SZ-Magazin: Warum fällt das Loslassen oft so schwer?
Irmtraud Tarr: Den Klammerreflex haben wir schon als Baby, wir greifen und halten instinktiv fest. Das bleibt als das Bedürfnis, an Dingen festzuhalten, in uns. Aber das Loslassen, die kleinen und großen Abschiede, müssen wir erst lernen. Loslassen heißt beenden, abbrechen, aufhören. Das hat eine negative Konnotation, es erinnert ans Abschiednehmen, ans Aufgeben oder Scheitern. Und das steht auch in Kontrast zu dem, was uns anerzogen wird: Beharrlichkeit, Ausdauer, Durchhaltevermögen.
Was sind klassische Situationen, in denen es sich lohnt, loszulassen?
Loslassen kann und muss man in allen Lebensbereichen. Es betrifft Alltagssituationen, Konflikte oder lästige Gewohnheiten genauso wie die großen Themen, etwa Trennungen, Schicksalsschläge, Fehlentscheidungen oder den Abschied von einem Lebenstraum. Ein häufiges Beispiel sind berufliche Ziele. Wenn ich mir ein solches Ziel gesteckt habe, kann es sein, dass ich mich in dieses Ziel verbeiße und nicht mehr objektiv sagen kann, ob es sich überhaupt lohnt. Oder ob es an einem gewissen Punkt vielleicht besser ist, mich von diesem Ziel zu lösen. Oft hat man auch schon so viel in das Erreichen dieses Ziels gesteckt, dass man gar nicht darüber nachdenkt, dass ein Loslassen des Zieles viel größeren Nutzen hätte, als es weiterzuverfolgen. Das ist auch schwierig, denn die Kosten des Loslassens sind konkret: Die bereits investierte Zeit und Energie, das Eingeständnis, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben, vielleicht auch das Gefühl des Scheiterns. Wohingegen die Nutzen des Loslassens noch nicht greifbar sind. Loslassen bedeutet auch Ungewissheit, das erfordert Mut.