SZ-Magazin: Herr Krugman, seit Sie eine Kolumne in der New York Times schreiben, sind Sie zum Rockstar der Ökonomie geworden. Wie kommt ein Wirtschaftswissenschaftler dazu, politisch so zu polarisieren?
Ich habe in einer Traumwelt gelebt. Mir war die Durchsetzungsfähigkeit der Rechten in den USA nicht klar. Wir haben hier ein paar radikale Verrückte, die Amerika eine wirklich katastrophale Vision verpassen und den Wohlfahrtsstaat mitsamt der Steuerprogression abschaffen wollten. Unparteilichkeit macht da keinen Sinn. Aber vielleicht kommen bald weniger düstere Zeiten.
Glauben Sie, die Präsidentschaftswahl 2008 wird tatsächlich zu einem Richtungswechsel führen?
Ich habe zwei Thesen: Erstens, je ungleicher die USA werden, desto mehr Menschen fühlen sich im Regen stehen gelassen. Und die wer-den ihren Unmut artikulieren. Zweitens: Die politische Bedeutung der Hautfarbe nimmt ab. Diese Frage hat in den vergangenen dreißig Jahren erheblichen Anteil daran gehabt, dass die Republikaner Wahlen gewinnen konnten. Denn je mehr sich die Demokraten der Anliegen von Minderheiten annahmen, desto mehr wandte sich der weiße Süden den Republikanern zu. Erwarten Sie eine neue Ära der Demokraten?
Es spricht einiges dafür. Denn die amerikanische Gesellschaft wird immer weniger weiß. Ein wachsender Anteil der Wählerschaft ist lateinamerikanischer Abstammung. Dabei ist es egal, ob Hispanics als weiß gelten oder nicht. Entscheidend ist, dass die republikanische Basis sie nicht für weiß hält und ihnen so zu verstehen gibt, dass die Partei nicht ihre politische Heimat ist. Auch die Asiaten machen einen wachsenden Teil der Bevölkerung aus. Der weiße Wähler aus den Südstaaten, der vorwiegend republikanisch wählt, verliert an Gewicht. Ein zweiter Trend, den ich beobachte: Amerika wird weniger rassistisch.
Woran machen Sie das fest?
Ich stütze mich auf Umfragen. Wenn man zum Beispiel die emotionsgeladene Frage nach Mischehen stellt, erhält man erstaunliche Resultate: Anfang der Achtzigerjahre befürworteten nur 36 Prozent Mischehen. Heute sind es 77 Prozent. Oder nehmen Sie Heroes, der große Fernsehhit der vergangenen Saison. Darin kommt ein Ehepaar vor, eine weiße blonde Frau mit ihrem schwarzen Ehemann. Als ich das sah, war ich etwas irritiert. Nicht, weil ich etwas dagegen hätte, sondern weil ich mich noch an eine Zeit erinnern kann, in der die Leute angesichts einer Vermischung von Hautfarben hys-terisch wurden. Aber das Land hat sich verändert, ein wichtiger Pfeiler des konservativen politischen Erfolges knickt ein.
Sind die USA bereit für einen schwarzen Präsidenten?
Das weiß ich nicht, aber vor zwanzig Jahren wäre die Kandidatur Barack Obamas nicht einmal in Frage gekommen. Sollte er nominiert werden, mache ich mir allerdings Sorgen. Es ist zwar eine verschwindende Minderheit, die gewalttätig rassistisch ist, aber sie ist sehr gewalttätig. Hingegen glaube ich, dass wir bereit sind für eine Präsidentin – auch ein interessanter Wandel.
Hillary Clinton ist Ihre Favoritin?
Nein. Gemessen an den politischen Inhalten ist John Edwards der Mann, der die Debatte am ehesten in meine Richtung gedreht hat. Ich weiß, ausgerechnet ein weißer Mann aus den Südstaaten – das ist ziemlich absurd.
Sie warnen ebenso wie John Edwards vor einer wachsenden Ungleichheit im Land. Dabei haben die USA wirtschaftlich gesehen gute Jahre hinter sich.
Das Problem ist, dass die Löhne der meisten Arbeiter stagnierten. Wenn Familien heute über mehr Einkommen verfügen als Ende der Siebzigerjahre, liegt das vor allem daran, dass mehr Frauen arbeiten. Oder nehmen Sie die Krankenversicherung: Obwohl die Zahl der Jobs gestiegen ist, sind immer weniger versichert. Ich kenne einige Leute mit soliden Mittelklasseberufen, die keine Krankenversicherung haben. Grundsätzlich haben die meisten Arbeitnehmer also an Boden verloren, während die hohen Gewinne bei den obersten Einkommen anfielen.
An wen denken Sie da?
Vorstände großer Unternehmen zum Beispiel. Oder an die Finanzwirtschaft. Grob gesagt sind es Leute mit Löhnen über einer Million Dollar. Sie verzeichneten zwischen 2003 und 2005 eine reale Einkommenszunahme von 70 Prozent, wahrscheinlich war es nachher noch mehr. Die obere Mittelklasse hat auch etwas profitiert, aber nicht sehr viel.
Die Löhne gut ausgebildeter Arbeitskräfte explodieren, weil sie so gefragt sind; gleichzeitig sinken in den Industrienationen die Einkommen der weniger Qualifizierten durch die Konkurrenz aus Billiglohnländern. Ist dies nicht der normale Gang der Globalisierung?
Das glaube ich nicht. In England hat die Ungleichheit weniger stark zugenommen als in den USA, und in Westeuropa oder Japan fast überhaupt nicht. Und da wir alle mit der gleichen globalisierten Wirtschaft und den gleichen Technologien konfrontiert sind, hat diese zunehmende Ungleichheit etwas spezifisch Amerikanisches. Ich würde sogar sagen, etwas Politisches.
Sie glauben an eine Art rechte Verschwörung unter George Bush zugunsten der Reichen?
Das Timing stimmt zumindest. Nicht erst mit Bush, sondern seit den frühen Siebzigerjahren erleben wir den Aufstieg einer konservativen Bewegung, welche die Ungleichheit zum Programm hatte. Und seitdem entwickeln sich die Einkommen immer weiter auseinander. Einen Trend können wir genau ausmachen: die gezielte Schwächung der Gewerkschaften.
Können Sie etwas genauer werden?
Wir haben Gesetze, die Gewerkschafter vor Gegenmaßnahmen schützen sollen, wenn sie sich organisieren wollen. Diese Gesetze wurden einfach nicht mehr durchgesetzt. 1970 hatten die USA und Kanada ähnlich starke Gewerkschaften, heute sind sie bei uns im Privatsektor praktisch verschwunden. Das ist dramatisch, wenn man davon ausgeht, dass die Gewerkschaften die Ungleichheit einer Gesellschaft begrenzen. Am anderen Ende der Einkommensskala ging die Schere unter anderem auf, weil die Unternehmen keine Scheu mehr hatten, ihre Führungsebene sehr üppig zu bezahlen.
Wie wollen Sie die wachsende Ungleichheit in den USA überwinden?
Als Erstes müssen wir eine Krankenversicherung für alle einführen. In anderen Industrienationen ist das selbstverständlich, nur in unserer Gesellschaft ist Krankheit für viele weiterhin ein existenzielles Risiko. Das Gesundheitswesen ist außerdem so ineffizient, dass es eigentlich keine Gründe gegen eine Reparatur geben sollte.
Sie klingen wie ein europäischer Sozialdemokrat.
Der Wohlstand einer normalen Familie hält heute einfach nicht mehr mit dem allgemeinen Wirtschaftswachstum Schritt. Wir werden zu einer Gesellschaft, in der eine kleine Elite nicht mehr im gleichen materiellen Universum lebt wie der Rest der Bevölkerung. Und das ist sicher nichts Gutes.
Sie wollen eine Europäisierung des amerikanischen Systems?
Ja, aber ohne die Fehler. Ein guter Test ist: Stellen Sie sich vor, dass sie zwischen zwei Systemen wählen müssen, ohne dass Sie wissen, wer Sie sein werden. Welche Gesellschaft würden Sie unter diesen Voraussetzungen wählen? Sie würden sich sicher eher für Frankreich als für die USA entscheiden. Ihre Chance, richtig reich zu werden, ist zwar kleiner in Frankreich. Dafür ist auch das Risiko viel geringer, dass es Ihnen wirklich schlecht ergeht.
In der Regel loben die Ökonomen Amerikas Flexibilität und kritisieren Europas starre Arbeitsmärkte.
Es geht ja nicht darum, genau wie Frankreich zu werden. Flexible Arbeitsmärkte sind wichtig. Und wenn ich in Deutschland bin, klinge ich auch wie ein hässlicher Amerikaner. Wieso sind die Läden am Wochenende geschlossen? Aber diese Arroganz, dass das amerikanische System das Beste ist, basiert in erster Linie auf zehn guten Jahren, als unsere Produktivität ab 1995 stark stieg. Plötzlich sahen wir uns als die Nummer eins. Doch bereits heute deuten wichtige Indikatoren darauf hin, dass die USA wieder ins Hintertreffen gerät. Vielleicht hatten wir nur eine gute Dekade und nicht das bessere System.
Paul Krugman, 54, ist einer der renommiertesten Ökonomen der USA. In seinen jungen Jahren diente er US-Präsident Ronald Reagan als Berater, inzwischen schreibt er als Kolumnist der "New York Times" gegen die Wirtschaftspolitik der Republikaner an.