Es war einmal eine junge Frau, der drei goldene Barthaare wuchsen, als sie ihren Steuerbescheid zur Kenntnis nahm. Erschrocken griff sie zum Trockenrasierer ihres neuen Freundes, der gerade mit seinen Kumpels beim Bier war, und rasierte sich das Kinn, denn von ihrem Reichtum brauchte ja niemand etwas zu wissen! Aber kaum hatte sie den Rasierer über die Haut gezogen, zeigten sich schon wieder drei goldene Spitzchen. Sie beschloss, die Haare auszureißen, aber sosehr sie sich auch anstrengte, sie saßen zu fest. Guter Rat war teuer. Sie band fürs Erste ein Tuch über Wange und Kinn, steckte ein dünnes chinesisches Stofftaschentuch in die Backentasche und legte sich ins Bett. Als ihr Freund nach Hause kam, wimmerte sie leise vor sich hin und erzählte mit schmerzverzerrtem Gesicht vom gewaltigen Zahnweh, an dem sie leide.
Der Freund hatte ein wenig zu tief ins Glas geschaut, um sie noch zum zahnärztlichen Notdienst fahren zu können. Stattdessen schlief er an ihrer Seite rasch ein und schnarchte, dass sich die Balken bogen. Am Morgen verabschiedete er sich zur Arbeit. Die junge Frau fand es gut, dass ihr neuer Freund sein eigenes Geld verdiente. Er ahnte nicht einmal, dass sie so viel davon hatte. Ja, sie hätte darin schwimmen können, läge es nicht auf der Bank und wartete darauf, gut angelegt zu werden. Sie hatte sich ihr Geld auch selbst verdient. Wenn er aus dem Haus war, saß sie an ihrem kleinen Laptop und hämmerte darauf ein, dass es eine Art hatte. Historische Liebesromane verfasste sie, unter Pseudonym, versteht sich. Geschichten von Huren und Henkern und Hebammen und Kuckuckskindern.
Ihrem neuen Freund hatte sie gesagt, sie habe nach dem Tode ihrer Eltern genug geerbt, um ein Jahr über die Runden zu kommen. Dieses Jahr sollte ihr aber dazu dienen, ihn als Partner zu prüfen. Auch die Vor- und Nachteile einer Heirat waren in Erwägung zu ziehen. Wenn er jedoch wüsste, wie es um ihren Reichtum bestellt war, würde er womöglich um jeden Preis in den Ehehafen schippern wollen, und das hätte ihr nicht gefallen. Sie lief zu einem Hautarzt, zeigte ihm ihr Problem und bat ihn, ihr zu helfen. Da sie privat versichert war, musste sie nicht lange warten. Der Hautarzt griff zum Scharfen Löffel, schälte die Stelle, an der die drei goldenen Haare sich zeigten, sorgfältig aus und klebte ein Pflaster darüber. Sie bedankte sich herzlich und verließ seine Praxis.
Er aber überzeugte sich mit einem Biss seiner Zähne, dass die Barthaare von purem Gold waren. Da er schon einige Zeit mit Nährlösungen experimentierte, um für seine Patienten Ersatzhaut heranzuzüchten, wenn sie an einem offenen Bein litten oder sich verbrüht hatten, packte er das herausgeschnittene Hautfetzchen in eine Petrischale auf flüssiges Substrat und verwahrte sie im hintersten Winkel seines Brutschrankes. Die junge Frau war bald wieder zu Hause angelangt. Sie hätte sicher noch drei Stunden unbeobachtet schreiben können. Eigentlich aber war ihr danach, sich erst einmal mit ihrem Freund ein bisschen die Welt anzuschauen, ehe sie eine neue Arbeit in Angriff nahm. Vor einiger Zeit hatte sie einen Roman abgegeben, das Lektorat lag hinter ihr, und letzte Änderungen waren auch per Mail zu arrangieren. Also griff sie zu Katalogen, die sie vor Tagen aus irgendeinem Reisebüro mitgenommen hatte. China? Ecuador? Mauritius? Sie überlegte lange, bis ihr auf einmal klar wurde: Indien musste es sein, das Land der Maharadschas und Maharanis! Indien mit seinen Elefanten und Elefantengöttern! Sie sah sich plötzlich in der Rikscha sitzen, vor sich die im Staube wirbelnden Füße des Fahrers. Voller Vorfreude berichtete sie ihrem Freund von dem Vorschlag, als er von seiner Arbeit kam: Acht Wochen Bombay, Bangalore, Madras, Benares, Kalkutta, Lucknow und Delhi. Er aber fragte sie nach ihren Zahnschmerzen und nach dem Pflaster.
Beinahe hätte sie sich vor Schreck verhaspelt, brachte dann aber doch hervor, dass der Zahnarzt ihr die Betäubung von außen durch die Wange habe geben müssen, weil innen alles zu schmerzempfindlich gewesen sei. Er müsse ein Geistheiler sein, denn nun sei alles wie weggeblasen. Und sie nahm die Hand ihres Freundes und legte sie auf ihr Herz. Ob er es schlagen höre? Wenn sie an Indien denke, schlage es schneller … Er bat sie, zu sich zu kommen. Seinen Jahresurlaub habe er längst genommen und er könne nicht einfach mit ihr nach Indien reisen für acht Wochen. Sie nahm es überrascht auf, aber Gelassenheit bemächtigte sich ihrer alsogleich. Dann würde sie eben allein fahren müssen. Und sie dachte daran, dass das ja auch eine hübsche Prüfung wäre für sie beide.
Der Hautarzt aber schaute am Abend desselben Tages noch einmal nach der Petrischale, und siehe da: Die drei Haare waren flink gewachsen. Das freute ihn. Er goss vorsichtig Nährlösung nach. Punkt Mitternacht schnitt er sie ab. Als wiederum ein langer Arbeitstag hinter ihm lag und die Uhr darauf zum zweiten Mal zwölf schlug, knipste er erneut und wog: Im Laufe von vierundzwanzig Stunden war er auf eine römische Unze gekommen. Im Rechnen war er nicht schlecht und veranschlagte die Zeit, die er bei anhaltendem Tempo brauchte, um auf ein Kilo puren Goldes zu kommen, auf knapp 37 Tage! Einen Moment lang überlegte er sogar, aus den Stammzellen der Haarfollikel neue Haut zu züchten, schlug sich jedoch alsbald mit der Hand vor die Stirn: Selbst wenn es ihm gelänge, wäre diese Haut natürlich frei von Gefäßen und Haaren, und die Möglichkeit, Gold zu ernten, wäre dahin gewesen. Also verlegte er sich darauf, die Nährlösungen mit besonderer Sorgfalt zu komponieren und sich gesund zu erhalten, denn er wollte vom Reichtum noch einiges haben.
Zwei Wochen später schon saß die junge Frau im Flieger nach Bombay. Jetzt, im November, würde ihr die sonnige Hitze Indiens doch nur recht sein, wenn sie sie mit den Wetterzuständen zu Hause verglich! Sie freute sich auf das unbekannte Land, war aber anfangs sehr erschrocken, als das Taxi, mit dem sie in der Nacht vom Flughafen zum Hotel fahren wollte - denn sie hatte eine Individualreise gebucht -, an ungezählten Menschenköpfen vorbeifuhr, die in Auspuffhöhe am Straßenrand lagen und unentwegt Abgase atmeten. So etwas hatte sie noch nie gesehen, sie glaubte erst einmal, sich warm anziehen zu müssen. Auch als der Slum längst hinter ihr lag, sah sie erstaunt auf die kleinen, aus Abfällen und Plastikplanen gebauten Hütten, die selbst hohen modernen Wohnhäusern anhingen wie Parasiteneier der Raupenhaut.
Im Hotel angekommen, zog sie sich aber eher aus als warm an, denn die Temperaturen stiegen mit Sonnenaufgang ins Unermessliche. Obwohl es bald heller Tag war, legte sie sich erst einmal ins Bett, um dem Zeitzonenkater nicht zum Opfer zu fallen, und öffnete zuvor das Fenster. Als sie erwachte, saß ein Rhesusaffe am Hotelschreibtisch, lächelte sie an und fragte, woher sie komme. Sie erzählte ihm ein wenig von sich, schenkte ihm dann den Hotelkugelschreiber, den er immer wieder sehnsüchtig angeschaut hatte, und verabschiedete sich höflich, als er Anstalten machte, vom Fensterbrett aus ins Freie zu verschwinden. Ehe er entschlüpfte, bedankte er sich artig und sagte, er habe noch nie von jemandem ein Geschenk bekommen, und wenn sie auf Holz klopfe, werde er erscheinen und ihr bei allem helfen, was sie bedrücke - aber das nur drei Mal.
Kaum war er weg, stieg Verwunderung in ihr auf, dass sie sich über ihn nicht wundern musste. Von nun an sah sie immer wieder den Affen zu. Am Marine Drive beobachtete sie, wie einer ein Eis kaufte bei einem fliegenden Händler, sie sah sie Schuhe probieren oder Hüte aufsetzen auf den Märkten, und in jeder Stadt gab es drei, vier Begegnungen mit ihnen, die sie als polyglotte Wesen auswiesen, für die das Wort Tier ihr nicht passend erschien. Sie fand aber kein besseres, sosehr sie sich auch bemühte. Als ihre acht Wochen um waren, flog sie mit dem Vorsatz nach Hause, einen Roman zu schreiben, dessen Protagonisten Macaca und Mulatta hießen und sechsundfünfzig Sprachen fließend zu sprechen vermochten. Ihr Freund holte sie vom Flughafen ab und freute sich sehr, sie wieder in die Arme schließen zu können. Der nächste Tag war ein Sonntag, sie hatten also genügend Zeit, auszuschlafen und dann zu überlegen, was zu tun sei. Die junge Frau schlug einen Besuch im Zoo vor, um nachzuschauen, welche der Tiere, die sie in Indien in freier Wildbahn gesehen hatte, in einem durchschnittlichen deutschen Tierpark zu bewundern seien.
Natürlich dachte sie dabei zuallererst an die Rhesusaffen. Ihr Freund kaufte ihr gleich am Eingang ein Eis, und sie schlenderten durch das weitläufige Gelände. Kaum hatten sie die Affenanlage erreicht, klopfte die junge Frau auf das hölzerne Geländer. Ganz weit hinten erhob sich ein Affe und sprang in lässigen Sätzen auf sie zu. Und wirklich - es war jener indische, der sie im Hotel in Bombay besucht hatte! Sie erkannte ihn am Muster seiner Sommersprossen, die seine Augen ringförmig einfassten. Er fragte, was sie bedrücke, aber sie antwortete nur erschrocken, sie leide keine Not. Daraufhin sah ihr Freund sie erstaunt an. Er hatte die Frage des Affen offenbar gar nicht gehört! Der aber ergriff schon wieder das Wort und erzählte, es gebe einen Hautarzt in der Stadt, der es in kurzer Zeit auf weit mehr als ein Kilo Gold gebracht habe, weil er ihre drei goldenen Barthaare in einer Petrischale am Wachsen halte. Das überraschte sie sehr, denn sie hatte die Angelegenheit als erledigt angesehen.
Wollen wir Gold zum Geld?, fragte sie sich und gab sich auch gleich die Antwort: Eigentlich nicht, aber wer weiß, wozu es gut sein könnte! Sie nickte dem Affen nur kurz zu, um ihrem Freund nicht schon wieder Anlass zur Verwunderung zu geben, wandte sich um und bat darum, bald nach Hause zu gehen. Dort dachte sie lange nach. Als ihr Freund sich am nächsten Tag zur Arbeit verabschiedet hatte, klopfte sie auf ihr hölzernes Frühstücksbrett. Es klingelte. Draußen stand ihr indischer Affe und grüßte sie ehrerbietig. Sie bat ihn darum, die Petrischale aus dem Brutschrank des Hautarztes für sie zu holen und das bislang gewachsene Gold gleich mit. Der Affe ließ sich das nicht zweimal sagen, sprang mit einem wahren Affenzahn die Treppe hinunter, und ehe sie die Tür hätte schließen können, war er schon wieder zurück. Er händigte ihr das Gewünschte aus, nicht ohne zu bemerken, dass er nun nur noch einmal erscheinen könne. Sprach’s und war verschwunden. Da saß sie nun in ihrer Küche mit beinahe zwei Kilo Gold und einem Stück Haut aus ihrem Kinn, aus dem drei Barthaare wuchsen. Und wuchsen. Und wuchsen. Kurz entschlossen klopfte sie noch einmal auf ihr Frühstücksbrett. Diesmal pochte der Affe vorsichtig ans Fenster, das sie sogleich öffnete. Sie übergab ihm Gold und Petrischale mit dem Wunsch, er möge es für seine Leute verwenden, es bedrücke sie nur. Da war seine Freude groß, und er küsste ihr zum Abschied die Hand. Sie schüttelte sich und machte sich an die Arbeit.
Schrieb ihren Roman über Macaca und Mulatta. Er sollte ein großer Erfolg werden, nach dessen Eintreten sie die Prüfungszeit für beendet erklärte, ihrem Freund die Wahrheit sagte und ihn bat, sie zu heiraten. Ihre Hochzeitsreise führte sie nach Nepal. Als sie in Kathmandu in einer kleinen Straßenküche saßen, las sie auf dem Titelblatt einer herumliegenden Zeitung, dass im Nachbarland Indien die Rhesusaffen aus den Städten verschwunden seien. Es gebe aber keine Anzeichen für ein Massensterben, sodass man sich frage, was dahinterstecke. Ehe sie darüber nachdenken konnte, merkte sie auf einmal, dass sie Nepali hatte lesen können. Dankbarkeit zog ihr ins Herz. Dort war inzwischen ihr Mann zu Hause. Aber auch die Rhesusaffen hatten sich offenbar heimlich eine Kammer eingerichtet und Polyglossie mitgebracht, und glücklich und zufrieden verbrachten sie alle miteinander die Zeit bis zum Lebensende.
Auch bei Rocko Schamoni begegnen wir einer außergewöhnlichen Fee. Lesen Sie hier sein Märchen »Der Uhu, der Idiot und die tote Fliege«.
Fotos: Daniel Sannwald