Au-weia

Früher kamen Au-pair-Mädchen aus Frankreich, heute kommen sie aus der Mongolei. Kann das gut gehen?

Au-pair – das klang für Tenja aufregend, nach Sehenswürdigkeiten, Abenteuer, Straßencafés und weiter Welt. Sie hatte in Georgien an der Schule etwas Deutsch gelernt und wollte nun, mit knapp 19, das erste Mal in ein anderes Land. Sie könnte ihre Sprachkenntnisse verbessern, dachte sie. Aber noch mehr hoffte Tenja, dass dort eine Zukunft auf sie wartete, die sie sich in ihren Träumen so bunt wie in einem Magazin ausmalte. Als sie endlich am Münchner Hauptbahnhof stand, mit zwei Koffern, einem Wörterbuch und klopfendem Herzen, wartete niemand auf sie, um sie abzuholen. Es wurde schon fast dunkel, als sie mit Bahn und Bus an der Adresse am Starnberger See ankam. Alles war so fremd und kalt. »Ich hatte Heimweh«, erzählt Tenja. Das Haus sah mit dem tiefen Dach bedrohlich wie ein riesiger, dunkler Pilz aus. Als sie klingelte, schwirrte eine Frau in Pelz und Hausschuhen über den Garten herbei. Man hatte das Au-pair doch erst am nächsten Tag erwartet! An der Haustür lehnte ein kleiner blonder Junge und blickte so ernst, als sei er der Herrscher eines großen Reiches, den Hang hinab. »Die Familie ist wie ein Kinofilm«, sagt Tenja zwei Wochen nach ihrer Ankunft. Sie sieht müde aus. Vielleicht liegt es nur daran, dass alles so anders ist, diese lockere Art der Kindererziehung, der ganze Haushalt. Auch in Georgien hat man Hunde, aber bei den Schmidts schlafen die Hunde in den Betten. Der Sohn, acht Jahre alt, sei ein kleiner Tyrann. »Du bist mein Au-pair, ich will Pizza!« Über das Wohnzimmer verteilt stehen Vasen mit weißen Lilien, erzählt sie, die so stark duften, dass ihr schwindelig wird. Als sie kürzlich die abgefallenen Blätter wegwischte, hörte sie einen entsetzten Schrei von der Frau des Hauses: »Oh Gott, mein Arrangement!« Tenja notierte ein neues fremdes Wort für ihren Sprachkurs unter ihren letzten Eintragungen: Staubsaugerbeutel, Artischocken, Einsamkeit. Früher kamen Au-pairs aus Frankreich, Spanien oder Italien, um ein anderes Land zu sehen und die Sprache zu lernen. Mit dem Begriff Au-pair waren so hochfliegende Erwartungen wie mit dem Beruf der Stewardess verbunden. Doch wer heute Auslandserfahrung sammeln will, macht eher ein Praktikum, das im Lebenslauf mehr zählt als Kinderbetreuung und Sprachkenntnisse mit 18. Au-pair scheint nun nur noch ein altmodisches Wort für einen riesigen Markt zu sein, der jungen Frauen aus Ländern, die nicht zur EU gehören, ein Visum ermöglicht. Und Eltern eine günstige Kinderbetreuung. Es gibt inzwischen Hunderte von Anbietern im Internet, die eine schnelle Suche versprechen. Auf aupair-world.net beispielsweise kann man sich die Profile von mehr als 9000 jungen Frauen weltweit zeigen lassen, die natürlich und auch gern viel im Haushalt helfen. Die Online-Agenturen verlangen Vermittlungsgebühren bis zu 2000 Euro, wenn der Flug inklusive sein soll. Auch die Au-pairs müssen bei einigen Anbietern schon allein für das Inserat zahlen. Denn Angebot und Nachfrage sind groß. Die Familie Fischer im Bogenhauser Villenviertel hatte schon viele Au-pairs. Waren es elf? Aus Russland, Peru oder Polen. Mit Kindern und zwei Berufen eine Notwendigkeit, eine andere tägliche Kinderbetreuung wäre viel zu teuer gewesen. Aber natürlich gab es immer ein Risiko: »Man lebt mit einer völlig Fremden unter einem Dach.« Ihr letztes Au-pair kam aus Sizilien, war mit 30 Nagellack-Fläschchen angereist und klaute im Haushalt seltsame Dinge wie Strohhalme, kaputtes Kinderspielzeug oder Skiwachs. »Anna war unheimlich.« Und dann kam Maria. Maria liebte die Sonne, sie badete gern nackt im Englischen Garten oder ging ins Solarium. Sie kam aus Sofia, aber eigentlich wollte sie nicht im Haushalt helfen, sondern ein Filmstar werden. Ihr Wortschatz stammte aus Fernsehserien, in denen es selten um die Schule oder Spielen ging, also schwieg Maria meist und träumte. Die drei Kinder im Alter von vier bis zehn gewöhnten sich an Maria, die das Badezimmer oft lange blockierte, um sich zu schminken. Aber dafür kochte sie gern Nudeln mit Ketchup. Als dann der vierte Junge zur Welt kam und die Familie Fischer froh über jede Hilfe war, gab es für »die schweigsame Maria« eine neue Aufgabe: »Ich gehen spazieren«, sagte sie und schob das Baby, mit dem man noch nicht viel sprechen musste, im Kinderwagen wortlos an die frische Luft. Aber meist hatten die Fischers Glück. Zum Beispiel mit Linda aus Russland, eine Lehrerin, die bereits 24 war und wie eine große Schwester in der Familie lebte. Man fuhr gemeinsam in den Urlaub oder mit dem Fahrrad an den See. Sie sprang mit den Kindern im Garten umher und kannte tolle Geistergeschichten. Als Linda sich verliebte und dann auszog, heulte der kleine Max zwei Nächte. Sie brauchten ein neues Au-pair. Die Fischers suchten im Internet, telefonierten über Wochen hinweg mit den Bewerberinnen. »Man hört dann, ob eine Dolmetscherin danebensitzt und Sätze wie ›Ich mag Kinder‹ einflüstert.« Bei einem Mädchen aus Albanien war jedes Mal eine andere weibliche Stimme am Telefon, die sich auf Englisch meldete; sie sei Alket und wolle Au-pair werden. Man entschied sich dann doch für eine Mongolin, die als Referenz neben großer Erfahrung im Babysitten schrieb, sie arbeite für ein Gothic-Szene-Magazin. Man musste sie öfter leicht angetrunken in der Disco abholen, weil sie im Dunklen nicht nach Hause fand.

»Die meisten Au-pairs kommen heute aus der Ukraine, Russland, Georgien«, sagt Patricia Brunner von der Agentur Au-pair Society. Die Agentur betreut Eltern und Au-pairs, wenn es Probleme gibt. Wenn zwei Welten und unterschiedliche Erwartungen aufeinandertreffen. Denn die jungen Frauen müssen sich erst an die andere Kultur und Kindererziehung gewöhnen. Sie sind jung, haben Träume. Die Familien erwarten aber oft eine erwachsene Hilfskraft, die sich mit Kindern und Kochen auskennt. Oft hört Patricia Brunner das Argument: »Wir brauchen nicht noch einen Teenager im Haus.« Beim Verein für Internationale Jugendarbeit heißt es, manche Gastfamilien würden Au-pairs als billige Kinderbetreuung und Haushaltshilfe missverstehen. Der Bedarf, vor allem bei berufstätigen Frauen und allein erziehenden Müttern, sei enorm. Immer öfter klagen Au-pairs über lange Arbeitszeiten und schlechte Unterbringung. Manchmal kämen vor allem junge Frauen aus Osteuropa mit der falschen Hoffnung an, dass der Aufenthalt nur ein Sprungbrett sei, um in Deutschland zu bleiben. Zehn Jahre lang hatte sie Au-pairs, erzählt eine berufstätige Mutter, zuletzt kamen die meisten aus Osteuropa. Da gab es Geschichten! In den ersten Jahren waren die Au-pairs noch aus Amerika und Frankreich. Selbstbewusste junge Frauen, die sich nicht viel sagen ließen und sich fern der Heimat und Eltern vergnügen wollten. Einmal kam sie überraschend früh von der Arbeit nach Hause. Das französische Au-pair saß gelangweilt am Küchentisch und hauchte gerade über ihre Zeitschrift gebeugt hinweg: »Ludwig, Vorsischt, die Wasser siehdet« – während der Kleine wild an dem Herd rüttelte, auf dem das Nudelwasser kochte. Die Mädchen aus Osteuropa waren fleißig, aber oft auch unsicher. Viele Tassen und Teller zerbrachen, es gab Tränen und Türenknallen. Das erste Au-pair aus Polen brachte anfangs ihren Vater mit, der sich wunderte, dass man hier einen alten Volvo fährt, keine Schrankwand hat – und Spargel? Das ist doch ein Armeleuteessen. Ein anderes Au-pair aus Bukarest blieb nur ein paar Wochen, um dann zu heiraten, denn sie war schon einem Mann in Heidelberg versprochen. Wie viele Fischstäbchen und Nudeln mit Salami-Tomaten-Sauce ihre Kinder in der ganzen Zeit wohl gegessen haben? Es war natürlich ein Vorteil, wenn man nicht bei jeder Gelegenheit einen Babysitter brauchte. Die Kinder lernten andere Sitten und Gebräuche, etwa dass das Essen eine Seele hat oder Frösche viel Glück bringen. Aber der kleine Ludwig lernte auch den polnischen Akzent. »Wo Petrrra sein? Oh Petrrra geheht zur Fluss!« Der Sprachkurs an der Münchner Volkshochschule ist ein Treffpunkt der Au-pairs. Es wird gelacht, geraucht und Schokolade gegessen. Der Lehrer Christoph Ulreich lässt die Mädchen über ihr Leben schreiben, denn viele seien einsam und isoliert; hier können sie sich austauschen. In den Hausaufsätzen kommen Geschichten zum Vorschein, die von kalten Zimmern und hysterischen Müttern handeln. Heyon aus Korea etwa, die mit 17 von zu Hause wegging, ein Jahr bei Mönchen im Tempel lebte und im Winter als Au-pair mit Sandalen in Deutschland ankam, schreibt über ihre erste Gastfamilie: »Später habe ich erfahren, dass man auf Deutsch eine unfreundliche Frau auch einen Besen nennt. Ich bin mir sicher, dass diese Frau auch einer dieser Besen war. Ein unhöflicher Mann ist übrigens kein Besen.« Laut Statistik kommen im Jahr 30 000 Au-pairs nach Deutschland. Aber vermutlich sind es viel mehr. Seit 2002 brauchen Au-pair-Agenturen keine Lizenz vom Arbeitsamt für eine Vermittlung und müssen sich somit nicht an Richtlinien halten. Manche Internetanbieter, die mit Mädchen global und schnell handeln, als seien sie Produkte, überlassen die Au-pairs nach der Vermittlung allein ihrem Schicksal. Nur manchmal wird dieses Thema öffentlich. Wie im Fall von Ramona Radulovici, der kurzzeitig Aufsehen erregte. Das Mädchen hatte sich im Heizungskeller ihrer fränkischen Gastfamilie mit dem Seil einer Kinderschaukel erhängt. Bei den Ermittlungen stellte sich heraus, dass die Familie über Jahre hinweg Au-pairs aus Osteuropa ohne Papiere beschäftigt und ausgebeutet hatte. Seit zwei Jahren gibt es nun das »RAL-Gütesiegel« von seriösen Agenturen, die Standards wie mindestens 260 Euro Taschengeld, Krankenversicherung, Visum, Sprachkurs einhalten und bei Schwierigkeiten erreichbar sind. Tenja hat ein neues Lieblingswort. Es heißt »Latte Macchiato«. Von ihrem ersten Au-pair-Gehalt könnte sie sich fast hundert kaufen, das hat sie sich ausgerechnet. Sie könnte einfach nur im Café sitzen, sagt sie, wie so viele andere Menschen in der Stadt, und dann von ihrer Zukunft träumen: Wie sie als eine »völlig andere« nach Georgien zurückgeht. Selbstständig, erfahren. Warum nicht? Sie kann eine Fremdsprache und besucht vielleicht bald eine Wirtschaftsschule. Sie würde nicht mehr bei ihren Eltern wohnen und auf eine Hochzeit warten. Sie würde sich Schuhe kaufen, die so teuer sind wie das Geld, das ihr nun einen Monat lang reichen muss. An diesem Nachmittag reicht es nur noch für einen Kaffee und einen neuen Schreibblock, für Wörter, aus denen Träume entstehen.