Natürlich kann die Geschichte mit Vera Zufall sein. So wie die von Frau Graf, vom Pediküre-Salon, von der Kita. Womöglich handelt es sich bei diesen Geschichten aber auch um einen Trend. Denn alle spielen sich nur wenige hundert Meter voneinander entfernt ab, alle handeln von Ostdeutschen, die Bühne aber liegt im Westen Berlins, an der Grenze zwischen Schöneberg und Wilmersdorf, wo einst das bürgerlich-linksliberale Milieu zu Hause war. Die Gegend erlangte kürzlich Berühmtheit, weil der Diakonieladen in der Rubensstraße ein Care-Paket bekommen hatte, von der Tawfiq-Klinik in Malindi. Erschrocken hatten die Kenianer von einem Pfarrer gehört, dass in Schöneberg bittere Armut herrsche, wegen Hartz IV. Daraufhin wurde im Krankenhaus gesammelt, drei Monate lang, für Tee und Kaffee, damit die armen Menschen in Berlin in der kalten Jahreszeit etwas Warmes bekommen aus Afrika.
In diesem Altbauviertel zwischen KaDeWe und Volkspark liegt Deutschland unter der Lupe. Kaum irgendwo sonst in der Republik arbeiten Ost und West enger zusammen, das heißt vielmehr: Der Ossi arbeitet und der Wessi guckt meist zu. Im Westberliner Alltag existieren zwei Gesellschaften. In der einen glaubt man daran, dass man etwas Neues im Leben anfangen kann. In der anderen glaubt man, dass Figuren wie die Minister Michael Glos und Franz Müntefering Arbeitslosigkeit bekämpfen können. Die Bruchlinien zwischen diesen Welten verlaufen nicht zwischen »links/rechts« oder »arm/reich«, eher zwischen »ernst/so tun, als ob«, zwischen »autonom/abhängig«, zwischen »Kämpfern/Beobachtern«, vor allem aber zwischen Ost und West. Vera ist weder autonom noch Kämpferin. Sie kam vor zwanzig Jahren aus dem Ruhrpott ins kuschelige Westberlin und glaubte an kontinuierlichen Zuwachs von Sorglosigkeit. Heute guckt sie vorwiegend traurig. Schuld ist eine Frau aus dem Osten. Vera heult viel, auch wenn es schon fast ein Jahr her ist, dass Peter sie verlassen hat, nach 23 Ehejahren. »Wegen einer Ostschlampe«, sagt Vera. Dabei hat Peters Neue nichts Ordinäres, erst recht nicht, seit sie die Haarfärbeexperimente beendet hat. Sie hat sich von ihrem DDR-Job als Sekretärin hochgerackert zur stellvertretenden Abteilungsleiterin. Sie hat ihr Englisch aufpoliert, zwei Fortbildungskurse im Jahr besucht und steht jeden Morgen früh auf, um Freiübungen auf dem Balkon ihres bescheidenen Apartments zu machen.
Sie ist so alt wie Vera, gut fünfzig, aber ansonsten völlig anders: beseelt von Aufstiegsfantasie wie die Westdeutschen nach dem Krieg, hungrig nach Wohlstand, Reisen und ein bisschen Eleganz. Die Neue ist eisern. Vera ist weich. Sie versteckt sich in zeltweiten Leinenkleidern und trägt große bunte Ketten, die sie »witzig« findet. Im Grunde ist sie getäuscht worden wie die DDR-Bürger nach der Wende: Die von Helmut Kohl und seinem Harlekin Norbert Blüm versprochene Sorglosigkeit war eine Lüge. Als Lehrerin mit Zwei-Drittel-Stelle (»Mehr schaffe ich nicht«) glaubte Vera ein gutes Leben und auskömmlichen Ruhestand sicher. Jetzt hat sie Angst.
In Veras Kiez ist es depressiv wie in Herne, Gießen oder bei AEG in Nürnberg, nur ist der Osten viel näher. Vieles von dem, was funktioniert, wird von Ostdeutschen betrieben: die Kasse im Supermarkt, Kita, Kiosk, Fitnessstudio, das private Putzgewerbe. Hier geschieht, was dem Rest Deutschlands noch bevorsteht: Fleißige, duldsame und nicht mal schlecht gelaunte Menschen aus den neuen Ländern, die ihr Leben nach der Wende umkrempeln mussten, ziehen einen Haufen träger, ängstlicher Wessis, die langsam begreifen, dass die Wende nach 15 Jahren nun bei ihnen ankommt.
Die Westler hielten es 1989 für selbstverständlich, dass die neuen Brüder und Schwestern auf Westniveau gehoben würden. Das Gegenteil stimmt. Der Osten setzt die Maßstäbe: mehr arbeiten für weniger Geld, machen statt quatschen, experimentelle Eigenverantwortung mit vollem Risiko. Wie Kanzlerin Merkel haben sie ihre Schutz- und Bewahrungsinstinkte für das neue Deutschland entdeckt – und den Mut, sie auszuleben. Wer sich von der DDR befreit hat, wird den Westen nicht kaputt gehen lassen. Also anpacken. Wer astet, der ostet.