Hier bin ich!

Warum kritzeln so viele Menschen ihren Standort auf Urlaubskarten? Über die geheimnisvolle Angewohnheit, noch eine Kleinigkeit hinzuzufügen.

Als ich ein Kind war, fuhren wir jeden Sommer auf eine Nordseeinsel ins Sommerhaus meiner dänischen Tante. Die Insel sah an ­allen Stellen recht gleich aus: Sand, Strandhafer, Heidekraut, Beton­bunker. Daher gab es nur drei oder vier Postkartenmotive im kleinen Supermarkt in Rindby Strand: den Fähranleger, das historische Reetdach-Dorf mit Frauen in Inseltracht, den breiten Strand, den man mit dem Auto befahren durfte. Außerdem eine Ansicht von schräg oben, ein Luftbild, auf dem man die charakteristische Form der ­Insel aus­machen und dennoch einzelne Sommerhausklumpen sehen ­konnte. Ich war auf der Suche nach einer Ansichtskarte für meine Oma in Koblenz und meinen Schulfreund in Berlin. Meine Mutter nahm die Karte mit der Luftaufnahme von Fanø aus dem Ständer, zeigte mit dem Fingernagel auf eine grün-beigefarbene Region der Karte und sagte: »Da ist unser Haus.« Ich kaufte drei von den Karten, und am Wachstuchtisch im Ferienhaus markierte ich die Stelle, die meine Mutter mir gezeigt hatte, mit einem Kugelschreiber-Kreuz.

Ich weiß nicht mehr, ob ich das Kreuz auf der Rückseite der Karte wiederholt und daneben geschrieben habe: »x Hier bin ich«. Später habe ich das oft gemacht. Sehnsüchtig, von Kreta, an meine Freundin in den USA: »x Ich vermisse dich von hier«. Milde parodistisch, nach meinem Umzug nach Hamburg, ein Alsterpanorama mit einer angekreuzten weißen Harvestehude-Villa, an meine Mutter: »x Hier wohne ich, Abb. ähnlich«. Und einmal habe ich mich nicht nur auf der Ansichtskarte aus New York an meinen Vater markiert, sondern sogar auf der Briefmarke. Ich war für ein paar Nächte bei Freunden von ihm untergekommen, die in einem Hochhaus in der Nähe des UNO-Geländes wohnten, sodass ich auf der UNO-Briefmarke mit kleinstem Kreuz das entsprechende Nachbarge­bäude ankreuzen konnte. Ich hier oben!

Der Schweizer Künstler Alberto Vieceli hat Ansichtskarten gesammelt, auf denen Menschen sich markiert haben, und ein ganzes Buch daraus gemacht: Hello, we are here. Dem Buch sind die Karten auf diesen Seiten entnommen. Aber warum diese Markierungen? Ich habe immer Bücher geliebt, in denen vorn eine Karte abgebildet ist, am besten eine Schatz­karte, und der Schatz ist markiert mit einem Kreuz. Wenn man seinen Standort auf einer Ansichtskarte mit einem Kreuz markiert, ist man selbst der Schatz. Oder der Schatz ist der Ort, an dem man ist. Meiner Oma wollte ich zeigen, guck mal, hier bin ich gerade. Damit sie wusste – das war eine gängige Formulierung in unserer Familie –, wo sie »hindenken« sollte: »Schick mir mal eine Postkarte, dann weiß ich, wo ich hindenken soll.« Und vor meinem Schulfreund wollte ich damit an­geben, an was für einem tollen Ort ich war. Kann sein, dass mir bei der Karte an ihn das Kreuz daher ein bisschen weiter nach links verrückt ist, näher an den Nordseestrand. Vielleicht fünf Milli­meter, also zehn Minuten zu Fuß.

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Ich war damals in der ersten Klasse, es waren meine ersten Postkarten, und ich frage mich, ob es vielleicht das erste Mal war, dass ich eine bildliche Vorstellung davon bekam, wo ich bin in der Welt. Der Psychoanalytiker Jacques Lacan hat im vorigen Jahrhundert den Begriff des Spiegelstadiums geprägt. Das ist der Moment der Ich-Werdung, wenn das Kind sich zum ersten Mal im Spiegel wahrnimmt, als eigenes Wesen, getrennt von Mutter und Vater. Vielleicht folgt darauf einige Jahre später die Postkartenkreuz­phase: wenn einem klar wird, wie groß die Welt ist und wie klein man selbst, aber dass man einen Ort darin hat, und der ist hier, x. Jedenfalls habe ich damals die dritte Postkarte mit dem Luftbild und meinem Kugelschreiberkreuz mit nach Hause genommen und über mein Bett gehängt, weil es schön war, sich vorzustellen, ich wäre immer noch ein bisschen dort.

Wie immer, wenn es um die Post geht, umweht all das so ein bisschen der Hauch der guten alten Zeit: Damals, als es noch so ­romantische Dinge wie Ansichtskartenkreuze und mich an Wachstuchtischen gab. Aber ich lese, dass 2017 in Deutschland noch ­195 Millionen Postkarten verschickt wurden. Das können nicht ­alles vorgedruckte Geburtstagsglückwünsche von Dentalhygiene-Praxen gewesen sein, denn laut einer anderen Umfrage von 2019 versenden immer noch 55 Prozent der Deutschen Ansichtskarten aus dem Urlaub. Bitte vergesst dabei die Kreuze nicht. Damit wir wissen, wo wir hindenken sollen.