines achten Tages im Jaroslavskij-Bahnhof einläuft. Mein Gang ist wacklig. Ich rufe meinen Kontaktmann an, der versprochen hatte, mir gleich nach Ankunft den berühmten Schachclub zu zeigen. Er vertröstet mich und ruft nicht mehr zurück. Ich bin zu müde, um noch in das großartige georgische Restaurant zu fahren, von dem ich die letzten Tage mehrfach geträumt habe. Ich fahre in mein Hotel, falle ohne zu duschen ins Bett und träume von Sibirien.
TICKETS
Eine 16-tägige Reise mit der Transsib von Moskau nach Wladiwostok kostet inklusive verschiedener Ausflüge und Unterkunft ab 1990 EUR. Die Komfort-Variante im »Zarengold«-Sonderzug zwischen Moskau und Peking gibt es ab 3890 EUR inkl. Flügen über www.lernidee.de
Fotos: Lars Reichardt, Maria Ionova-Gibrina/Agentur Focus; Illustration: Daniel Egnéus