»Erzähl mir keine Märchen!« Der Griff des Alten ist aus Eisen, seine Fingernägel krallen sich in ihre Wade, doch der Schmerz kann ihr nichts anhaben, genauso wenig wie die Kälte, die mit viel schärferen Nägeln nach ihr greift. Der Dezember 1931 ist der kälteste seit Jahren. Ganz Berlin duckt sich unter dem Frost.
»Ich hab nichts genommen, Ehrenwort«, lügt sie und spürt dem bitteren Geschmack auf ihrer Zunge nach. Sie muss sich am schmiedeeisernen Geländer festhalten, um nicht den Halt zu verlieren, so sehr zieht das Gewicht des Alten an ihrem Bein. Unten im Dunkeln gurgelt die Spree, die Weidendammer Brücke glitzert im bunten Licht der Nacht, das sich im Eis und auf den Schienen der Elektrischen spiegelt.
Sie sind zu laut geworden, ein paar Passanten schauen herüber und dann gleich wieder weg. Ein Kriegskrüppel, der sich mit einem halbwüchsigen Mädchen zankt, da mischt sich niemand ein. »Und warum ist dann so wenig drin in der Flasche?« »Mehr kriegt man eben nicht für zwei Mark. Und nun lass mich los!« Sein Griff lockert sich, er schickt einen misstrauischen Blick zu ihr hinauf und nimmt einen Schluck. Alle paar Stunden braucht er das. Ohne M könne er die Schmerzen nicht ertragen, sagt er, die nie enden wollenden Schmerzen in den Knien, gegen die er nichts tun kann. Weil da keine Knie mehr sind, an denen man etwas tun könnte. Hannah glaubt ihm die Schmerzen, doch sie weiß auch, dass es eigentlich der Rausch ist, den er ersehnt und den er braucht, um dieser Dreckswelt und der Kälte wenigstens für ein paar Stunden zu entfliehen. Es ist ihm gleich, wenn sie zu wenig verdienen auf der Brücke, solange es nur für sein tägliches Morphium reicht.
Er schraubt die Flasche zu und sinkt zurück in das Holzwägelchen, das ihm die Beine ersetzt. Hätte mir die beschissene Granate doch den Kopf weggerissen. Wie oft hat sie diesen Satz schon gehört? Und wie oft hat sie sich gewünscht, dass es wirklich so gewesen wäre, dass der dämliche Krieg ihrem Vater das Leben genommen hätte und nicht nur die Beine.
Ja, der Krüppel an ihrer Seite, von dem die Passanten glauben, sie gebe ihn nur als ihren Vater aus, weil das Geschäft so besser läuft, dieser vom Morphium und vom Hass zerfressene Kriegskrüppel ist tatsächlich ihr Erzeuger. Sie kann es manchmal selbst nicht glauben. Will es nicht glauben. Wenigstens gibt er jetzt Ruhe, und sie kann wieder arbeiten. Sie klappt den Holzkoffer auf, der ihr als Bauchladen dient, und legt los. »Streichhölzer! Kaufen Sie Streichhölzer! Zehn Pfennig die Schachtel, drei für fünfundzwanzig.«Die wenigen Menschen, die auf der Friedrichstraße noch unterwegs sind, beachten sie kaum, sie haben es eilig. Die letzte Nacht des Jahres ist auch die kälteste, und Hannah hat bislang kaum etwas verdient, obwohl sie schon seit Stunden auf der Brücke steht. Ihre Hände sind klamm, ihr ganzer Körper steif gefroren, aber sie erträgt die Kälte, sie empfindet keinerlei Schmerz. Dank Schwester M. Vor ein paar Tagen hat sie schon einmal heimlich ein paar Tropfen genommen, als sie das tägliche Fläschchen für ihn besorgt hat, und da hat er nichts gemerkt.
»Kaufen Sie Streichhölzer! Vater hat seine Beine geopfert für Kaiser und Vaterland, lassen Sie einen tapferen Veteranen nicht im Stich.« Ein Mann mit Bowler und Pelzkragen bleibt stehen und lässt zwei Groschen in ihre vor Kälte gekrümmte Hand fallen, sie kann die Münzen kaum spüren. »Danke, der Herr! Gott schütze Sie!« Sie steckt die Münzen ein und klaubt zwei Schachteln Streichhölzer aus dem Koffer, doch der Mann ist schon weitergehetzt. Hannah schaut ihm hinterher und hat dabei ihre Schulter wohl zu weit auf den Gehweg gedreht, jedenfalls spürt sie einen harten Schlag im Rücken. Sie sieht noch den Mann, der sie angerempelt hat, der Drecksack dreht sich nicht einmal um, dann verliert sie den Halt auf dem vereisten Pflaster und stürzt. Aus ihrem Koffer purzeln die Streichholzschachteln in den schmutziggrauen Schnee, der den Fahrdamm säumt wie ein kleines Gebirge.
Sie liegt da und hält sich den Arm. »Dämliche Pute! Willste uns ruinieren? Pack die Ware ein, bevor sie nass wird!« Er hat seine Krücke genommen und schlägt nach ihr. Sie greift nach dem Holz, das er ihr in die Seite stößt, und hält es fest. Der Schmerz kümmert sie nicht, doch irgendetwas in ihr will den keifenden Alten nicht länger ertragen. »Ruinieren? Wie soll ich uns denn noch ruinieren? Schau dich doch an! Schau uns doch an!« Sie drückt ihn mitsamt seinem Wagen gegen das Geländer und greift nach den Streichholzschachteln, die bereits aufzuweichen beginnen, greift die Schachteln, greift den schmutzigen Schnee und wirft nach ihm.
Er lässt alles auf sich niederprasseln und starrt sie an, völlig fassungslos. Sie rappelt sich hoch und schaut auf ihn hinab, empfindet plötzlich eine unendliche Abscheu gegen diesen Mann, der alle Welt dafür hasst, dass er ein Krüppel ist, am meisten aber die eigene Tochter. Erst jetzt findet er seine Sprache wieder. »Wenn ich das im Krähennest erzähle! Wie du mich behandelst! Wie du mit der Ware umgehst! Die Krähen werden dich windelweich prügeln, verlass dich drauf!« Sie will eine passende Antwort geben, doch sie kann nicht. Sie will ihm Worte entgegenschleudern, stattdessen kommen Tränen, mit einem Mal schießen sie in ihre Augen. Und vielleicht ist das der Grund, dass sie wegrennt und den Alten einfach sitzenlässt, weil sie nicht will, dass er sie heulen sieht. Dass sie wegrennt mit ihren klammen Händen und dem Holzkoffer, mit dem bisschen Geld, das sie verdient hat, mit ihren löchrigen Schuhen, in die das Eiswasser dringt.
Sie rennt und rennt, und die Passanten, die sie anrempelt, schimpfen über das Bettelmädchen, Autos hupen, wenn sie den Fahrdamm quert. Sie kümmert sich nicht darum und rennt weiter, immer weiter die Straße hinunter. Sie kann kaum etwas sehen, die Lichtreklamen der Friedrichstraße verschwimmen in ihren Augen zu bunten Schlieren. Erst als die Tränen endlich zu fließen aufhören, bleibt sie stehen und schaut sich um.
Sie ist schon jenseits der Linden, direkt vor dem Automatenrestaurant steht sie. Der Wind bläst in ihr tränennasses Gesicht, und der Frost beginnt wieder nach ihr zu greifen. Sie zählt ihr Geld. Einsdreißig hat sie, das ist alles. Einen Fünfer mindestens muss sie im Krähennest abliefern jeden Tag, sonst gibt es Prügel. Oder die Krähen holen sich ihren Anteil auf andere Weise. Sie will nicht daran denken, sonst wird ihr schlecht.
Im Restaurant umfängt sie eine behagliche Wärme wie eine weiche Decke, sie hat schon gar nicht mehr gewusst, wie sich das anfühlt. Ihre Finger schmerzen, als sie aufzutauen beginnen. Sie kramt drei Groschen hervor für eine Fleischbrühe mit Brot. Mit der heißen Suppentasse sucht sie sich einen Platz weit weg von den anderen und isst. Ganz langsam. Draußen beginnt schon das Neujahrsfeuerwerk. Die ersten Leute stehen auf und gehen auf die Straße, schauen in den Himmel, wünschen sich ein frohes neues Jahr. Hannah bleibt sitzen, sie hat keine Neujahrswünsche. Ihre Hoffnungen liegen nicht in der Zukunft, sie wünscht sich eine neue Vergangenheit. Mit dem Brot wischt sie die letzten Tropfen vom Rand der Suppentasse. Ihre Finger tun nicht mehr weh, und sie genehmigt sich noch einen heißen Kakao. Wie gut das tut! Einfach hier zu sitzen in der Wärme wie in einem Traum. Sie versucht, nicht an das zu denken, was draußen auf sie wartet, draußen in der richtigen Welt.
Der Alte, der wahrscheinlich längst wieder im Krähennest hockt und sich mit den anderen ins neue Jahr säuft. In den zugigen Bretterverschlag am Bülowplatz hat er sie damals geschleppt, kurz nach Mutters Tod, zu den Krähen, einer Bande von Säufern und Bettlern, die sie behandeln wie ein Stück Dreck. Oder wie ein Stück Fleisch, je nachdem, wie ihnen zumute ist. An die Zeit davor kann sie sich kaum erinnern, auch nicht daran, wie Vater einmal ausgesehen hat. Als er noch seine Beine hatte und seine Würde. Sie sucht nach ihm in ihren Erinnerungen, und jetzt sieht sie ihn, wenn sie die Augen schließt, sieht ihn vor sich, in einer schmucken Uniform. Sie kennt nur ein Foto, das ihn mit Beinen zeigt, aufgenommen, bevor er in den Krieg zog. Aber nun sieht sie ihn so wirklich, dass sie glaubt, ihn anfassen zu können.
Ein lautes Krachen lässt sie aufschrecken, draußen vor den Fenstern leuchtet und blitzt das Feuerwerk. Sie schließt die Augen, um Vater wieder zu sehen, doch der steht plötzlich im Feld, die Uniform abgewetzt und schmutzig, steht mitten im gegnerischen Feuer, inmitten von Rauch und Lärm, unerreichbar für seine Tochter, die hilflos zusehen muss, wie ein donnernder Feuerball explodiert, genau dort, wo er steht. Als der Rauch sich endlich verzogen hat, steht da niemand mehr. Am Boden liegt ein blutig schmutziges Bündel, Fetzen, die einmal eine Uniform waren, Fetzen, die einmal ein Mensch waren, blutige Klumpen, die einmal Beine waren. Und das hübsche Gesicht hat sich verwandelt in die Fratze eines verbitterten alten Mannes.
Sie muss eingenickt sein und schreckt hoch aus dem Schlaf, da steht plötzlich ein Mensch an ihrem Tisch, der ihr sagt, dass sie gehen muss. »Bedaure, aber wir schließen jetzt.« Sie schaut ihn an und nickt. Er wartet, bis sie das Lokal verlassen hat, und schließt hinter ihr ab. Die Nacht ist noch kälter geworden. Es dauert keine fünf Minuten, und die Wärme, die sie aus dem Restaurant mitgenommen hat, ist restlos verflogen, wieder greift die Kälte nach ihr mit eisigen Fingernägeln. Sie weiß nicht, wohin, sie weiß nur, dass sie in Bewegung bleiben muss, will sie nicht erfrieren. Sie geht und geht und hat kein Ziel. Je länger sie geht, desto weniger Passanten begegnen ihr. Niemand, der ihr Beachtung schenkt. Sie weiß nicht, wie lange sie durch die Stadt geirrt ist, kreuz und quer, mittlerweile ist kein Mensch mehr unterwegs, sie muss weit ins neue Jahr gelaufen sein.
Und plötzlich steht sie vor dem Krähennest, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen ist. Als hätten ihre Füße sie automatisch dorthin getragen. Automatenrestaurant. Automatenfüße. Der Bülowplatz ist menschenleer. Der Wind treibt eine Zeitung vor sich her. Hinter dieser Bretterwand wartet der Alte, warten die Krähen. Sie weiß, dass er längst zu Hause ist und schläft wie ein Toter nach der letzten Dosis Morphium. Nachdem er erzählt hat, was auf der Brücke passiert ist. Dafür werden die Krähen sie wirklich totschlagen. Oder wenigstens halb tot. Aber jetzt liegen sie hinter diesen Brettern und schlafen, haben sich wie jeden Abend mit billigem Fusel in ihre Träume getrunken. Sie meint sogar, ihr Schnarchen hören zu können.
Die Kälte greift wieder nach ihr, jetzt, wo sie sich nicht mehr bewegt. Sie könnte jetzt dort hineingehen, doch ihre Füße wollen keinen Schritt mehr weiter. Nicht dort hinein. Nie wieder. Sie muss etwas tun gegen den Frost. Ihre Hände zittern, als sie den Holzkoffer aufklappt. Sie holt eine Schachtel Streichhölzer heraus, öffnet sie und reißt eines an. Sie meint schon, die Wärme zu spüren, doch dann fegt ein Windzug die Flamme wieder aus. Sie zündet das nächste an, aber auch das wird nach kurzem Flackern ausgepustet. Immer wieder reißt sie ein neues Zündholz an, doch die Wärme aus dem Automatenrestaurant kann sie nicht zurückholen.
Der Wind hat ihr die Zeitung genau vor die Füße geweht. Eine Kommunistenzeitung. Hannah hebt sie auf und dreht das Papier zu einer Fackel, an die sie das nächste Streichholz hält. Dieses Feuer wird der Wind nicht mehr auspusten. Sie starrt in die Flammen und spürt die Wärme, spürt sie noch mehr, als sie die Augen schließt. Wieder kann sie ihren Vater sehen, so, wie er früher war, in der blitzsauberen Uniform. Sieht ihn auf dem Schlachtfeld, und diesmal ist alles stumm, sieht die Granaten einschlagen, und hört keinen Ton; auch die blendend helle Explosion genau dort, wo er steht, ist nur ein greller, lautloser Blitz. Und als sich der Rauch verzieht, liegt da kein Krüppel im Gras. Da liegt niemand mehr. Die Granate hat nichts von ihm übrig gelassen, keine Beine, keinen Kopf, gar nichts. Es ist, als hätte es ihn nie gegeben.
Sie öffnet die Augen und schaut in die Flammen. Sie hält das Papier nicht mehr in der Hand, es steckt zwischen den Brettern. Das Holz ist kalt, aber trocken, es brennt gut. Das Feuer breitet sich aus, es ist, als wolle ihr das Krähennest mit einem Mal die Wärme geben, die es ihr all die Jahre vorenthalten hat.
Sie steht dort im Schein des Feuers, das immer größer wird und schließlich die ganze Hütte erfasst, steht dort, bis der erste Polizist eintrifft und schließlich auch die Feuerwehr. Die Männer versuchen, mit ihr zu sprechen, aber sie hört nicht. Sie ziehen sie weg vom Feuer, aber sie will nicht weg. Sie blickt in die Nacht und sieht einen Stern vom Himmel fallen. Und die Männer, die an ihr zerren, verstehen nicht, warum sie lächelt.
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Fotos: Daniel Sannwald