Es war einmal ein Märchenbuch, das saß still und staubig ganz rechts auf seinem Platz im Bücherregal. Es wurde nicht mehr geliebt, es wurde nicht mehr gebraucht, es wurde nicht mehr gelesen, und nur ganz selten zog es die Hausherrin heraus, um einem Besucher die aufwendigen Bilder zu zeigen, mit denen es ausgestattet war. Dann lachten die Hausherrin und der Besucher darüber, dass man sich früher so viel Arbeit gemacht hatte, so komplizierte Bilder für so schaurige Geschichten.
Das Märchenbuch war nicht dumm; es wusste, warum man es nicht mehr brauchte. In seinem dicken Bauch wimmelte es von Hexen und Ungeheuern, von Drachen und bösen, bösen Stiefmüttern. Die Hausherrin war selber Stiefmutter, aber keine böse; sie hatte den beiden Kindern ihres Mannes deshalb lieber Bücher vorgelesen, in denen es um Scheidung und Patchworkfamilien ging, und die Zeichnungen in diesen Büchern waren so bunt und lustig wie Comics.
Außerdem starben in den Märchen dauernd Menschen; sie wurden vergiftet und erschlagen, von den Drachen gefressen und von den Hexen verhext. Das alles war nicht sehr erfreulich. »Die Kinder fürchten sich zu Tode«, hatte das Märchenbuch einmal jemanden sagen hören, und dann war noch von »schwarzer Pädagogik« die Rede gewesen. Ein andermal hatte es einen Streit zwischen den Kindern belauscht. Ernesto, der Kleinere, hatte behauptet, dass das Hühnchen, das er zu Mittag gegessen hatte, irgendwann als Ganzes ins Klo plumpsen und weiterleben würde, genau wie Rotkäppchens Großmutter und sechs der sieben Geißlein den Aufenthalt im Bauch des Wolfes ja ebenfalls unbeschadet überstanden hatten. Dafür war er von seiner Schwester Cecilia erst ausgelacht, dann, als er seinen Irrtum nicht einsehen wollte, verprügelt worden. Schließlich mussten die Eltern herbeieilen und den Streit schlichten, und von da an wurde diese Anekdote zum Beweis dafür erzählt, wie sehr Märchen Kinder verwirren.
So saß das Märchenbuch traurig und unnütz im Regal, umgeben von Büchern, in denen man etwas aufklappen oder zuschieben konnte, in denen es klapperte, rasselte und quietschte, aus denen Teile von Stofftierchen herauswuchsen und an denen man sogar lecken konnte, um mit der Zunge verschiedene Oberflächen zu unterscheiden. Viele Jahre lang drückte sich das Märchenbuch neben diesen modernen Showtalenten in die Ecke, bis eines Tages Cecilia ins Zimmer stürzte, die Tür hinter sich zuschlug und sich heulend aufs Bett warf. Nach einer Weile hörte sie zwar auf zu schluchzen und setzte sich auf, doch sie schaute dabei immer noch traurig und verzweifelt aus. Dem Märchenbuch tat sie schrecklich leid, so leid, dass es etwas vollkommen Unüberlegtes und Verrücktes tat: Es warf sich aus dem Regal auf den Boden. Es verstauchte sich dabei leicht den Buchrücken, und es dellte sich an einer Umschlagecke ein, doch ansonsten war es heil, wenn auch sehr durcheinander.
Cecilia stand auf, nahm das Märchenbuch und drehte es in der Hand. Erst wollte sie es gleich wieder ins Regal stellen, doch dann schlug sie es auf und begann nach einigem Zögern – es sah wirklich sehr altmodisch und unmodern aus – zu lesen. Mit einem Schlag wurde das Märchenbuch um viele Jahre jünger. Seine Seiten wurden regelmäßig umgeblättert und bekamen wieder Luft; seine Bilder wurden im Licht viel bunter. Endlich kam die Prinzessin wieder spätabends im fremden Schloss an, bat um ein Bett und wurde mittels Erbse auf Wahrhaftigkeit geprüft; endlich mühte sich der Frosch wieder die hohen Stufen zum Schloss hinauf, um Einlass ins Bett der anderen, undankbaren Prinzessin zu erzwingen; endlich ging der Wolf wieder einmal zum Bäcker und ließ sich die Pfoten mit Mehl weißen. Und Cecilia schämte sich schrecklich für die Frau des Fischers, die nicht einmal als Papst zufrieden war, doch an Schneeweißchens und Rosenrots Stelle hätte sie den Zwerg gleich mit der Schere erdolcht, anstatt ihm nur den Bart zu scheren.
Dass es hie und da brutal zuging, kümmerte Cecilia nicht, denn das tat es anderswo auch, bei den Vampiren genauso wie bei Harry Potter. Aber von nun an trug sie all diese Namen, die Farben und vor allem die ungelösten Rätsel in ihrem Herzen herum, und als sie noch älter wurde, verstand sie, dass Märchen nichts für kleine, sondern etwas für größere Kinder sind. Dass man für Märchen nie zu alt, höchstens zu vernünftig sein kann. Und sie verstand, wie viele verschiedene Stimmungen in dem Wort »märchenhaft« versteckt sind, sanfte und bedrohliche, idyllische und mörderische, vielleicht unendlich viele. Das alte graue Märchenbuch aber hockt wieder staubig in seiner Regalecke und wartet auf seinen nächsten Einsatz. Und inzwischen ist es sehr gelassen dabei.
Hier gehts zum nächsten Märchen über ein kleines Mädchen: Volker Kutscher schrieb für uns »Das Mädchen mit den Zündelhölzern, Berlin 1931«.
Fotos: Daniel Sannwald, Model: Ranya Mordanova