Warum die »Zweitwohnung auf Rädern« nervt

Man kann verstehen, dass viele Leute sich ein Wohnmobil zulegen, um mal der Enge der Stadt zu entkommen. Aber merken sie nicht, dass sie die Stadt immer enger machen?

Illustration: Franz Lang

Ich kenne jemanden, der hat gerade für 70 000 Euro einen »Campervan« gekauft. Das Modell des Wohnmobilherstellers heißt »Free«, und für die Freiheit, mit seiner Familie jederzeit an den Lieblingssee fahren und dort bleiben zu können (wenn er mal nicht arbeiten muss und es nicht regnet und die Kinder nicht irgendwelche Wochenendverabredungen haben oder lieber drinnen bleiben wollen und der Campingplatz am Lieblingssee nicht ausgebucht ist, was er bis zum Ende der Saison 2021 ist), hat sich derjenige an einen Kredit gekettet.

Als ich neulich in seiner Erdgeschosswohnung im Zentrum Münchens saß, deutete er aus dem Fenster und erklärte seine Investition damit, sie müssten einfach häufiger mal was anderes sehen nach diesem Homeoffice-Jahr. Ich sah hinaus, aber da stand nur sein schwarzer Blechkasten mit Aufstelldach und 160 PS, mehr als zwei Meter breit und fast sechs Meter lang, den er bisher vor allem für den wöchentlichen Großeinkauf nutzt und den er direkt vor seiner Küche geparkt hatte, wo er nun den blauen Himmel verdeckte.

Noch nie haben die Deutschen so viele Wohnmobile gekauft wie in dieser Pandemie. 2020 wurden 78 055 Neuzulassungen gezählt, ein Plus von 44,8 Prozent im Vergleich zu 2019, und schon damals war ein Rekordabsatz verzeichnet worden. Dazu kamen 29 148 Wohnwagen, was das »Deutsche Caravaning Institut« zu folgender Jubelmeldung veranlasste: »Zum ersten Mal wurden in Deutschland binnen eines Kalenderjahres mehr als 100 000 Freizeitfahrzeuge neu zugelassen.«

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Wenn ihre Halter keine Freizeit haben, also fast immer, dann verbringen diese Freizeitfahrzeuge ihren Alltag dort, wo nicht geurlaubt, sondern gewohnt wird, und in Städten bedeutet das leider: im öffentlichen Raum, denn wer hat schon einen Stellplatz am Stadtrand. In meiner Straße jedenfalls, und in den umliegenden (das Milieu: zunehmend gutverdienend, großenteils grünwählend, vor allem Familien), sieht es mittlerweile aus wie auf einem Dauercampingplatz: Glänzend neue VW-Multivans reihen sich an liebevoll restaurierte Kult-Bullis, bonbonrunde Ford Nuggets drängeln sich an edel verdunkelte »Marco Polos« von Mercedes-Benz, eierschalenfarbene Altenheime auf Rädern blockieren mit ihren Hinterachsen ebenso die Gehwege wie Luxus-Camper von Westfalia, Bürstner oder Hymer.

Nun könnte man gegen diese historische Sammlung menschlichen Mobilitätsdrangs allein ästhetisch allerhand einwenden: Wohnmobile mögen sich von Spießbürgerkojen mit karierten Polstergarnituren zu Designobjekten mit Eukalyptusholzküchenzeile gewandelt haben, und doch bleiben sie ja rollende Eigenheimimitate, deprimierende Botschafter deutscher Maschendrahtmentalität und Autonomiefantasien, deren Erfüllung darin besteht, sich abends auf die eigene Plastiktoilette zu zwängen, die man am Morgen danach entleeren darf. Aber zugegeben, in ­Corona-Zeiten, ohne Fernreisen und Hotels, mag manches dafür sprechen, sich mit einem ganzen Hausrat an Bord in der näheren Umgebung sein privates Plätzchen zu suchen. Muss jeder selbst wissen.

Auch Wohnmobile sind eine Umweltsünde. Wo bleibt also der »FCK CMPNGBS«-Sticker?

Bloß, und da betrifft es alle: Die Innenstädte drohen ohnehin schon zu ersticken am motorisierten Individualverkehr, die fahrenden Schrebergartenhütten haben gerade noch gefehlt. In München zum Beispiel haben wir uns an den absurden Umstand gewöhnt, dass 12,15 Prozent der Verkehrsfläche von parkenden Autos besetzt werden, die bis zu 23 Stunden am Tag unbenutzt bleiben. 1,45 Millionen Münchner besitzen 705 476 Autos. Eigentlich müssten wir darüber reden, wie es gelingt, mit weniger Fahrzeugen zu leben. Aber: Viele Nachbarn und auch der Bekannte mit dem Camper namens »Free« haben zugunsten der neuen Vans nicht etwa ihre Autos abgeschafft. Die brauchen sie auch noch. Für die ganz kurzen Wege.

Kein Wunder, dass nun mitten im Campingrausch von Hamburg über Kassel bis nach Augsburg Streit um Wohngebiete verstopfende Wohnmobile gemeldet wird. Die sind im Durchschnitt sieben Meter lang. Entscheidend ist laut Straßenverkehrsordnung aber das Gewicht: Ist ein Wohnmobil nicht schwerer als 7,5 Tonnen – und das gilt für die gängigen Modelle –, darf es abgestellt werden. Nur für Wohnwagen gilt eine Einschränkung: Sie müssen alle zwei Wochen bewegt werden. Abgesehen davon können alle, die davon träumen, der Enge der Stadt zu entfliehen, ihre Städte ganz ungestört immer enger machen mit ihren Schiebetür-Statussymbolen.

Dass die Wohnmobilbesitzer glauben, sie hätten das Recht, ihr raumgreifendes Hobby anderen vor die Haustür und Kindern vor den Fahrradweg zu parken, ist das eine. Das Verkehrsmiteinander, sagen Fachleute, wird auf jeden Fall unsicherer durch die vielen Ungetüme, die Autofahrerinnen wie Fußgängern die Sicht einschränken.

Das andere ist die Doppelmoral, die ebenso fest in die Wohnmobile integriert ist wie das Doppelbett im Heck. In meiner aufgeklärten Gegend sieht man zwar immer mehr Campingbusse, aber so gut wie nie ein SUV. An der Ampel klebt stets ein frischer »FCK SUV«-Sticker. So etwas zu fahren: unvorstellbar für meine Nachbarn. Ein SUV ist böse, gefährlich, dekadent. Den Nachwuchs bringt man freitags im Lastenfahrrad zur Klima-Demo, bevor es mit dem VW-Bus in Richtung Berge geht.

Nur: Ein neuer »Multivan Trendline« mit 150 PS verbraucht auf hundert Kilometern 7,7 Liter Diesel und stößt 203 Gramm CO2 pro Kilometer aus. Zum beliebigen Vergleich: Bei einem Audi SQ8, einem dieser bösen SUV (mit 435 PS), sind es 7,8 Liter Diesel und 205 Gramm CO2. Auch Wohnmobile sind eine Umweltsünde. Wo bleibt also der »FCK CMPNGBS«-Sticker an der Ampel? Besonders schmutzig sind ausgerechnet die mit Hippie-Flair, die alten Rußschleudern, deren Ökobilanz immerhin durch die lange Nutzung verbessert wird.

Aber was reg ich mich auf. Meine Frau sagt, dass man bald günstig an so ein Ding kommen wird. Wenn die vielen Corona-Käufer keine Lust mehr haben auf die teuren Camper, die sie selten nutzen und dumm rumstehen lassen. Dann kaufen wir uns einen gebrauchten Bus und fahren jedes Wochenende mit den Kindern raus aus dieser vollen Drecksstadt.

Korrekturhinweis: In einer vorherigen Fassung des Textes war zu lesen, dass es in Hannover mehr Pkw als Einwohner gibt. Dies ist nicht korrekt. Wir haben die Passage entfernt.