Wundern Sie sich nicht, wenn Sie in den nächsten Wochen immer wieder Trupps von Naturschützern, Rentnern oder Schülern mit Sensen und Harken über die Wiesen ziehen sehen. Diese Menschen bekämpfen eine Pflanze: das Indische Springkraut, Impatiens glandulifera, auch Drüsiges Springkraut genannt. Das ist die hohe Staude mit den rosavioletten Blüten, die jetzt oft zuhauf an Flüssen oder Wäldern steht. Früher wuchs sie nicht hier, sondern im westlichen Himalaja, und wenn es nach den wütenden Naturfreunden geht, soll sie dahin, bitte schön, auch wieder verschwinden. Das Indische Springkraut ist fremd. Das ist der Punkt. Deswegen darf es hier nicht blühen. Deswegen trat im vergangenen Jahr sogar ein ganzes Feldjägerbataillon an, um das Indische Springkraut aus dem Erdinger Viehlassmoos zu vertreiben, und auch dieses Jahr wird es wieder groß angelegte Aktionen geben. Die praktischen Schweizer bekämpfen das Fremde übrigens einfach mit Fremden: Dort müssen Asylbewerber das Indische Springkraut ausreißen. Das umstrittene Kraut wurde 1839 als Zierpflanze nach Europa gebracht und entkam irgendwann aus den Gärten, mit einem raffinierten Trick: Die Samenkapseln springen bei Berührung mit einem Knall auf und schleudern ihren Inhalt hinaus. Ohne Wind können die Samen bis zu sieben Meter fliegen, mit Wind noch viel weiter. Aber es kommt noch besser: Jede einzelne Pflanze produziert 4000 Samen im Jahr, denn im westlichen Himalaja ist es nicht besonders wirtlich. Weil das Indische Springkraut auch noch sehr schnell und dicht wächst und alle seine natürlichen Feinde noch immer im westlichen Himalaja sitzen, hat es sich in einigen Gegenden rasend schnell ausgebreitet, oft in riesigen »natürlichen Monokultu-ren«. »Die gigantisch wuchernden Springkraut-Massen machen in ihrem Schatten und zwischen ihren aggressiven Wurzeln alle heimischen Kräuter und Stauden nieder, wie eine erbarmungslose feindliche Armee«, warnt Tropenmediziner Rüdiger Disko pathe-tisch. »Die Pflanzen erobern Landstrich um Landstrich, um auf Dauer zu halten, was sie einmal in Besitz genommen haben.« Das Indische Springkraut gilt als Paradebeispiel für invasive Neophyten: aggressive fremde Pflanzen, die mit einer überlegenen Strategie schwächere Arten an den Rand der Existenz bringen. Wie der aus dem Kaukasus importierte Riesenbärenklau, den rund um Hamburg Ein-Euro-Jobber ausrupfen, oder der ursprünglich in Ostasien beheimatete Staudenknöterich, gegen den in Ostsachsen aus EU-Töpfen bezahlte Hartz-IV-Empfänger ins Feld geschickt werden. Diese bösartigen Fremdlinge bedrohen unsere einheimische Natur, deswegen muss der Mensch einschreiten. Das denken die Naturschützer jedenfalls. Tatsächlich tobt rund um das Thema Neophyten unter Naturschutzaktivisten, Botanikern, Wissenschaftlern, Bauern und Förstern ein regelrechter Glaubenskrieg darüber, wie mit den Pflanzen umgegangen werden soll. Auf der einen Seite warnen vor allem Naturschützer vor der Überfremdung unserer Flora und fordern sofortige Maßnahmen überall dort, wo sich Neophyten blicken lassen. Auf der anderen Seite des Grabens mahnen meist Wissenschaftler zur Toleranz und erinnern daran, dass viele Arten, die jetzt als typisch gelten, die Fremden von früher sind. Denn Neophyten werden nur die Pflanzen genannt, die nach der Entdeckung Amerikas 1492 bei uns Fuß fassten, mit diesem Jahr beginnt in der Botanik die Globalisierung. Alles, was zuvor einwanderte, wurde eingebürgert. Was zu spät kam, bleibt fremd. An solche Kategorien dachte Johann Waldschütz nicht, als er das Indische Springkraut erstmals hinter seinem Hof bei Irschenberg fand: Die anmutige Pflanze mit den grünen, innen leicht rosa verfärbten Blättern und den rosavioletten Blüten, die schüchtern hinter der Odelgrube stand, gefiel dem Bauern, eine solche hatte er noch nie gesehen. »Die rührt mir keiner an, die bleibt da!«, befahl er seiner Familie. Zwanzig Jahre nach seiner ersten Begegnung mit der fremden Art steht Waldschütz etwas ratlos vor einer größeren Lichtung in seinem Wald. Dort sollten eigentlich Bäume heranwachsen. Tatsächlich sieht man nur einen mannshohen rosa-grünen Teppich aus tausenden von Springkrautpflanzen. Die einstige Lieblingsblume des Bauern legte ziemlich schnell ihre anfängliche Schüchternheit ab und verbreitete sich Jahr für Jahr stärker. Inzwischen schießt sie überall empor, wo sich ein bisschen Licht und feuchter, nahrhafter Boden bietet. Jäten ist sinnlos. »So ein zäher Hund, dieses Kraut! Wo man hinschaut, wächst das und ich krieg es nicht mehr weg«, sagt Waldschütz. Irgendwo im Springkrautmeer sprießen wohl ein paar Birken, Eichen und Fichten, aber zu ihnen kommt kaum Licht durch, weil das Springkraut so dicht steht. Fast sieht es so aus, als würden die Pflanzen ihre Köpfe zusammenstecken und über die lahme Konkurrenz tuscheln, die immer noch nur ein paar Zentimeter hoch ist.
Was die Eindringlinge nicht wissen: Sie wachsen auf einem Versuchsfeld der Bayerischen Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft (LWF). Nachdem Johann Waldschütz seinem Förster den Befall durch das Springkraut gemeldet hatte, schlug dieser vor, die LWF dort die tatsächliche Durchschlagskraft des Neophyten testen zu lassen. Johann Waldschütz fand die Idee spannend, »so wie ich das sehe, werden wir mit dem Kraut noch länger zu tun haben, und tot spritzen kann ich es später auch noch«. In drei Testfeldern hat Christian Ammer, der Projektleiter der LWF, mit hellen Holzpfählen Quadrate abgesteckt, in denen das Indische Springkraut abwechselnd ausgerissen, gemäht oder stehen gelassen wird. In ein paar Jahren wird man sehen, welche Strategie am besten hilft, ob ein Eingreifen nicht nötig oder völlig nutzlos ist. »Wir gehen davon aus, dass sich das Vorkommen mit der Zeit einpendelt«, meint Ammer, der merklich zuckte, als Waldschütz vom »Totspritzen« sprach. Aber vielleicht ergibt der Versuch ja, dass die Bäumchen mitten im Springkraut heranwachsen können, »da, schauen Sie!«: Ammer hat eine kleine Weißtanne entdeckt. Johann Waldschütz nickt zufrieden. Das Testfeld der LWF ist einer der wenigen Versuche, in die hitzige Diskussion um Neophyten etwas Systematik zu bringen. Klar ist: Das ökologische Gleichgewicht einer Region kann durch fremde Tiere und Pflanzen kippen, vor allem auf Inseln. Aber noch weiß man von keiner mitteleuropäischen Art, die wegen eines Neophyten ausgestorben wäre, obwohl biologische Invasionen nicht erst seit gestern geschehen. Ein Beispiel: Die Wasserpest kam im 19. Jahrhundert nach Deutschland und hatte fast alle Gewässer fest im Griff. Heute macht die Pflanze kaum mehr Probleme und keine andere Art musste ihretwegen weichen. Vielleicht passt unser Ökosystem sich irgendwann auch dem Springkraut an, Parasiten, Bakterien oder Viren könnten es befallen oder Käfer und Raupen entdecken die Pflanze als Futter. Früher versuchte man, dieses Gleichgewicht künstlich herzustellen, indem man fremde Schädlinge mit fremden Schädlingen bekämpfte. Sprich: Man holte deren Feinde ins Land. Das klingt logisch, funktioniert manchmal aber eher schlecht. In Australien führte die Zuckerindustrie 1935 die Aga-kröte aus Südamerika ein, um zwei Käfer zu bekämpfen, die sich durch die Zuckerrohrfelder fraßen. Die Kröte wurde dort zur viel größeren Plage: Schlangen, Warane und Vögel sterben, wenn sie versuchen, die giftige Amphibie zu fressen, während die Kröte selbst bis heute wahllos alles verschlingt, was ihr über den Weg läuft. Nur für die Schädlingskäfer interessiert sie sich kaum. Das Horrorszenario der Neophyten-Gegner sieht so aus: Durch die Globalisierung wachsen irgendwann überall auf der Welt die gleichen, die stärksten Pflanzen. Lebensräume werden vernichtet, regionale Eigenheiten gehen unter, Arten sterben reihenweise aus. Tatsächlich scheint diese Katastrophe kaum mehr aufzuhalten zu sein, glaubt man den alarmierten Naturschützern. »Das Problem wird unterschätzt, von Biologen und auch von Politikern«, schimpft Helmut Scharpf von der Arbeitsgemeinschaft der Angehörigen der Naturschutz-wacht Bayern (AGNA). Für ihn ist das Indische Springkraut ein Feind, der Hauptfeind sogar. Scharpf ringt um jeden springkrautfreien Zentimeter in seiner Heimat, dem Günztal im Unterallgäu. »Aber zu uns könnten sie die ganze Bundeswehr schicken, wir haben keine Chance mehr, das Zeug auszurotten«, sagt Scharpf. Auf zu vielen Ufersäumen und Wiesen habe sich der Neophyt inzwischen breit gemacht. Trotzdem zieht Helmut Scharpf alle drei Tage mit ein paar anderen Freiwilligen durch sein Tal und reißt die Wurzelknollen aus der Erde. Jeden Spaziergänger macht Scharpf auf die wuchernde Gefahr aufmerksam, manche schließen sich ihm sogar an. »Lokale Bündnisse schmieden« nennt Scharpf diese Strategie. Allianzen zur Bewahrung der Heimat sozusagen, denn um nicht weniger geht es ihm: »Auf den bayerischen Wiesen gibt es mittlerweile eine totale Überfremdung, viele Pflanzen aus meiner Kindheit finde ich gar nicht mehr.«
Martin Wolfangel, Naturschützer und Hobby-Wissenschaftler, steht gemeinsam mit Scharpf an der Front gegen das Indische Springkraut. Er verschickt seit Jahren Briefe an Politiker aller Parteien, an Minister und Oberbürgermeister, an Regierungspräsidenten und EU-Kommissare. Wolfangel fordert sofortige Bekämpfungsaktionen, landesweite Neophyten-Prävention und eine neue Gesetzeslage, die es Grundbesitzern verbieten soll, Neophyten auch nur zu dulden. Kurzum: ein Ende der »laxen Neophyten-Politik« und einen Einsatzplan zur Rettung der heimischen Flora, die ansonsten »verhunzt und verunstaltet« werde. »Wo nichts in Gefahr ist, muss man auch nichts retten,« sagt dagegen Josef Reichholf, Biologieprofessor und deutsches Präsidiumsmitglied der weltweiten Naturschutzorganisation WWF. Er ist die Gallionsfigur all derer, die mehr Toleranz für fremde Arten fordern. »An den stickstoffreichen Standorten, die das Indische Springkraut braucht, wächst keine einzige bedrohte Art: Die Pflanzen, die Schutz brauchen, stehen auf mageren Böden.« Das Indische Springkraut verdränge vor allem »natürliche Monokulturen« der Brennnessel, »die ist aber auch nicht besser, nur weil sie länger hier ist, da wächst auch nichts anderes dazwischen, und das Indische Springkraut ist wenigstens schön anzuschauen«. Wer sich an dem vielem Springkraut störe, meint Reichholf, solle über die Ursachen nachdenken, bevor er Wurzeln ausreiße: Schuld an der großflächigen Verbreitung sei die maßlose Überdüngung der Böden mit Stickstoff durch die Landwirtschaft. Das Hauptanliegen Josef Reichholfs ist es, die scharfe Trennung von fremd und heimisch aufzuheben – und damit auch gleich die seiner Meinung nach willkürliche Festlegung auf das Jahr 1492 als Grenze. Jede Art kann für die andere ein Problem darstellen, ob sie fremd ist oder nicht. »Wer schon Kinder ständig vor dem Fremden warnt, der schürt unter dem Deckmantel der Botanik eine Fremdenfeindlichkeit. Das ist ja fast schon eine Blut-und-Boden-Ideologie!« Mit Ansichten wie diesen steht der streitbare Professor keineswegs allein da. »Wir sollten nicht in Hysterie und Ökofaschismus verfallen«, meint Olaf Schmidt, Präsident der Bayerischen Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft (LWF) in seinem Büro mit Blick auf die grünen Hügel Freisings. Schmidt wird von der bayerischen Regierung etwa dann um Stellungnahme gebeten, wenn es, wie im letzten Jahr, die Beschwerde eines Bauern über den Umweg des Landtagsabgeordneten Sepp Ranner (»Lieber Sepp«) betreffs Indischen Springkrauts (»ein ungeheuer wucherndes Kraut«) auf den Schreibtisch von Landwirtschaftsminister Josef Miller (»Sehr geehrter Herr Staatsminister, lieber Josef«) geschafft hat. »EILT SEHR«, kritzelt dann jemand in Großbuchstaben auf den Briefwechsel und faxt ihn nach Freising. Und das kommt gar nicht so selten vor: »Die Alarmbereitschaft bei Landwirten und Politikern ist gerade bei Neophyten sehr hoch.« Das Problem sei aber, dass Landwirte, Fischer, Jäger oder Naturschützer jeweils eine ganz eigene Vorstellung davon hätten, was »ökologisches Gleichgewicht« zu bedeuten habe. Und oft hätten diese Vorstellungen nur eines gemeinsam: »Die Natur soll so sein, wie der Mensch sich das wünscht.« Dann gurrt Olaf Schmidt. Einmal, zweimal. Der Lockruf der Türkentaube, auch eine fremde Art, wenn auch eine, die niemand bekämpft. »Die Natur wertet nicht, sie unterscheidet nicht zwischen guten und schlechten Einwanderern. Und das sollten wir auch nicht tun.« Die Naturschützer finden sich in dem Streit um das Springkraut in einer etwas ungewohnten Situation: Ausgerechnet sie, die sonst bei jeder Gelegenheit als Gutmenschen verspottet werden, stehen plötzlich in der rechten Ecke. Da ist Diplomatie nicht verkehrt: So warnt denn auch der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) vor »heillosem Aktionismus«, verweist aber nachdrücklich darauf, dass die Einschleppung fremder Arten durch die Globalisierung weltweit ein Riesenproblem darstelle. Die Grundsatzfrage im Neophyten-Streit lautet letztlich: Soll man zwischen fremd und heimisch unterscheiden? Deswegen noch ein kurzer Besuch bei Ludwig Trepl, Professor für Ökologie an der Technischen Universität München, eher ein Beobachter des Streits um die Neophyten. »Heimat ist doch ein Gefühl«, sagt er, »für viele Menschen sind die Kastanienbiergärten typisch für Bayern, dabei stammt der Baum vom Balkan.« Wenn Trepl hinter seinem Garten oder beim Wandern nur noch Springkraut sieht, findet er das nicht toll, im Gegenteil, es ärgert ihn. »Aber deswegen muss man nicht so tun, als würden die Hunnen wieder anrücken.« Ludwig Trepl promovierte in den siebziger Jahren über das Kleinblütige oder Sibirische Springkraut, Impatiens parviflora. Der Titel der Arbeit hieß: »Die Einbürgerung des Kleinblütigen Springkrauts«. Heute, meint Trepl, würde die Arbeit wohl »Die Invasion des Kleinblütigen Springkrauts« heißen.