Das Rezept gegen Platznot konnte nur in Hongkong erfunden werden. Die Stadt platzt aus allen Nähten, Hochhäuser werden nach dreißig Jahren abgerissen, weil höhere noch mehr Rendite bringen; auf den Hochhausdächern leben Menschen in Bambushütten, und die Stadtverwaltung duldet das. So wenig Wohnraum wie in Hongkong gibt es nirgendwo sonst auf der Welt. Zwei Quadratmeter sollen die kleinsten Einzimmer-Apartments klein sein.
Gary Chang wohnt vergleichsweise luxuriös: 30,7 Quadratmeter ist sein Apartment groß und eigentlich hat es 24 verschiedene Zimmer – versteckt, verräumt, aufklappbar. Sobald er eines seiner Zimmer braucht, drückt er seine Fernbedienung, verschiebt eine Wand, zieht zwei, drei Hebel, drückt einen Knopf, und schon steht er in seiner Küche.
Chang erklärt: »Die Leute in Hongkong fühlen sich wie im Gefängnis. Wir müssen Möglichkeiten finden, auf engstem Raum miteinander zu leben.« Changs Rezept gegen die Platznot heißt: Räume transformieren. Sein Apartment funktioniert wie eine menschengroße Brieftasche. Alles kann weggeklappt werden. Auch die Wandeinheiten selbst können verschoben werden, die Wände hängen in Stahlschienen an der Decke. Man muss wissen, wie man die Module ausklappt, um das Apartment zu verwandeln – in Küche, Bücherei, Büro, Wäschezimmer, Ankleidezimmer, Gym, Videospielraum mit großer Leinwand, Bad, Musikzimmer mit wandhohem CD-Regal, Esszimmer und Bar. Auch auf Badewanne, Dampfbad und beheizte Klobrille muss Chang nicht verzichten. Ein Gästebett hängt über der Badewanne.
Das Apartment liegt in einem Hochhaus mit 370 Wohnungen, 17 Stockwerke hoch in Sai Wan Ho auf Hongkong Island, das ist eine Arbeiterwohngegend mit vielen Wohnblocks aus den Sechzigerjahren. Nicht schön, aber ganz nahe am Zentrum und an Changs Büro. Die Wohnblocks stehen eng zusammen, deswegen hat Chang goldgelbe Plastikblenden vor die Fenster geklebt, die simulieren den ganzen Tag das einfallende Licht kurz vor Sonnenuntergang.
Gary Chang ist 50 Jahre alt. Er war 14, als er mit seiner Familie in diese Wohnung einzog, seinen Eltern und drei jüngeren Geschwistern. Das Apartment war damals unterteilt: drei winzige Schlafzimmer, eine Küche, ein Bad, ein Gang, alles auf den 30,7 Quadratmetern, die Chang heute für sich allein hat. Damals teilten sich seine drei Geschwister ein Schlafzimmer, eines besaßen die Eltern und eines vermieteten sie an eine junge Frau. Chang schlief auf einer Ausziehcouch im Gang. Seine Nachbarn wohnen heute noch mit ebenso großen Familien auf der gleichen Fläche.
1988 konnten sich seine Eltern eine größere Wohnung leisten. Die Mutter überredete den Sohn, das bisherige Apartment allein zu übernehmen, die Miete war so günstig, aber Chang beschloss, es für 38 000 Euro zu kaufen. Er hatte inzwischen Architektur studiert und riss gleich einmal die Wände heraus. Ein neues Apartment in einer besseren Gegend hätte weniger gekostet als die Umbauten, allein für die letzte Renovierung gab er 200 000 Euro aus.
Das Experiment dauert nun schon dreißig Jahre an. Chang hat ein Buch über seine Erfahrungen geschrieben. Er hat Leute von Wohnungsbaugesellschaften eingeladen, damit sie sich bei ihm zu Hause umsehen. Architekten aus der ganzen Welt besuchen ihn. Chang veranstaltet im Schnitt eine Führung pro Woche. Er ist heute Spezialist für Platznot, er baut in Hongkong und Peking; auch in Japan, Europa und im Mittleren Osten sind seine Ideen gefragt. Er entwirft Wohnungen, Läden, Büros, Clubs und Flugzeugkabinen. Vor zwei Jahren hat er in Viareggio das Innere einer Luxusyacht neu designt, sie war nur wenig größer als seine Wohnung in Hongkong. Chang ist auch besessen von Hotels. Er entwirft sie und er führt Buch, in wie vielen Hotels er selbst auf der ganzen Welt geschlafen hat, es sind an die 800 bisher. Wenn er eine Woche in New York ist, wechselt er mitunter jede Nacht das Hotel, sicherlich aber das Zimmer. Flexibles Wohnen heißt seine Devise, und Chang arbeitet auch flexibel: Sechs Monate im Jahr ist er auf Reisen und hält Vorträge, sein Apartment überwacht er dann mit einer Webcam.
Hongkong war einst berühmt für seine geringe Kriminalitätsrate. Doch die steigt. Es wird ja immer enger.
(Fotos: Frank Bauer für Audi AG)