»Ohne ein gewisses Maß an Arroganz hält man das nicht aus«

Franz Müntefering war Parteivorsitzender der SPD, dann wurde er Arbeitsminister und Vizekanzler. Hier zieht er Bilanz - nach 40 Jahren in der Politik.

SZ-Magazin: Herr Müntefering, wir wollen über Politik reden, aber vor allem über Sie. Ist Ihnen das unangenehm?
Franz Müntefering:
Nein, kann man ja nicht trennen.

Ursula von der Leyen hat auf die Frage, was sie in Berlin am meisten überrascht hat, geantwortet: Franz Müntefering. Sie seien ernsthaft und lernwillig.
Stimmt – wobei mir noch mehr einfallen würde (lacht). Politiker sind oft anders, als der politische Gegner das vermutet. In so einer Großen Koalition ist das schon ein Erlebnis, besonders im Kabinett, weil wir uns da authentischer erleben als sonst. Was sagt Ihnen das über Ihr Image, dass jemand von außen Sie nach persönlichem Erleben viel positiver findet?
Das ist nicht neu für mich. Wenn ich auf einer Versammlung bin, unter Menschen, die mich nicht kennen, dann gibt es immer zwei Feststellungen. Erstens: Ich bin kleiner, als sie gedacht haben. 1,76 – was soll ich machen? Und zweitens: Dass ich freundlicher bin, als sie gedacht haben. Ich glaube, dass ich durch meine Art und durch die Physiognomie Kantigkeit und manchmal auch Strenge ausstrahle. Ich habe darüber auch mal mit jemandem gesprochen, der davon etwas versteht, einem Professor oder so. Ich hab gesagt: Muss ich da was ändern? Der hat gesagt: Tun Sie das nicht. Bleiben Sie original. Der hatte recht.

Von Ihnen stammt der Satz: »Mir ist wirklich egal, was andere von mir denken.«
Ich kann Meinungen, die über mich geäußert werden – vor allem natürlich schlechte –, relativ leicht verdrängen und sagen: Na gut, die irren sich. Da schwingt ein gewisses Maß an Arroganz mit, das ich habe. Aber man hält das ja sonst auch nicht aus.In den vielen Porträts, die über Sie verfasst wurden, finden sich Beschreibungen wie »geheimnisvoll, unnahbar, undurchschaubar, emotionslos, eiskalt«.
Ach, das sind so Etiketten. Ich glaube nicht, dass ich so bin. Was ich weiß, ist, dass ich kühl, dass ich distanziert sein kann. Dass ich einer bin, der in Freundschaftssachen eher zurückhaltend ist. Da gab’s ja auch die Sache mit Gerd Schröder.

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Er sagte in einem Doppelinterview, er hätte Sie gern zum Freund. Sie haben geantwortet: Ich bin nicht so der Kumpeltyp.
Das war nicht böse gemeint. Darüber habe ich schon manches Mal nachgedacht. Vielleicht würde ja ein Psychologe sagen: Das liegt daran, dass er ein Einzelkind ist. Und ich habe meinen Vater erst kennengelernt, als ich sechseinhalb war. Da kam der aus dem Krieg zurück. Und ich hatte einen sehr guten Freund, aber der ist mit 32 tödlich verunglückt. So etwas ist nie wieder aufgetaucht. Ich war meistens ein Alleiner. Da ist eine gewisse Zurückhaltung bei mir.

Was war das Besondere an diesem Freund?
Wir waren gleich alt, sind zusammen in den Kindergarten und in dieselbe Schulklasse gegangen. Wir haben uns abgenabelt aus der gesellschaftlichen Struktur, in der wir groß geworden sind. In unserer Buchhandlung konnte man Rowohlt-Taschenbücher nicht kaufen, weil das ein linker Verlag war. In der Nachbarstadt durfte Sartre nicht gespielt werden, weil der ein Kommunist war. Das ist alles original Bundesrepublik 1960 bis 65. Das war viel Mief.

Wie sah das »Abnabeln« aus?
Ich las Pardon, die damals neue, linke Zeitschrift. Ich war Ur-Abonnent, die Urkunde hab ich noch. Man las Konkret, Die Zeit und hörte WDR III. Das haben wir alles zusammen gemacht. Ich wusste: Wenn was ist, kann ich mit dem reden. Als ich das erste Mal Kandidat für den Bundestag werden wollte, habe ich verloren. 52:48 oder so. Ich bin dann zu diesem Freund gefahren und hab mich mit dem besprochen. Wir haben auf der Treppe im Haus gesessen. Das hat eine halbe Stunde gedauert, und dann war das okay. Das Jahr danach ist er verunglückt.

Sie sagen, so einen Freund hatten Sie nie wieder. Hatten Sie Angst, so eine tragische Geschichte könnte sich wiederholen?
Vielleicht, ja. Aber es mag auch an der Politik gelegen haben. Man ist ausgefüllt mit der Arbeit, hat immer Leute um sich. Aber das ist eine Sache, die mich schon beschäftigt. Wenn man mal nicht mehr im Betrieb ist – wen hat man eigentlich?

Sie sind ein schlechter Freundschaftenpfleger?
Kann sein. Ich sehe das übrigens nicht als Tugend an. Es mag schon sein, dass ich da eine spezielle Macke habe. Aber letzten Endes ist ja jeder auf sich selbst zurückgeworfen.

Aber zu Ihrer Frau haben Sie doch ein besonderes Verhältnis.
Ja klar. Ich habe sie lieben gelernt in der Politik. Ein Kumpel, mit dem man Pferde stehlen kann. Und dann kam ihre Krankheit, die uns schon einige Jahre begleitet.

Ihre Frau wirkt immer sehr stolz auf ihren Franz.
Weiß ich nicht – jedenfalls: Wenn ich in öffentlichen Veranstaltungen bin und sie ist dabei, dann kommt sie nahe, weil sie sich dazwischenwerfen will, falls irgendeiner mich angreift. Sie macht mich sicherer.

Sie haben gerade selbst die Krankheit angesprochen: Ist es richtig, dass Sie mal überlegt haben, zugunsten Ihrer Frau mit der Politik aufzuhören?
Das war 2002, als es das erste Mal mit aller Wucht kam. Da habe ich natürlich überlegt: Was machen wir jetzt eigentlich? Aber ich glaube, es war für uns beide besser zu sagen: Man macht weiter.

Hätten Sie die Politik wirklich sein lassen, wenn sie darum gebeten hätte?
Ich weiß es nicht. Da hätte man sicher noch mal darüber gesprochen. Wir besprechen immer, was für uns miteinander das Beste ist.

Als es Ihrer Frau wieder besser ging, haben auch Sie neuen politischen Elan entwickelt.
Das versucht man zu trennen, aber das gelingt natürlich nicht. Das ist etwas, was einen belastet, was einen auch anstrengt, was einen müde macht, weshalb man zu wenig schläft. Wenn man Sorgen hat. Für mich war 2002, das Jahr der Bundestagswahl, eigentlich das schwerste. Damals habe ich viel Verständnis gefunden bei Gerd Schröder. Wir haben nicht oft darüber gesprochen, aber der ist in solchen Sachen empfindsamer als ich. 2002, das war dieser ganze Prozess der Krankheit und der Genesung. Und es war Wahlkampf. Und am Ende tauchte dann noch die Agenda 2010 am Horizont auf. Das war ein sagenhaft anstrengendes Jahr für mich. Aber: Bin gut durchgekommen.

Ihr Elternhaus war sehr katholisch. Sind Sie religiös?
Ich bin Mitglied der Kirche, aber kein Kirchgänger. Ich glaube, dass mir das als Kind viel gegeben und mir gutgetan hat. Die Ideen von Liebe, Nächstenliebe, Barmherzigkeit oder Solidarität habe ich dort gelernt. Heute gehe ich damit politisch um. Kirche und Religion sehe ich mit Sympathie, aber eher aus der Entfernung.

Zur christlichen Botschaft oder zur Institution?
Die Werte, die da vermittelt werden, finde ich gut, unverändert. Inzwischen habe ich aber erlebt, dass es auch viele andere Religionen gibt, die gleichen Respekt verdienen. Diese Idee des Alleinseligmachenden ist etwas, was man hinter sich lässt. Das relativiert manches und macht auch freier.

Sie haben in Ihrer Jugend Fußball gespielt, aber von einem auf den anderen Tag aufgehört.
Ich hatte noch ein paar Wochen vorher neue Fußballschuhe bekommen: schön flach, keine mehr mit einer Stahlkappe. Wir spielten gegen Sportfreunde Neheim. Ich habe vor dem Spiel gesagt: Wenn wir nicht gewinnen, dann höre ich auf. Wir haben 1:1 gespielt. Es hat mir leidgetan, aber ich habe es trotzdem gemacht. Aus.

Diese Anekdote haben Sie später, am Tag nach Ihrem Rücktritt als SPD-Chef, erzählt. Sie hatten hingeworfen, weil die Partei nicht so wollte wie Sie. Sind Sie ein sturer Knochen?
Eigentlich sage ich immer: Konsequent sein können nur Heilige und Verbrecher; die anderen müssen gucken, dass sie irgendwie durchkommen. Aber ich gebe zu, dass ich auch so eine Neigung zur klaren Kante habe. Ich versuche lange, mich nicht endgültig festzulegen. Aber wenn ich es gemacht habe, dann will ich auch nicht wieder runter. Dafür verdiene ich nicht nur Ruhm, sondern auch Asche auf mein Haupt. Das weiß ich schon.

Gibt es für diese Sturheit noch Beispiele?
Banale, zum Beispiel: Wenn ich kalt dusche, zähle ich bis hundert. Ich gehe nicht eher drunter weg.

Wie sind Sie zur Politik gekommen?
Aus dem Willen heraus, Bescheid zu wissen und mich einmischen zu können. Das war ein erster Schub in meinem Leben. Ich habe lange eine Art Doppelleben geführt. Ich hab gearbeitet, brav in der Firma. Daneben habe ich wie verrückt gelesen und gelernt – ohne eigentlich zu wissen, wohin und wofür.

Woher kamen die Anregungen?
Nicht von zu Hause. Ich habe meinen Vater nie mit einem Buch gesehen – außer dem Gesangbuch sonntags. Meine Mutter hat Lore-Romane gelesen. WDR, drittes Programm, das war eigentlich meine Heimvolkshochschule. Ich hab Dostojewski gehört, Raskolnikow‚ Schuld und Sühne. Meine Mutter hat das mitbekommen, hat gesagt: Mach das nicht, das ist ganz gefährlich. Das führt irgendwo in Untiefen, in Zweifel, in Sinnkrisen, in Unglück. Aber mich hat das interessiert: Was ist eigentlich der Sinn? Was ist die Wahrheit über das Leben? Was ist wirklich wichtig?

Klingt eher nach Philosophie als nach Politik.
Kein Gegensatz. 1965 ist meine erste Tochter geboren, und die SPD hat die Wahl verloren. Da habe ich gesagt: So kann das nicht weitergehen. Mit mir nicht und mit denen nicht. Und dann bin ich da hin. Es sind nicht wenige und nicht die Schlechtesten, die in Situationen zu Parteien gehen, wenn es denen schlecht geht und wo man sagt: Jetzt musst du selbst was tun. Alle Türen waren offen. Da habe ich begriffen: Wer was verändern will, der kann das in dieser Gesellschaft.

Gilt das heute noch?
Klar. Manche Philosophen sagen: Es gibt keinen Fortschritt. Ich sage: Versuchen wir es trotzdem. Das Paradies auf Erden wird’s nicht geben, den neuen Menschen auch nicht. Aber man kann verhindern, dass es schlimmer wird, und man kann erreichen, dass es etwas besser wird. Das ist Politik. Die politische Linke hat sich Gott sei Dank von der Illusion getrennt, es gebe so etwas wie eine automatische Entwicklung in der Gesellschaft, die zum Guten führt. Das waren alles Irrtümer. Das liegt hinter uns. Man weiß, dass man darum kämpfen muss. Immer wieder. Wie Sisyphus. Aber der war bekanntlich glücklich.

In der SPD heißt es inzwischen, Sie kämpften da ohne Rücksicht auf die Partei.
Nein, mit und für meine Partei, die ich mag, die ich toll finde. Was ich möchte, ist, dass diese SPD versteht, dass sie sich verändern muss, dass es Stillstand nicht gibt, dass das Leben ein Prozess ist. Das Festhalten an dieser schönen Zeit, wo wir groß und stark waren und alle zu uns gekommen sind – Willy wählen, alles wunderbar –, das ist falsch, und eigentlich ist es ein Vergehen an der Partei und an ihrer Idee.

Nimmt denn diese Sehnsucht nach der Vergangenheit wieder zu?
Das liegt in unseren Genen. Aber man darf dem nicht nachgeben. Die SPD hat eine historische Schwäche. Wir waren die Opposition, die »vaterlandslosen Gesellen«. Die wurden bekämpft von Staat, von Kirche, von der Reichswehr. Das hat eine Mentalität geschaffen: Den anderen gehört eigentlich das Land. Das begleitet uns oft. Wenn ein Sozi Kanzler ist, dann sagen die Konservativen: Das ist ein historischer Irrtum. Aber schlimmer ist, wenn sogar die Sozis sagen, es sei normal, dass die anderen regieren. Diese Mentalität, die behindert uns. Die eigentliche Verantwortung beginnt bei der Handlungsbereitschaft. Nicht beim Besser-Wissen, sondern beim Besser-Machen. Man muss das Land regieren wollen, und zwar nicht als Rotkreuzwagen, der die Mühseligen und Beladenen auflädt. Das muss alles auch sein, ich verspotte das nicht, im Gegenteil. Aber die SPD muss sagen: Wir machen das Ganze besser. Nicht nur: Wir machen Sozialpolitik besser.

Heißt das, ein Politiker kann nicht immer nur ein guter Mensch sein?
Das kann keiner. Wir fühlen uns am wohlsten, wenn wir unter uns sind: auf Parteitagen, mit Fahnen und Liedern. Auch ich mag das – säkularisierte Kirche. Und wir sind die Verfolgten mit den guten Absichten. Das reicht aber nicht. Es passiert nichts Gutes. Außer: Man tut es.

Haben Sie dieses Verhalten an sich selbst auch bemerkt?
Na klar. Weil das edler und schöner ist, Menschen zu helfen, als zu sagen: Also, wir hatten eine schlechte Ernte und es gibt weniger zu essen. Aber das muss ich jetzt machen, weil ich, weil wir als SPD, die Verantwortung für jetzt und später, für das Ganze haben – und auch haben wollen müssen. Das ist auch meine Kritik an Teilen der Gewerkschaften, dass sie das nicht sehen wollen.

Sie kommen aus einem konservativen Umfeld, sind ein Autodidakt wie Joschka Fischer. Warum sind Sie kein 68er geworden?
Vielleicht weil ich damals schon Familie hatte und Verantwortung und im Sauerland saß. Sonst hätte es auch sein können, dass ich mich ausgeklinkt hätte und irgendwo gescheitert wäre. Ich habe schon auch die Lust gekannt, einfach alles scheiße zu finden. Aber ich war nie renitent. Eher unexaltiert.

Sie waren bei der Bundeswehr. Eine bewusste Entscheidung?
Ja. Ich war nie Pazifist. Ich hab immer gesagt: Man muss sich wehren können. Ich glaube, dass es, solange es Menschen gibt, den Kain geben wird. Dann muss es aber auch jemanden geben, der dem in den Arm fällt, damit er den Abel nicht erschlägt.

Was hat Ihr Vater dazu gesagt?
Er war skeptisch. Das war die Generation, die fühlte sich durch den Krieg beschissen von der Politik. Mein Vater war von 1940, als ich geboren wurde, bis 1946 weg, zum Schluss in Bengasi in Gefangenschaft. Sechseinhalb Jahre des Lebens verloren. Das hat geprägt. Aber sie müssen auch die Situation Anfang der Sechzigerjahre sehen: Kalter Krieg. Ich war bei der Bundeswehr, als die Mauer gebaut wurde, Osterode im Harz. Das waren zehn Kilometer zur Grenze.

Waffengattung?
Panzergrenadier. Da muss man viel laufen. Ich war sportlich gut drauf. Das war eine interessante Zeit. Lehrreich. Strauß war Verteidigungsminister, und ich habe ihm Briefe geschrieben: Er soll endlich diese Starfighter wegnehmen, zu gefährlich. Ich musste dann zum Bataillonskommandeur, der mir verboten hat, Briefe an den Minister zu schreiben. Er hat gesagt: Das geht über den Dienstweg hier bei uns, klar? Ich hab gesagt: Jawohl! Bin wieder auf meine Bude gegangen, habe dem Strauß einen Brief geschrieben: Dieser Kommandeur sei besoffen gewesen und er solle sich mal um den kümmern.

Wie war es dann, als Politiker selbst Soldaten ins Ausland zu schicken?
Der Balkan-Krieg war für mich eine ganz schwierige Erfahrung. Ich hatte bis dahin immer gesagt: Sich wehren können heißt ja nicht, dass man kämpfen muss. Und ich habe meinen Vater zitiert: Nie wieder deutsche Stiefel auf dem Balkan. Dann war klar, dass wir doch auf den Balkan müssten, um noch Schlimmeres zu verhindern. Das hat mich umgetrieben. Im Nachhinein glaube ich: Wir haben es eher zu spät getan.

Sie haben vorhin von einem ersten Schub im politischen Leben gesprochen. Wann kam der zweite?
1985. Da sind meine Eltern gestorben, beide, innerhalb eines Vierteljahres. Und man macht die Erfahrung: So, jetzt bist du alleine. Die Eltern mögen alt gewesen sein. Aber sie waren da. Jetzt plötzlich zack, Vorhang weg – und jetzt bist du auf der Bühne. Dann habe ich meine zweite Frau kennengelernt. Wenn ich zurückschaue, sehe ich: In dieser Zeit fiel die Entscheidung. Die gingen alle weg vorne: die Wehners und die Brandts und die Vogels und die Schmidts. Und ich habe mir gesagt: Du kannst was. Misch dich ein.

Sie haben Brandts Enkeln gedient: Scharping, Lafontaine, Schröder – drei Männer, die sich gegenseitig bekämpft haben. Wie ging das?
(Lacht) Also damals, in einem Moment des Übermuts, hätte ich denken können: ein Erwachsener unter Halbstarken. Es kam anders.

Aber hat es diese Halbstarken nicht auch gebraucht, damit die SPD wieder an die Macht kommen konnte?
Ja. Das ist so, ganz klar: Alle drei haben Verdienste. Gerd Schröder besonders. Er hat sich durchgesetzt. Lafontaine hat immer gezögert. Das war nur Reden, mehr nicht. Schröder hat es dann getan. Der hatte diesen Willen – auch zur Macht. Er war der Erste seit Helmut Schmidt, der gesagt hat: Wir können das mindestens genauso gut wie die Konservativen. Gerd Schröder hat Weichen gestellt. In die richtige Richtung.

Müntefering und Schröder, das ist die Geschichte einer Annäherung. Wie hat sich das aus Ihrer Sicht zugetragen?
Wir haben 1998 die Bundestagswahl gewonnen und begonnen zu regieren – ich will nicht sagen leichtfertig, aber in großer Fröhlichkeit.

Sie auch?
Ich mache das nicht mit Sektglas in der Hand. Ich habe aber schon geglaubt: Wenn wir das jetzt machen, dann kann das recht locker in eine vernünftige Richtung gehen. Nach der Bundestagswahl 2002, als alles einfach so weitergehen sollte, hatte ich das Gefühl, dass das nicht verantwortbar sei. Wir haben darüber gesprochen: Schröder, Eichel, Steinmeier, andere auch. Wir hatten unterschiedliche Vorstellungen, ganz klar. Und dann kam der 14. März. Das war der Tag der Agenda-Rede. Das war meine Damaskus-Phase, das geb ich zu. Da habe ich im Bundestag als Fraktionsvorsitzender eine Rede gehalten, wo ich ganz zu Anfang gesagt habe: Herr Bundeskanzler, Sie können sich darauf verlassen: Das machen wir jetzt. Das war der Schwur.

Aber hatte es nicht bis zum Vorabend noch heftige Auseinandersetzungen ge-geben?
Ja, bis in die letzten Stunden. Wir haben Kompromisse gemacht. Aber dann kam der Punkt, wo ich gesagt habe: So, ich stehe. Hab ich dann auch.

Nach Ihrer Rede im Bundestag hat Ihnen Schröder einen Blumenstrauß aufs Pult gelegt.
Ja? Kann sein. Na ja, das waren die Wochen. Er hat erkannt, dass es mir sauschlecht ging. Ich glaube, dass er schon Respekt hatte, dass ich das Ganze durchgestanden habe. Und als die Diskussion losging, hat er gemerkt, dass ich da wichtig sein kann dafür, weil ich die Partei mitnehmen konnte. Er war ja immer mehr Kanzler, ist auch immer sehr so aufgetreten, nicht so viel Parteivorsitzender, wie Frau Merkel das heute ist. Ich hab als meine Aufgabe immer gesehen, dass die Partei da mitgenommen wird.

Nun ja, Sie haben sie dem Regierungshandeln unterworfen.
Die Agenda 2010 war und ist für die SPD und ihre Zukunftschancen ganz wichtig. Wenn wir das nicht gemacht hätten, wäre nicht nur im Land was liegen geblieben, sondern die Partei wäre in eine Ecke gegangen, in der sie nicht mehr regierungsfähig gewesen wäre.

Hatte Schröder nicht auch Angst davor, dass Sie ihn stürzen könnten? Er soll Sie mal gefragt haben: »Willst du mich putschen?«
Ich glaube nicht, dass er Argwohn hatte. Ich habe das mit dem »Putschen« gelesen, aber zwischen uns beiden ist das Wort nie gefallen. Ich glaube, dass die Verbindung zwischen uns, gerade in dieser Zeit, eher intensiver geworden ist. Sogar freundschaftlich.

Hat er Sie gern zum Parteichef gemacht?
Ich glaube, dass ihm der Abschied vom Parteivorsitz schwerer gefallen ist als mir. Gegen alles, was da immer erzählt wurde, ist er an der Stelle sentimentaler als ich. Gerd Schröder hat viele sympathische Seiten und ist auch anders, als er als Politiker wahrgenommen wurde. Dass er ein anderes Temperament hat und mal losbullert – das ist halt bei den Menschen verschieden. Die, die das eher stiller machen, sind in der Regel nicht besser.

Sie fressen Ärger in sich rein?
Na ja, manchmal mobilisiere ich mich schon, aber ich finde das eher lächerlich. Meine Gefahr ist nicht der Jähzorn, eher der Sarkasmus. Leute, die mich genau kennen, wissen sogar: Wenn ich richtig Zorn habe, wenn es richtig hart wird, dann werde ich eher leise.

Dann wollen wir Sie jetzt mal mit der folgenden These provozieren: Je wichtiger Franz Müntefering in der SPD wurde, desto mehr ging es mit der Partei bergab. Schon einmal drüber nachgedacht?
Nee. Quatsch-Theorie.

Aber Sie fragen sich schon, welche Fehler Sie gemacht haben?
Ja klar. Aber bis jetzt habe ich das gute Gefühl, dass ich dazu beigetragen habe, dass es der Partei besser geht, als es ihr gehen würde, wenn ich nichts getan hätte. Und dem Land auch.

Wie sieht aus Ihrer Sicht in der Politik ein gelungener Abgang aus?
Das klingt vielleicht ein bisschen arrogant jetzt, aber ich habe mir noch nie Gedanken darüber gemacht, wie das irgendwann sein wird.

Haben Sie nicht Angst, Ihnen könnte es ähnlich ergehen wie jüngst Edmund Stoiber?
Nein, weshalb sollte es mir wie ihm gehen? Versteh ich nicht.

Ein guter Abgang scheint in der Politik besonders schwierig zu sein. Das ist wie am Reck: Da turnt einer ganz lange und ganz schön – und dann fällt er statt auf die Füße auf den Bauch.
Ich nehm dann die Füße – vielleicht nach 2009. Aber ich kann auch niemandem versprechen, dass ich dann weg bin. Sagen wir so: Am Reck ist ne feine Sache. Jetzt dreh ich erst mal noch ein paar Runden an diesem Reck.

Franz Münteferings Weg in der SPD lief nicht immer so schnurgerade wie auf diesem Bild – auch wenn der 67-Jährige fast alle Stationen einer Politikerkarriere erreichte: Landesvorsitzender, Bundesgeschäftsführer, Generalsekretär, dann SPD-Fraktionsvorsitzender und Parteichef. Nicht zu vergessen die Posten als Abgeordneter, als Landes- und Bundesminister und Vizekanzler. Nur Kanzler war immer ein anderer.